Aktivismus in Israel: Die Blase platzen lassen
In Israel wird das dritte Mal innert eines Jahres gewählt – und während sich die Konservativen im Patt gegenüberstehen, ist die Linke machtlos. Unterwegs mit zweien, die dem Stillstand im Land trotzen.
Er hat etwas Postapokalyptisches, dieser Tag Mitte Dezember in der Knesset in Jerusalem. Die Flure sind verwaist. Das Parlament aus 120 Abgeordneten hat sich gerade aufgelöst, weil auch nach der zweiten Wahl im September keine Regierung gebildet werden konnte.
Der Debattensaal ist leer. Doch hinter dem Rednerpult sitzen zwei junge Frauen. «Heute ist ein normaler Arbeitstag für uns alle», spricht die eine ins Mikrofon. Die zweite bemüht sich, nicht zu lachen, und stimmt leise ein Volkslied an: «Wir kamen, um das Dunkel zu vertreiben. Jeder ist ein kleines Licht.» Schnitt. In der nächsten Szene tanzen die beiden Frauen auf den Bänken, ein Abgeordneter findet sich doch noch und albert mit. Dann erscheint ein Sicherheitsbeamter. Schnitt.
Zu sehen ist das Ganze in der neusten Folge der Webserie «120 und 2», einer Art Guerillaprojekt, mit dem Rona Cohen (31) und Naama Noach (33) seit drei Jahren die Knesset aufmischen. Ein Freund filmt sie dabei, wie sie PolitikerInnen aus der Fassung bringen. Mit Fragen, auf die sie in der Zeitung keine Antwort finden.
Cohen und Noach gehören einer Generation an, die sich kaum noch die Miete leisten kann, geschweige denn wie die Eltern ein eigenes Haus. Einer Generation, die mit der Hoffnung des Friedens von Oslo aufgewachsen ist und als Teenager erlebte, wie diese erst in Verzweiflung umschlug – und dann in Apathie.
In der nächsten Szene treten die beiden ins Büro von Ahmad Tibi, der bei der Parlamentswahl am 2. März mit der Vereinten Arabischen Liste antritt. Was er davon halte, dass sein Gehalt nun sogar erhöht werden solle, wollen die Frauen wissen. Obwohl doch seit Monaten keiner arbeite. Er kümmere sich um die Belange der arabischen Israelis, verteidigt sich Tibi – und das nicht nur in der Knesset.
Asaf Zamir vom Zentrumsbündnis Blau-Weiss gesellt sich mit seiner Lunchbox dazu, erfreut über die Abwechslung. Bis Cohen fragt: «Wie ist es, Abgeordneter ohne Parlament zu sein?» Zamir rekapituliert etwas angestrengt die letzten Tage. «Warum tut ihr nicht einfach, wozu ihr Lust habt?», fragt Cohen. «Einer bricht hier doch ständig die Regeln.»
Sie muss den Namen nicht aussprechen. Korruption und Betrug. Zensur und Gesetzesänderungen. Statt um den Staat kümmert sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nur noch um den eigenen Machterhalt. Und so schafft es «König Bibi» immer wieder, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Ein Licht anzünden
Ein paar Wochen später sitzt Rona Cohen vor dem Habima-Theater in Tel Aviv und lässt sich die Wintersonne auf die Locken scheinen. Soeben wurde Netanjahu offiziell angeklagt – der Prozess wird jedoch wohl erst nach der Wahl beginnen. Gerade kommt er von einer USA-Reise zurück, wo Donald Trump ihm den «Deal des Jahrhunderts» präsentierte: einen Friedensplan, der den PalästinenserInnen einen eigenen Staat verspricht, in den Augen der Linken jedoch hauptsächlich den Status quo sichert. Nicht nur sollen grosse Teile des Westjordanlands annektiert und damit die israelischen Siedlungen legitimiert werden. Jerusalem würde endgültig zur Hauptstadt des jüdischen Staates – und 300 000 arabische Israelis sollen, ob sie wollen oder nicht, ins PalästinenserInnengebiet ausgebürgert werden.
«Alles nur Gerede für die Zeitungen», sagt Cohen. Und denen glaube sie sowieso nicht. Sie wird ihre Stimme wieder der Arabischen Liste geben, die dieses Mal mit fünfzehn Sitzen rechnet. Falls sich Netanjahus Likud und Blau-Weiss doch noch zusammenraufen, stünde mit Ayman Odeh das erste Mal ein arabischer Israeli der Opposition vor. Damit bekäme er Einsicht in Militär und Geheimdienst – und die Minderheit endlich eine Plattform. «Odeh ist ein guter Mann», findet Cohen, «bescheiden und klug.» Aber in erster Linie gehe es ihr darum, die arabischen BürgerInnen anzuerkennen.
Auch zu ihrer Wahlentscheidung hat sie ein Video veröffentlicht. Ein Licht wolle sie damit anzünden: «Das kann ich überall, hier auf dem Habima-Platz, im Restaurant, in dem ich arbeite – nicht nur in der Knesset.»
Eins hat sie verstanden, seitdem sie vor drei Jahren das Parlament zum ersten Mal von innen sah. «Das ist ein tolles System. Es glaubt nur niemand mehr daran.» Sie erzählt von der ersten Begeisterung, als sie meinte, im antiken Athen zu stehen. Von Treffen, in denen sie wie ein vorlautes Kind behandelt wurde, und von guten Gesprächen – auch mit rechten PolitikerInnen. Wie Jehuda Glick, dem Rabbi vom Likud, der bereit war zuzuhören und dem sie selbst gern zuhörte. «Die sind alle überzeugt, sich um das Gemeinwohl zu kümmern», sagt Cohen. «Das beruhigt mich nun doch etwas.»
Zu Hause bei ihren Eltern bedeutete Politik immer nur Streit. «Ich wollte meiner Mutter glauben, aber mein Vater hat die Zeitungen gelesen.» Irgendwann war das Thema im Haus tabu. Das beschreibe die Situation ganz gut, findet Cohen: «Jeder bleibt in seiner Blase.»
Der Moment, als ihr klar wurde, dass jedeR diese Blase zum Platzen bringen kann, war der Sommer 2011. Auf der ganzen Welt protestierten damals Menschen im Rahmen der Occupy-Bewegung gegen soziale Ungerechtigkeit. In Israel aber waren es Hunderttausende. Die Demonstrationen begannen am Habima-Platz: als die 25-jährige Daphne Leef aus Protest gegen die irren Mietpreise das erste Zelt aufstellte.
Die Kundgebungen schwappten nicht nur von Tel Aviv ins Umland, von den Jungen zu den Alten, von Jüdinnen zu Arabern, sie vernetzten auch AktivistInnen, die zuvor isoliert gekämpft hatten: Gewerkschaften, Menschenrechtlerinnen, Besatzungsgegner.
Eine Armada aus Megafonen
Zwar wurde wieder eine rechte Regierung gewählt. Aber etwas hatte sich doch verändert. «Wir verstanden uns plötzlich als Verbündete gegen das Establishment», sagt Alon-Lee Green. «Die alte Linke hatte ihre glorreichen Tage, aber sie hatte nur die Besatzung als Thema», sagt der 32-Jährige. «Was bietet sie Leuten in der Peripherie, die keine Gesundheitsversorgung haben oder ihren Job verlieren, weil die Fabrik nach China umgesiedelt wird?»
Green ist im Zentrum Tel Avivs aufgewachsen, doch seine alleinerziehende Mutter hatte zu kämpfen, um ihn und seinen Zwillingsbruder durchzubringen. «Ich habe früh gemerkt, wie tief die soziale Kluft ist.»
Trotzdem versteht er, wieso sich seine Generation oft damit begnügt, zynische Kommentare auf Facebook zu schreiben. «Ich bin zwei Tage vor der Ersten Intifada geboren», sagt Green. «Meine Bar-Mizwa fiel in den Ausbruch der Zweiten Intifada.» Es war die Zeit, als seine Mutter ihm verbot, mit dem Bus zu fahren. Weil sich jede Woche jemand in die Luft sprengte. Als SchulkameradInnen «Tod den Arabern!» riefen. «In dieser Atmosphäre haben wir unser Bewusstsein entwickelt», sagt Green. «Es hat uns gefühlstaub gemacht.»
In diesen Wochen sitzt er meist in einem notdürftigen Büro im Süden Tel Avivs und koordiniert etwas, das er mal ein Werkzeug zur Mobilisierung nennt, mal eine Plattform für geteilte Interessen, aber meist schlicht: die Bewegung. Eine Armada von Megafonen reiht sich in der Ecke. An der Wand hängt ein lilafarbenes Plakat. «Standing Together» steht darauf, auch auf Hebräisch und Arabisch. Und: «Wo ein Kampf ist, da ist Hoffnung.»
Green kennt sich mit Kämpfen aus. Mit sechzehn trat er der Kommunistischen Jugend bei, später organisierte er Demos gegen den Libanonkrieg, skandierte im Tränengas gegen den Sperrwall und verweigerte in einem öffentlichen Brief den Militärdienst. Er war gerade einmal 21, als ihn Dov Khenin als seinen Berater in die Knesset holte. Der Mann, der bis 2019 als einziger Jude die Arabische Liste im Parlament vertrat und als Bürgermeisterkandidat schon vor den Protesten 2011 für eine «Stadt für alle» warb.
Als der Zauber der Zeltproteste zerstäubte, entmutigte FreundInnen ins günstige Berlin auswanderten, fragte sich Green, wieso sie die Energie der Masse nicht hatten einfangen können.
Im Sommer 2014 sprach man in Tel Aviv nicht mehr von Mietpreisen. Raketen flogen nach Israel, Bomben zerstörten Gaza. In den sozialen Medien herrschte Lynchstimmung. «Im Krieg kocht der Rassismus über», sagt Green. Als im Jahr darauf «einsame Wölfe» Messerattacken verübten, kannte Israel nur eine Antwort: «Verstärkt die Besatzung.»
Damals sah man die lila Plakate und T-Shirts erstmals auf den Strassen, Juden trugen sie und Araberinnen. Sie sprachen sich nicht nur für eine andere Realität aus, sondern packten einfach alles auf ihre Agenda: die Besatzung, die wachsende soziale Kluft, den Angriff der Regierung auf die Freiheit der Demokratie. «Uns wurde klar: Das ist alles verkoppelt», sagt Green. Um die Masse zu erreichen, muss man für alle relevant sein. Deshalb engagiert sich Standing Together für Rentenpolitik und Frauenrechte, afrikanische Asylsuchende, marginalisierte BeduinInnen und die LGBTIQ-Community.
Bisher habe die Bewegung 2100 aktive Mitglieder, sagt Green. Sie arbeiten in fünfzehn Zirkeln, verteilt übers ganze Land. Die Leitung – er selbst ist Landesdirektor – wird wie alles demokratisch gewählt. Gleichzeitig sei man stolz darauf, dass die meisten Mitglieder sich das erste Mal politisch engagierten. Etwa ein Drittel sind arabische Israelis, die Hälfte Frauen – und die meisten sind entweder jünger als dreissig oder älter als sechzig Jahre. «Was uns fehlt», sagt Green schulterzuckend, «ist die Generation der Neoliberalen.» Die heute schwächelnde Arbeiterpartei war in den achtziger Jahren ganz vorne dabei, als es um die Liberalisierung der Wirtschaft ging.
Strategisch orientieren sie sich nicht nur an den Erfolgen anderer neuer Linker wie der spanischen Bewegung Podemos oder der jungen BritInnen von Momentum, sondern auch an einem Vorbild, das ihnen ideologisch nicht ferner sein könnte: Der SiedlerInnenbewegung Gusch Emunim gelang es in den siebziger Jahren, ohne Partei Israels Politik nach rechts zu rücken.
Gegen den «Crimeminister»
Aufgegeben hat Alon-Lee Green die institutionelle Demokratie nicht. Auf Facebook hat er am Vormittag ein Wahlplakat der Likud gepostet: «Ohne die Arabische Liste kann Blau-Weiss keine Regierung bilden», steht darauf. «Bibi sagt es selbst», schrieb Green, «wer den Wandel will, sollte auf die Arabische Liste setzen!»
Dann muss er los, die nächste Demo will organisiert werden. Gegen Trumps «Friedensplan», vor allem aber gegen den Transfer von 300 000 arabischen Israelis.
Vier Leute tragen das meterlange Banner. Als es sich aufspannt, schauen die JournalistInnen verdutzt: «Crimeminister» steht in Grossbuchstaben darauf, daneben Netanjahus Kopf. Kaum 200 Leute drängen sich auf dem Dizengoff-Platz in Tel Aviv und skandieren hebräische und arabische Sprechchöre – unweit vom Hauptsitz des Likud und angesichts der Phalanx von Polizeiautos wirkt es wie eine ziemliche Provokation. Nur scheint es kaum jemanden zu interessieren. Vielleicht sind es die Gewitterwolken, doch an diesem Samstagabend sind die Strassen wie leer gefegt.
Green hat morgens schon im «arabischen Dreieck» demonstriert, das gegen die israelischen Siedlungen getauscht werden soll. Nun bewegt er sich wie ein Dirigent rückwärts vor dem kleinen Zug, stoppt ihn immer wieder, lässt aufrücken, schielt hoch zum Dach des Einkaufszentrums, wo FotografInnen sitzen. Den Effekt seiner schlauen Inszenierung erkennt man am nächsten Tag auf Facebook. «Tausende Araber und Juden gegen Trump und Bibi», schreibt Green unters Foto. Zumindest virtuell hat er die Masse auf die Strasse gezaubert.
Rona Cohen gibt ein Like, zur Demo war sie nicht gekommen. Sie überlegt sich gerade, wie sie ihre nächste Serie umsetzt. Mit einem arabischen Freund will sie durch die PalästinenserInnengebiete reisen, den Alltag zeigen und natürlich: provozieren. Jüdischen Israelis verbietet der Staat die Einreise.
Eines hat die Generation, die unter Netanjahu erwachsen geworden ist, von ihm gelernt: Aufmerksamkeit bekommt nur, wer die Regeln bricht.