Brexit auf der Insel: Souveränität ohne Einfluss

Nr. 50 –

Ob bei der Migration oder im Freihandel: Die neue Eigenmächtigkeit, die sich die AnhängerInnen des Brexit erhoffen, dürfte sich als Illusion erweisen.

Illustration: Marcel Bamert

Kurz nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 schrieb der Publizist John Lanchester, dass die gesamte Geschichte des EU-Austritts von einem «typisch britischen Mangel an Seriosität» gekennzeichnet sei: vom politischen Opportunismus Boris Johnsons, der damals selbst nicht an den Brexit glaubte, bis zu den dreisten Unwahrheiten, die während der Kampagne verbreitet wurden. «Wie so oft im politischen Leben dieses Landes waren Tragödie und Farce schwierig voneinander zu unterscheiden», so Lanchester.

In diesen Tagen, wo die «Leave»-AnhängerInnen auf der Zielgeraden angekommen sind, erinnert man sich zuweilen an Lanchesters Einschätzung. In wenigen Wochen wird sich das Verhältnis zu den europäischen Partnern von Grund auf ändern, aber anstatt sich ernsthaft mit den Herausforderungen dieser Zäsur zu beschäftigen, verfallen die führenden Köpfe in London in nationalistische Aufschneiderei.

Zum Beispiel Gesundheitsminister Matt Hancock, der behauptet, die schnelle Zulassung der Coronaimpfung durch die britischen Behörden verdanke sich dem EU-Austritt – obwohl er wissen muss, dass das eine rein gar nichts mit dem anderen zu tun hat. Oder Bildungsminister Gavin Williamson: Dieser wähnt sich offenbar auf einem Pausenplatz und prahlte damit, dass Grossbritannien «ganz einfach ein viel besseres Land» sei als etwa Frankreich oder Belgien. Unterdessen hat die Regierung inmitten der tiefsten Rezession seit Jahrzehnten 120 Millionen Pfund für das «Brexit-Festival» veranschlagt, um im Jahr 2022 den «Nationalstolz zu fördern» und auf diese Weise die Spaltung des Landes zu überwinden. So einfach geht das.

Punktesystem für den Finanzplatz

Die Brexit-FürsprecherInnen klammern sich an die Hoffnung, dass in einigen Wochen alles besser wird. An einer Veranstaltung des EU-kritischen Thinktanks The Bruges Group Ende November wurden wiederholt Chancen beschworen, die sich aus der Unabhängigkeit Grossbritanniens ergeben würden: Man werde neue Exportmärkte in Übersee eröffnen, und der Finanzsektor könne kostspielige Regulierungen über Bord werfen. So sagte dort Tim Congdon, Ökonom rechtspopulistischer Prägung, man brauche sich der EU gegenüber zu nichts verpflichtet zu fühlen: «Kanada und Australien waren mal unsere Kolonien, Herrgott noch mal! Müssen wir uns irgendetwas von der EU vorschreiben lassen?», echauffierte er sich.

Auf die Frage, ob es denn nicht auch Grund zur Sorge gebe – zum Beispiel weisen regierungseigene Studien auf die Gefahr hin, dass die zusätzliche Bürokratie lange Warteschlangen an der Grenze verursachen könnte –, meinte Congdon: Alles halb so schlimm. «Die Tatsache, dass es einige Verzögerungen für Lastwagen geben könnte, ist für mich kein fundamentales Problem.» Die neu gewonnene «Souveränität des Vereinigten Königreichs» sei im Vergleich viel bedeutender.

Aber was für eine Souveränität ist das denn? Für die Brexit-AnhängerInnen, darunter auch die Regierung von Premierminister Johnson, besteht der Kern der Selbstbestimmung darin, jegliche Bindungen zu den europäischen Ländern zu kappen. Oder wie es Johnsons Vorgängerin, Theresa May, formuliert hatte: die Kontrolle über «unsere Gesetze, unsere Grenzen und unser Geld» zurückzuerlangen. Der bevorstehende Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion ist die logische Konsequenz dieser Haltung: Eine Nation, die allein dasteht, muss sich von niemandem Vorschriften machen lassen.

Die Frage ist allerdings, was Brexitannien mit dieser neu gewonnenen Eigenständigkeit anstellen wird, etwa im Bereich der Migration. Die Beschränkung der Einwanderung war eines der wichtigsten Versprechen der «Leave»-Kampagne, und entsprechend hat die Regierung Johnson eine Verstärkung der Grenzen in Aussicht gestellt. Am 1. Januar geht die Personenfreizügigkeit mit der EU zu Ende, an ihre Stelle tritt ein Punktesystem, das das Bleiberecht nach den Anforderungen der Wirtschaft erteilt. Im Prinzip läuft es darauf hinaus, Fachkräfte ins Land zu lassen, die Zahl der «ungelernten» ArbeiterInnen hingegen zu beschränken.

Das wird erstens zur Folge haben, dass in vielen Niedriglohnsektoren Probleme zu erwarten sind – Pflegerinnen, Bauarbeiter oder Lebensmittelverarbeiter verdienen weit weniger als die für ein Visum erforderliche Lohnhöhe. Zweitens hilft dieses System vor allem Sektoren und Regionen, in denen die Einkommen jetzt schon hoch sind – also primär London und seinem Finanzplatz. Das verträgt sich schwer mit dem erklärten Ziel der Regierung, das ökonomische Gefälle innerhalb des Landes zu verkleinern.

Auf die Zahl der MigrantInnen dürfte das neue System hingegen nur geringfügige Auswirkungen haben, wie Jonathan Portes vom King’s College in London in einer Analyse festhält. Es werden weniger Menschen aus Europa kommen, dafür mehr aus Übersee. Grossbritannien dürfte also viel Zeit und Geld für eine Bürokratie verwenden, die zahlreiche Probleme verursacht – und die zudem der Stimmung im Land zuwiderläuft: Einwanderung wird seit vielen Jahren, spätestens seit dem Brexit-Votum, von einem wachsenden Teil der britischen Bevölkerung als positiv bewertet.

Sehnsucht einer Handelsmacht

Die Aussicht auf einen Aufschwung dank eines neuen Handelsregimes ist genauso trüb. Während der Austausch von Waren und Dienstleistungen mit der EU erschwert wird, blickt die britische Regierung sehnsüchtig über die Weltmeere. Sie hofft auf ein baldiges Freihandelsabkommen mit den USA, um die Einbussen im europäischen Markt wettzumachen. Aber wie man es dreht und wendet, die Rechnung wird nicht aufgehen: «Ein Handelsvertrag mit den USA würde zwar Grossbritannien einen Nutzen bringen, aber dieser ist viel geringer als der Verlust, der durch den EU-Austritt verursacht wird», schreibt das UK Trade Policy Observatory von der Universität Sussex. Auch die geplanten Abkommen mit anderen Ländern werden nicht ausreichen, um die Folgen des Ausscheidens aus dem EU-Binnenmarkt aufzuwiegen.

Unterdessen brummen in der Grafschaft Kent die Bagger. An der Mündung des Eurotunnels wird ein riesiger Lkw-Parkplatz gebaut, um Verzögerungen beim Handel über den Ärmelkanal zu bewältigen. Trotzdem werden grössere Staus erwartet: Zollerklärungen für Exporte in die EU werden auf jeden Fall nötig sein, was Warteschlangen unvermeidlich macht. Bereits hat die Regierung Notfallpläne für die Lieferung des Coronaimpfstoffs ausgearbeitet. Damit die Arznei nicht auf dem verstopften See- und Landweg stecken bleibt, soll sie wenn nötig per Militärflugzeug aus Belgien ins Land geflogen werden.

Die Gewerkschaft Unite, die auch LastwagenfahrerInnen vertritt, hat gewarnt, dass auf der Autobahn dringend zusätzliche Toiletten bereitgestellt werden müssen, um eine «ekelhafte» Situation zu vermeiden. Böse Zungen haben Kent einen neuen Spitznamen gegeben: Die Grafschaft sei nicht mehr der Garten, sondern die «Toilette Englands». Sieht so der Traum britischer Unabhängigkeit aus?

Im Kern würden die Brexit-AnhängerInnen eine Vorstellung von Selbstbestimmung vertreten, die eher jener Nordkoreas gleiche als der einer modernen Handelsnation, schreibt der ehemalige britische Diplomat Nicholas Westcott. Denn wer grenzüberschreitenden Handel betreibt, braucht nicht nur Einfluss auf die Regulierungen und Standards innerhalb des Landes, sondern auch in den Märkten, in die man exportiert: «Echte Souveränität besteht darin, einen Sitz am Tisch zu haben, eine Stimme in der Debatte», schreibt Westcott. Deshalb wird Grossbritannien mit dem EU-Austritt nicht die «Kontrolle zurückerobern», wie Boris Johnson und seine MitstreiterInnen behaupten. Im Gegenteil: Auf dem Papier mag Grossbritannien souveräner sein als zuvor, aber in Wirklichkeit wird das Land sich mächtigeren Akteuren in der internationalen Politik fügen müssen.

Schottland sagt Goodbye

Schliesslich fragt sich, worüber genau Souveränität ausgeübt werden soll. Das Brexit-Votum hat die Risse im staatlichen Gefüge vertieft; noch nie schien das Vereinigte Königreich so brüchig wie heute. Zwischen Nordirland und Grossbritannien werden neue Zollkontrollen eingeführt, was die Region automatisch stärker an die Republik Irland binden wird.

Auf der anderen Seite der Irischen See wächst derweil die Unabhängigkeitsbewegung. Im EU-freundlichen Schottland haben die BefürworterInnen einer Abspaltung von England seit Monaten enormen Auftrieb, in mehreren Umfragen liegt die «Yes»-Seite – für die Unabhängigkeit – mittlerweile in Führung. Gewinnt die Scottish National Party im kommenden Mai wie erwartet die Regionalwahlen, wird Boris Johnson dem Druck, ein zweites Referendum zuzulassen, kaum widerstehen können. Und dann stehen die Chancen gut, dass sich Schottland von England verabschiedet.