Brexit: Vorfreude auf die Warteschlangen

Nr. 20 –

Denn sie wissen, was sie tun: Vor den Neuwahlen hält sich die konservative Regierung mit Aussagen zurück, wie Britannien nach dem Austritt aus der EU wirtschaftspolitisch neu positioniert werden soll.

Boris Johnson war so richtig in Fahrt. Die Europäische Union (EU) wolle sein Land wohl «ausbluten» lassen, polterte der britische Aussenminister, als er am Wochenende auf die ausstehenden Zahlungen ans EU-Budget angesprochen wurde. Johnson warnte, dass seine UnterhändlerInnen die bevorstehenden Brexit-Gespräche platzen lassen würden, wenn Brüssel auf den Zahlungen bestünde. Und überhaupt sei es logischer, dass die EU Britannien etwas zahle und nicht umgekehrt.

Auf der Insel herrscht Wahlkampf, am 8. Juni wird das Unterhaus neu bestellt. Anlass genug für den Aussenminister, rhetorisch schon einmal aufzurüsten, zumal ja auch der Austritt des Landes aus der EU ansteht. Ob solche Ausbrüche bei den BritInnen Eindruck machen, ist allerdings fraglich. Wer Westminster verlässt und sich in den Strassen über den Brexit unterhält, trifft auf viel Unsicherheit.

Fröhliches Schulterzucken

Zum Beispiel im Londoner Stadtteil Kilburn. An einem kühlen Morgen sitzen dort drei alte Frauen in einem Café und warten, bis sie ihre Kleider im Waschsalon abholen können. Alle drei haben für den Ausstieg aus der EU gestimmt, aus verschiedenen Gründen: Wohnungsnot in London, ein überlasteter staatlicher Gesundheitsdienst und EinwanderInnen, die es angeblich auf die Sozialleistungen abgesehen haben. Auf Nachfrage, wie der Brexit bei diesen Problemen Abhilfe schaffen soll, zuckt die eine mit den Schultern. «Weiss ich auch nicht. Es ändert sich sowieso nichts.»

Der Kellner, der aus Albanien stammt, in Italien aufgewachsen ist und seit einigen Jahren im Land wohnt, ist einer der Immigranten, von denen es laut seinen Kundinnen zu viele gibt. Er scherzt jedoch fröhlich mit den drei Ladys und erklärt mit schwerem Akzent, weshalb auch er für den EU-Ausstieg gestimmt hat: Zu viele EinwanderInnen würden sich auf den Sozialstaat verlassen – eine Behauptung ohne Grundlage, denn der Anteil der EU-MigrantInnen, die Sozialleistungen beziehen, liegt weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Auch der Kellner bezweifelt jedoch, dass die Regierung irgendetwas dagegen unternehmen wird.

John Longworth hingegen ist sich sicher, es werde alles besser. «Ich bin entzückt», sagt er und rückt seine Hornbrille zurecht, als er sich in ein Café neben dem Parlamentsgebäude setzt. Der Geschäftsmann war bis Anfang 2016 Direktor der Britischen Handelskammer, entschied sich aber dann, seinen Posten aufzugeben, um sich ohne Einschränkung für den EU-Ausstieg engagieren zu können. Heute ist er Kovorsitzender der Kampagne «Leave Means Leave», die sich für einen «harten Brexit» einsetzt, also für einen klaren Bruch mit der EU.

Mehr denn je ist Longworth überzeugt, dass die BritInnen am 23. Juni 2016 den richtigen Entscheid getroffen haben: Nur ausserhalb der EU könne das Land zur Prosperität zurückfinden. Die Warnungen, dass ein Ausstieg aus dem gemeinsamen Markt verheerende Folgen für die britische Wirtschaft habe, hält er für dummes Zeug. «Der Zugang zum Binnenmarkt ist eine Obsession der Medien», sagt er. «Es ist ein Mythos. Man muss kein Mitglied des Binnenmarkts sein, um Handel zu treiben.» Der Weg zum Aufschwung führe über tiefere Steuern und einen Abbau der Regulierung – dadurch könnten allfällige Zölle mehr als wettgemacht werden. Die von der EU vorgeschriebene Arbeitszeitbeschränkung bezeichnet er als «Wahnsinn». Zudem müsse sich Britannien globaler orientieren, also den Handel mit Ländern wie den USA oder China fördern, anstatt sich mit Europa zufriedenzugeben: «Wir haben vergessen, dass wir Teil einer globalen Gemeinschaft sind – und dahin müssen wir zurückfinden.»

Premierministerin Theresa May ist sich mit Ideologen wie Longworth einig: Sie peilt die scharfe Variante des Brexit an, das heisst einen Ausstieg aus dem Binnenmarkt und der Zollunion und eine Beschränkung der Einwanderung auf weniger als 100 000 Menschen pro Jahr (derzeit liegt sie bei rund 270 000). Scharf sind auch die Worte, derer sie sich in den letzten Wochen bedient hat: Wie ihr Aussenminister spricht sie von Drohungen seitens der EU, führende PolitikerInnen aus Kontinentaleuropa würden sich in die Parlamentswahl einmischen. Sie warnt vor den «Bürokraten von Brüssel», die Britannien zu «überfahren» drohten. Das sind passende Wahlkampfparolen, aber ihnen geht jede Substanz ab.

Hurra, Bürokratie!

Das grundlegende Problem besteht darin, dass ein harter Brexit kaum zu einem wirtschaftlichen Erfolg gemacht werden kann – entgegen den Beteuerungen von MarktanhängerInnen wie Longworth. Der Austritt aus dem Binnenmarkt etwa wird massenhaft neue bürokratische Hürden schaffen: Firmen in der EU werden etwa wieder überprüfen müssen, ob importierte britische Produkte den EU-Normen entsprechen. Und wenn an den Grenzen wieder Kontrollen eingeführt würden, so warnt der Vorsitzende des Speditionsverbands British Chamber of Shipping, bedeute das jede Menge neuen Papierkram. Dazu kämen lange Warteschlangen von Lastwagen vor den Häfen und teure Verzögerungen bei Lieferungen.

Auch führt eine Senkung der Einwanderung zwingend zu Wirtschaftseinbussen. In einer Studie vom Dezember 2016 kommen die Ökonomen Jonathan Portes und Giuseppe Forte zum Schluss, dass eine erhebliche Reduktion der Immigration das britische Bruttoinlandsprodukt bis 2020 um bis zu 1,2 Prozent schrumpfen liesse. «Und der wirtschaftliche Schaden kann schon eintreten, bevor irgendwelche konkreten Massnahmen getroffen worden sind, und zwar weil Britannien für EU-Bürger weniger attraktiv ist», sagt Portes gegenüber der WOZ.

Das ist bereits der Fall: Laut Erhebungen des Berufsverbands Recruitment and Employment Confederation hat sich der Zuwachs an Neueinstellungen in den letzten Monaten stark verlangsamt. Das schwache Pfund und die Unklarheit bezüglich der künftigen Einwanderungsbestimmungen würden EU-BürgerInnen davon abschrecken, in Britannien nach Jobs zu suchen.

Der Plan des Schatzkanzlers

Angesichts dieser ökonomischen Abkühlung werden die Rezepte von Brexit-AnhängerInnen wie John Longworth für die Regierung interessanter: Um Britannien weiterhin für ausländisches Kapital attraktiv zu machen, sollen die Steuern für Unternehmen gesenkt und die Rechte der ArbeiterInnen aufgeweicht werden. Eine vom Dachverband der britischen Gewerkschaften (TUC) in Auftrag gegebene Studie warnt genau vor diesem Szenario: Sollte Britannien aus dem Binnenmarkt ausscheiden und sollten die Handelsbeziehungen auf die Regeln der Welthandelsorganisation zurückfallen, werde es mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem «Wettlauf nach unten» kommen.

Zwar versucht Theresa May, sich zu Wahlkampfzwecken eine neue Identität als Freundin der «working class» zu geben – sie sprach am Montag davon, dass die Konservativen nach dem Brexit die ArbeitnehmerInnenrechte stärken würden –, aber selbst wenn sie es damit ernst meinen sollte, würden dies die wirtschaftlichen Folgen eines harten Brexit kaum zulassen. Im Januar liess der Schatzkanzler Philip Hammond bereits durchblicken, wie der «Plan B» aussieht: Falls die EU-UnterhändlerInnen Britannien keinen ausreichenden Zugang zum europäischen Markt bieten, wird das Wirtschaftsmodell so angepasst, dass das Land seine Wettbewerbsfähigkeit zurückerlangt. Konkret hiesse das wohl für die Beschäftigten: mehr arbeiten und weniger verdienen.

Die Autoren der TUC-Studie halten jedoch ein Szenario für realistischer, bei dem sich Britannien nicht vollends von Europa abkapselt und es auf dem Arbeitsmarkt zu einer Polarisierung kommt: In Branchen, in denen geringe Qualifikationen nötig sind, senkt die Regierung die Arbeitsstandards, während sie bei hochqualifizierten Jobs aufrechterhalten werden, um Fachkräfte anzulocken.

Eine solche Politik könnte aber rasch an Grenzen stossen – und es ist gut möglich, dass der Widerstand gerade von den Brexit-WählerInnen kommt. Denn wie der Politikwissenschaftler Ronen Palan in einer neuen Studie der City University schreibt, verdankt sich das Brexit-Votum einer instabilen Koalition, deren zwei Flügel entgegengesetzte Ansichten vertreten. Auf der einen Seite stehen Erzliberale wie Longworth, die gegen jegliche Regulierung wettern, auf der anderen eine weit grössere Gruppe, für die das Leave-Votum ein Protest gegen die Prekarisierung und Unsicherheit war. Diese begehrte auf gegen steigende Ungleichheit, die Macht der Finanzwirtschaft – im Irrglauben, dass die Einwanderung und die EU schuld daran seien. Langfristig, so Palan, müsse diese Koalition auseinanderbrechen.