Britische Finanzwirtschaft: Die Inseloase bleibt Wunschdenken
Auch wenn einige seiner feurigsten BefürworterInnen genau von dort stammen: Der Brexit wird dem mächtigen britischen Finanzsektor zusetzen. Manche träumen weiterhin davon, die globale Vorherrschaft mittels Deregulierung zu halten. Aber die Rechnung wird nicht aufgehen.

Hastig gehen die Leute durch die Gassen der City of London, ungeduldig stellen sie sich in die Schlangen der Imbissbuden, nervös tippen sie dabei auf ihren Handys herum. Der Finanzdistrikt der britischen Hauptstadt ist an diesem Mittag hektisch wie immer – aber wenn man die Banker, Versicherungsangestellten und Anwältinnen auf den Brexit anspricht, wird sofort eine tiefe Müdigkeit spürbar. Es wird geseufzt, Augen werden gerollt, Köpfe geschüttelt: Man hat die Schnauze voll. «Nobody here gives a fuck anymore», sagt Paul, ein grauhaariger Banker Mitte fünfzig, der rauchend vor der alten Börse sitzt und seinen Nachnamen nicht nennen will: «Darauf scheissen hier mittlerweile alle.»
Seine sarkastische Einschätzung dürfte übertrieben sein, immerhin stellt der Brexit für das britische Geldgewerbe und alle damit verbundenen Branchen die grösste Gefahr seit Jahrzehnten dar. Die City, wie nicht nur der Bezirk, sondern auch die gesamte britische Finanzbranche und ihre einflussreiche Lobby genannt werden, war eine der entschiedensten Befürworterinnen eines Verbleibs in der EU. Der Grund ist offensichtlich: Rund sechzig Milliarden Pfund an Finanz- und Rechtsdienstleistungen exportiert die britische Wirtschaft jedes Jahr über den Ärmelkanal. Dazu kommt die Personenfreizügigkeit, von der die City enorm profitiert: Fast ein Fünftel der Angestellten im Finanzdistrikt stammen aus der EU – vor etwa zehn Jahren waren es noch halb so viele.
Wie die City mit dem EU-Austritt klarkommt, wird einen Einfluss auf die britische Wirtschaft insgesamt haben: Finanzdienstleistungen kommen für rund sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf und steuern fast dreissig Milliarden Pfund zum Steueraufkommen bei.
Arroganz und Äquivalenz
Nach dem anfänglichen Schock der verlorenen Abstimmung im Juli 2016 rappelte sich die City schnell auf, bald trat sie wieder selbstbewusst auf, um nicht zu sagen: arrogant. London als globales Finanzzentrum, für den internationalen Handel mindestens so bedeutend wie New York, das wollte Europa doch sicherlich nicht aufs Spiel setzen. «Ihr braucht uns», lautete die Parole, die LobbyistInnen in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten stets wiederholten. Sie erwarteten, dass die City weiterhin unbeschränkten Zugang zum EU-Markt haben könne, auch wenn sich die Regeln in Grossbritannien änderten.
Doch spätestens im Frühling letzten Jahres wurde klar, dass sich die EU von Druckversuchen wenig beeindrucken lässt. «Wir haben unterschätzt, dass die EU die vier Freiheiten als absolut untrennbar erachtet», sagte damals der Chef der Lobbygruppe UK Finance gegenüber der US-Wirtschaftszeitung «Financial Times». Das heisst: Der freie Verkehr von Kapital und Dienstleistungen bleibt nur dann möglich, wenn auch Personen und Waren hindernisfrei die Grenzen passieren können. Eine Rosinenpickerei im Finanzsektor wird es nicht geben.
So änderte sich die Strategie der City-Lobby. «Äquivalenz» hiess fortan das neue Schlagwort, und es bedeutet, dass die britischen Regulierungen und Standards weiterhin jenen der EU entsprechen müssen. In diesem Szenario, so hat die EU signalisiert, erhält die City denselben Zugang zu den EU-Finanzmärkten wie heute. Das heisst aber auch, dass jegliche Anpassungen der EU-Bestimmungen von Grossbritannien übernommen werden müssen – ohne dass es zu deren Ausarbeitung etwas beitragen kann. Zudem kann die EU die Äquivalenzvereinbarung innerhalb von nur dreissig Tagen kündigen. Mit anderen Worten: London sässe am kürzeren Hebel und müsste wie ein artiger Schüler den Richtlinien Brüssels folgen.
Das entspricht nicht gerade dem Traum der Brexit-AnhängerInnen: hatten sie sich doch vom EU-Austritt gerade eine Befreiung versprochen, ein Sprengen der Ketten, von denen sie angeblich gelähmt werden. Premierminister Boris Johnson will laut eigenen Worten wie der «unglaubliche Hulk» sein – und der grüne Comicsuperheld würde sich kaum brav an die Vorgaben der BürokratInnen in Brüssel halten. Gerade deshalb kommt Johnson bei Brexit-AnhängerInnen so gut an: Er gibt den verwegenen Freiheitskämpfer, undiszipliniert bis hin zu seiner Frisur, der sich nicht um die Regeln schert.
Was das für die britische Wirtschaft bedeutet, insbesondere die City of London, hat die Regierung bereits durchblicken lassen. Als die EU-Kommission Anfang 2020 ankündigte, dass eine Partnerschaft auf einem «level playing field» gründen soll, also auf den gleichen Wettbewerbschancen, antwortete ein Regierungssprecher, erneut nicht ohne einen Anflug von Arroganz: «Der Premierminister hat ein klares Mandat, es steht im Wahlprogramm, das uns eine Mehrheit von achtzig Sitzen im Unterhaus bescherte, und es sagt schwarz auf weiss, dass es keine Angleichung geben wird.» Damit hat er das Modell umrissen, das zuweilen als «Singapur an der Themse» bezeichnet wird; es läuft darauf hinaus, London mittels Deregulierung einen Vorteil zu verschaffen. Manche in der City hatten diesen Traum bereits vor dem Austrittsreferendum – und sich deswegen an der Leave-Kampagne beteiligt.
Knotenpunkt im Spinnennetz
Der Grund für die Austrittsgelüste mancher Sektoren habe gerade darin bestanden, dass der Kampf für eine stärkere Regulierung in den Jahren vor dem Referendum einige Erfolge habe feiern können, sagt John Christensen, Direktor des Tax Justice Network. Seine internationale Organisation setzt sich dafür ein, dass das globale Finanzsystem auf eine solidere Basis gestellt wird, unter anderem, indem Steuerschlupflöcher gestopft werden.
Nach der Finanzkrise von 2008 dauerte es eine Weile, bis die EU-Regierungen bei den Massnahmen für Finanzstabilität und gegen Steuerhinterziehung in die Gänge kamen. Dann aber rangen sie sich zu konkreten Massnahmen durch: «In den Jahren nach 2012 forderten progressive Sozialdemokraten und andere Linke eine stärkere Regulierung, eine intensivere Zusammenarbeit bei Finanzdienstleistungen und ein härteres Durchgreifen bei grenzüberschreitendem Betrug und Steuerhinterziehung», sagt Christensen. Dazu gehören auch schärfere Regeln bei den Mindestkapitalanforderungen für Banken sowie die Einführung eines öffentlichen Registers der EigentümerInnen von Unternehmen. «All dies schuf in Europa eine bessere Transparenz und eine grössere Widerstandsfähigkeit im Fall einer erneuten Finanzkrise», so Christensen. «Aber der Widerstand der einflussreichen Steueroasenlobby war enorm.»
Christensen führt regelmässig Gespräche mit führenden Köpfen in der City of London und ist deshalb über die Debatten, die im Finanzsektor geführt werden, im Bild. «Es gibt sehr viele Leute, die sich Sorgen machen, insbesondere in den britischen Steueroasen.» Christensen spricht vom «Spinnennetz» der Schattenfinanzzentren, die von London aus kontrolliert werden: Besonders wichtig sind die Kanalinseln sowie karibische Zufluchtsorte wie die Cayman Islands oder die British Virgin Islands. In diese Offshorezentren fliessen riesige Geldströme, die dann nach London weitergeleitet werden, in den Knotenpunkt des Spinnennetzes. Geschätzte 25 Prozent des gesamten Offshorehandels werden von Grossbritannien und seinen Satelliten kontrolliert, das sind Hunderte Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Von diesem Arrangement profitiert die City, daraus schöpft sie einen guten Teil ihres Reichtums und ihres Einflusses. Manche Sektoren folgen einem Geschäftsmodell, das besonders stark von schwacher Regulierung und Steuervermeidung profitiert, etwa Hedgefonds oder Private-Equity-Firmen – und diesen Unternehmen machen die Massnahmen der EU zu schaffen. «Aber sie wissen, dass sie keine grossen Sympathien erwecken würden, wenn sie sagen, dass sie sich lieber eine laschere Regulierung wünschen», sagt Christensen. «Also wählten sie eine andere Route, um ihr Ziel zu erreichen: die Unterstützung der Brexit-Kampagne.»
Inkompetente Geldmänner
Nigel Farage, eines der Zugpferde der Brexit-Kampagne, arbeitete in den achtziger Jahren selbst als Broker in der City, und seine Organisation Leave.EU erhielt den Grossteil ihres Geldes von schwerreichen Financiers. Der Versicherungstycoon Arron Banks, die Investoren Jeremy Hosking und Peter Hargreaves, der Autohändler Robert Edmiston und der Hedgefondsmanager Crispin Odey: Allesamt sind sie Multimillionäre oder sogar Milliardäre, zusammen steuerten sie fast fünfzehn Millionen Pfund zur Kampagne bei.
Diese mächtigen Geldmänner sind heute in der glücklichen Position, eine Regierung zu haben, die ihre Ideologie teilt. Boris Johnson selbst hat sich damit gebrüstet, die Banker nach der Finanzkrise vehementer verteidigt zu haben als alle anderen, und er hat sein Kabinett mit etlichen Leuten bestückt, die den freien Markt zu ihrer Religion erhoben haben. Darunter finden sich MitverfasserInnen einer Publikation mit dem Titel «Britannia Unchained» von 2012 – bereits damals zeichneten sie das Bild eines unterjochten Grossbritanniens, dessen Ketten zu sprengen seien. Die AutorInnen identifizierten einen «aufgeblasenen Staat, hohe Steuern und exzessive Regulierung» als Übel für die britische Wirtschaft und empfahlen möglichst wenig staatliche Eingriffe als Weg zu einer blühenden Zukunft. Zu den VerfasserInnen zählen die heutige Innenministerin Priti Patel, Aussenminister Dominic Raab und Handelsministerin Liz Truss.
Finanzminister Sajid Javid hat zwar nicht am Buch mitgearbeitet, aber der ehemalige City-Banker macht keinen Hehl aus seiner Schwäche für tiefe Steuern, einen Abbau von Regulierung und ein resolutes Vorgehen gegen Streiks. Auch in seiner EU-Politik ist er hart. Mitte Januar sagte er in einem Zeitungsinterview, es werde keine Angleichung an die Regeln der EU geben, und Grossbritannien werde aus dem Binnenmarkt und der Zollunion austreten. Aber die Aussichten auf einen Aufschwung dank Deregulierung stehen schlecht.
Standards und Spielregeln
«Es ist durchaus möglich, dass Mitglieder der britischen Regierung derzeit mit einem Steueroasenmodell liebäugeln», sagt Anastasia Nesvetailova, Professorin für politische Ökonomie an der City University in London und Expertin für Finanzmärkte. Aber das wolle nicht viel heissen, denn «die derzeitige Regierung scheint aus den inkompetentesten Ministern seit langer Zeit zu bestehen», wie es die Akademikerin ausdrückt. «In der City hingegen arbeiten viele Leute, die klüger als die Regierungsvertreter sind – und sie wissen, dass es nicht funktionieren wird.»
Sicherlich gebe es Akteure, die einen deregulierten Finanzmarkt begrüssen würden, sagt Nesvetailova, etwa Vermögensverwalter oder Hedgefonds. Tatsächlich hat die Investment Association (IA), der Gewerbeverband von Investorinnen und Vermögensverwaltern, kürzlich eine Anpassung der Regeln gefordert, damit die City wettbewerbsfähig bleibe (die versprochene Antwort auf die Frage der WOZ, was das genau bedeute, ist die IA schuldig geblieben). Aber die City und die dort ansässigen Branchen seien sehr divers, sagt Nesvetailova, und den meisten fehle der Enthusiasmus für einen Deregulierungswettlauf nach unten. «Insgesamt schätzen Banken, Märkte und Firmen kein unreguliertes Umfeld», so die Ökonomin. «Sie brauchen Standards für ihre täglichen Geschäfte, sonst kommen sie nicht klar.» Die Spielregeln und Prozeduren werden heute indes nicht mehr von einzelnen Staaten festgelegt, sondern von den grossen Märkten, die die Weltwirtschaft prägen. «Derzeit gibt es drei: China, die EU und die USA», sagt Nesvetailova. «Wenn Grossbritannien aus der EU raus ist, wird es sich den Regeln anpassen müssen: Es wird die ganze Zeit hinterherhinken, die Standards übernehmen und sich ihnen anpassen – aber diese Standards werden von den einflussreichen Playern gesetzt.»
Dazu kommt, dass die City gerade deswegen so mächtig ist, weil sie bislang eine besondere Position eingenommen hat: als sehr grosser, spezialisierter und hoch entwickelter Markt, der sich innerhalb der EU befindet. «Wenn ein Unternehmen also einen Fuss in Europa haben wollte, dann liess man sich in London nieder», sagt Nesvetailova. Ausserhalb der EU hingegen ist der Nutzen der britischen Hauptstadt viel weniger offensichtlich. Auch das Netz an Steueroasen, das so viel Kapital in die City schafft, profitierte von der EU-Mitgliedschaft, denn so konnte Grossbritannien innerhalb Europas Druck ausüben. Als beispielsweise Ende 2017 via die «Paradise Papers» Dokumente über Steuerhinterziehung in gigantischem Ausmass offengelegt wurden, versuchte die britische Regierung sofort, die EU-Sanktionen gegen Steueroasen auf ein Minimum zu beschränken.
«Jetzt, wo Grossbritannien nicht mehr zur EU gehört, ist das Land jeglichen Massnahmen, die die Europäer oder die Amerikaner gegen Schattenfinanzzentren treffen wollen, völlig hilflos ausgeliefert», so Nesvetailova, «niemand wird sie schützen.» Anstatt weiterhin als Herrscherin über die globale Finanzwelt aufzutreten, wie es sich viele Brexit-AnhängerInnen erhofft haben, wird sich die City of London darauf gefasst machen müssen, dass mit dem Brexit genau das verunmöglicht werden könnte.
Die Schweiz ist nicht Vorbild
Auf den ersten Blick gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Schweiz und Brexit-Grossbritannien: zwei wirtschaftlich starke Länder mit grossem Finanzsektor, die sich ausserhalb ihres wichtigsten Marktes befinden, der EU. Aber Grossbritannien will das «Modell Schweiz» nicht imitieren: Dass im Tausch für unbeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt Regeln aus Brüssel übernommen werden, kommt für Boris Johnson nicht infrage, ohne an deren Ausarbeitung beteiligt zu sein. Trotz zuversichtlicher Rhetorik ist unklar, wie die britische Regierung dieses Problem lösen will.