Coronavirus: Alltag in einem stillgelegten Land

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Leere U-Bahnen und piepsende Temperaturscans, geschäftige E-Scooter und Wut auf inkompetente Politiker: Wie die ChinesInnen mit der Gesundheitsbedrohung leben, zeigt ein Streifzug durch die Hauptstadt.

Ein kurzer Piepton ist zum neuen Sound der Hauptstadt geworden, ein akustisches Signal für die Gesundheitsbedrohung namens Coronavirus. Vor den leeren Shoppingmalls stehen die Wachmänner in schwarzen Anzügen und mit Gesichtsmasken und durchsichtigen Schutzbrillen bereit. In ihrer rechten Hand führen sie einen Temperaturscanner, mit dem sie jedem Ankömmling auf die Stirn zielen: Nach einem «Piep» zeigt das grüne Display in Hundertstelsekunden die Körpertemperatur an. Auch vor den U-Bahnhöfen der Stadt müssen sich die PekingerInnen scannen lassen, selbst am Eingang zu den Wohnsiedlungen.

Anflug von Normalität

Seit Wochen breitet sich der Coronavirus in China mit zunehmender Geschwindigkeit aus. Wenn die Gesundheitskommission über Nacht die neusten Statistiken publiziert, steigt die Anzahl der Infizierten um mehrere Tausende und die der Geheilten um mehrere Hundert. Dass die Zahl der Todesopfer sich zumindest in den nächsten Tagen noch deutlich erhöhen wird, dafür sprechen die über 100 000 PatientInnen in der Kategorie «Verdachtsfälle».

Wer durch die gespenstisch leeren Strassen der Hauptstadt streift, sieht die tiefgreifenden Veränderungen mit dem blossen Auge: Die Verbotene Stadt ist geschlossen, ebenso sämtliche Tempel und Palastanlagen. Die wenigen Restaurants, die noch geöffnet sind, haben vor ihren Türen provisorische Marktstände aufgebaut. Wegen der ausbleibenden Kundschaft verscherbeln sie dort ihre allmählich ablaufenden Vorräte aus der Gemüsekammer.

Die BewohnerInnen Pekings sind angehalten, nur für notwendige Erledigungen ihre Häuser zu verlassen. Doch auch das übernehmen meist Lieferkuriere auf E-Scootern, deren geschäftiges Treiben den einzigen Anflug von Normalität vorgaukelt. Die E-Commerce-Unternehmen haben ein «Kein Körperkontakt»-System etabliert, um die Gefahr der Übertragung zu minimieren: Anstatt die Produkte persönlich an ihre KundInnen zu übergeben, stellen die LieferantInnen sie auf provisorische Tische, wo sie abgeholt werden können.

Montag, 9 Uhr morgens: Um diese Zeit wäre die U-Bahn-Linie 1 im Stadtzentrum berstend voll, nun jedoch sind im gesamten Zug weniger als ein Dutzend Passagiere. Auffällig viele tragen neben den Gesichtsmasken Handschuhe und auch Sonnenbrillen, um ihre Augen vor dem Erreger zu schützen. Auf den TV-Displays an den Zugwänden erklärt ein Nachrichtensprecher, wie man Atemschutzmasken fachgerecht anzieht: «Ebenfalls wichtig ist die Hygiene: Es ist gar nicht so leicht, sich wirklich gründlich die Hände zu waschen …»

Realitätsferne Kader

In Wuhan, dem Epizentrum des Coronavirus, steht das öffentliche Leben fast vollständig still. Dort haben die Behörden den elf Millionen EinwohnerInnen sogar Autofahrten verboten. Doch bei den meisten löst die Ausnahmesituation keine Panik aus, sondern Langeweile. Unter dem Hashtag «Heimtagebuch» laden sie Videoclips hoch, wie sie den monotonen Alltag unter Quarantäne in den eigenen vier Wänden verbringen – von Tanzeinlagen bis hin zu Tischtennismatches in der Stube. Doch in den sozialen Medien lässt sich ebenso eine andere, düstere Wirklichkeit beobachten. In unverblümter, teils gehässiger Sprache wettern UserInnen gegen inkompetente Parteikader. Als der Bürgermeister von Wuhan auf einer öffentlichen Veranstaltung seine Gesichtsmaske falsch herum trägt, wird dies als Beweis für seine Realitätsferne herangezogen.

Noch mehr Spott muss sich sein Vorgesetzter gefallen lassen: Auf einer Pressekonferenz gerät der Lokalgouverneur der Provinz Hubei bei einer für die Viruskontaminierung essenziellen Frage ins Straucheln. Wie viele Atemschutzmasken man produziere, will ein Journalist wissen. Von 10,8 Milliarden Stück pro Jahr spricht Wang Xiaodong zunächst, bis ihm ein Papierausdruck zur Korrektur vorgelegt wird. «Tatsächlich sind es 1,8 Milliarden», setzt er zum zweiten Versuch an – nur um wenige Minuten später zugeben zu müssen, dass die richtige Zahl bei lediglich 1,8 Millionen liegt. «Kein Wunder, dass die Erreger sich so stark ausbreiten konnten», wettert ein Nutzer auf Weibo, dem chinesischen Twitter.