Israel / Palästina: «Wir haben die Trucks mit unseren Körpern beschützt»

Nr. 23 –

Wie lässt sich in Zeiten des Krieges Empathie bewahren, wie die Hegemonie verschieben? Rula Daood und Alon-Lee Green von der binationalen Bewegung Standing Together über hoffnungsvolle Kämpfe, beharrliche Friedensarbeit und Kritik an linken Debatten im Ausland.

Aktivist:innen von Standing Together schirmen Lkws mit Hilfsgütern für Gaza ab
«Humanitärer Schutzschild»: Aktivist:innen von Standing Together schirmen Lkws mit Hilfsgütern für Gaza ab, damit radikale Siedler:innen diese nicht am Grenzübertritt hindern können. Foto: Alessio Mamo, Laif

WOZ: Rula Daood, Alon-Lee Green, das Motto Ihrer Bewegung lautet «Wo ein Kampf ist, da ist Hoffnung». Am Wochenende haben in Israel Zehntausende für Joe Bidens Friedensplan demonstriert. Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass das Sterben in Gaza bald ein Ende hat?

Rula Daood: Einen solchen Deal hätte es schon vor Monaten geben müssen. Aber es stimmt mich hoffnungsvoll, dass die Leute auf die Strasse gehen und Druck auf die Regierung machen, damit diese das Abkommen für die Rückkehr der Geiseln und ein Ende des Krieges akzeptiert – und zwar nicht nur zwischen Israel und Gaza, sondern auch mit der Hisbollah im Libanon. Allerdings hege ich keine Hoffnung, dass die Regierung ihre Politik ändert: Sie will besetzen, umsiedeln, erobern und immer mehr Land. Benjamin Netanjahu glaubt, dass er nur verlieren kann, wenn er den Krieg stoppt, weil er dann seinen Posten als Premier los ist. Und jemandem wie Bezalel Smotrich sind die hier lebenden Menschen egal, Palästinenser:innen wie Israelis. Was fehlt, sind echte Führungspersönlichkeiten, die Alternativen aufzeigen könnten.

Alon-Lee Green: Von aussen wird zwar oft bemängelt, die Demonstrant:innen wollten bloss die Geiseln befreien, aber der von Biden vorgebrachte Deal würde einen Waffenstillstand mit einschliessen und damit den Krieg beenden. Jedes einzelne Familienmitglied einer Geisel hat sich dafür ausgesprochen. Dass sich Zehntausende trotz der krassen Repression von Regierung und Polizei, trotz des Internetmobs dafür entscheiden, öffentlich für ihre Position einzustehen, ist unglaublich mutig.

Rula Daood und Alon-Lee Green von Standing Together
Rula Daood und Alon-Lee Green von Standing Together. Foto: Jonas Opperskalski

Glauben Sie, dass die Protestierenden die Machtverhältnisse wenden können?

Daood: Als soziale Bewegung glauben wir daran, dass sich Wandel durch Druck von der Strasse erzielen lässt. Vor dem 7. Oktober gab es zehn Monate lang jeden Samstag Proteste gegen die «Justizreform» – und das mit Erfolg: Viele der geplanten Änderungen wurden fallen gelassen. Der Krieg hat Netanjahus Regierung gerettet. Seit dem Massaker der Hamas versuchen wir, in Israel eine Antikriegsbewegung aufzubauen. Als vor zwei Monaten von einem Einmarsch in Rafah die Rede war, haben sich die Protestierenden dagegen gewehrt – und bewirkt, dass die Invasion nicht noch schlimmer ausfiel. Auch wenn es natürlich trotzdem katastrophal ist, weil so viele unschuldige Menschen in Gaza sterben: Ich will gar nicht daran denken, was ohne diesen Druck passiert wäre.

Eine Annahme des Deals würde wohl das Ende der Regierung einleiten.

Daood: Die Menschen auf der Strasse haben eine enorme Macht. Und solange sie dort bleiben, behalten sie diese. Neben einem Waffenstillstand, der Annahme von Bidens Friedensplan und einer Rückkehr der verbliebenen Geiseln fordern sie auch Neuwahlen. Die aktuelle Regierung bringt den Menschen in Israel weder Schutz noch Sicherheit. Es tut mir wahnsinnig leid, dass die israelische Politik keine mutigen Anführer:innen hervorgebracht hat. Hätten wir die, wäre die Regierung vielleicht schon vor Monaten abgesetzt worden, und man müsste nicht auf jemanden wie Biden warten. Es hat leider sehr lange gedauert, bis wir an diesem Punkt angelangt sind, was wohl auch an der Medienblockade liegt. Die Leute in Israel konnten gar nicht sehen, was in Gaza passiert …

Green: … sie wollten es auch nicht sehen …

Daood: Ja, vielen war es auch egal. Aber das hat sich jetzt geändert.

Bidens Friedensplan

Nach wochenlangen Verhandlungen unter Vermittlung der USA, Katars und Ägyptens hat US-Präsident Joe Biden am Freitag überraschend einen neuen Friedensfahrplan präsentiert. Er umfasst drei Phasen: Die erste würde sechs Wochen dauern, eine Waffenruhe und den Rückzug israelischer Truppen aus allen dicht besiedelten Gebieten im Gazastreifen beinhalten. Freigelassen würden bestimmte israelische Geiseln sowie Hunderte palästinensische Häftlinge. Parallel müssten Israel und die Hamas die Bedingungen für ein dauerhaftes Kriegsende verhandeln. In Phase zwei würde sich die israelische Armee komplett zurückziehen, die Hamas alle restlichen Geiseln freilassen. Phase drei wäre dann der Wiederaufbau von Gaza. Bis Redaktionsschluss haben sich die Kriegsparteien nicht auf den Deal verständigt.

Sie beide sind nicht erst seit acht Monaten politisch aktiv. Haben die Massaker der Hamas und der darauffolgende Krieg Ihre politischen Ansichten verändert?

Daood: Es gab Tage und Wochen, in denen ich völlig hoffnungslos war. So viel Tod und Leid, ohne dass irgendeine Alternative zu sehen war. Doch immer, wenn wir zu einer Demo aufriefen, kamen Tausende. Einmal baten wir um Lebensmittelspenden für die Menschen in Gaza und bekamen sofort zwei Lastwagen voll. Es gibt also immer noch Leute, die an das Gleiche glauben wie wir. Dieser Hoffnungsschimmer hat uns bestärkt, das ist der Grund, warum wir weitermachen. Natürlich gibt es Momente, in denen man aufgeben will. Aber das Gute ist: Man kann ab und zu loslassen, während andere die Arbeit fortsetzen, und anschliessend mit mehr Energie zurückkehren.

Green: Auf jeden Fall haben die Ereignisse unser Handeln beeinflusst: Wir wechselten sofort in den Notstandsmodus. Von unseren vielen Initiativen gehörten die jüdisch-arabischen Solidaritätswachen in allen gemischten Städten und Regionen des Landes zu den wichtigsten. Wir richteten eine Hotline zur Unterstützung palästinensischer Israelis ein, die wegen ihrer politischen Ansichten oder ihrer Identität heftiger Verfolgung ausgesetzt sind. Ausserdem starteten wir zwei Tage nach dem Massaker eine Petition, die Zehntausende unterschrieben haben: Wir sagten, es mag unangenehm sein, und vielleicht wollen wir es nicht wahrhaben, aber der einzige Weg zur Freilassung der Geiseln ist ein Deal mit der Hamas – Diplomatie statt Krieg, trotz aller Traumata und Ängste. Eine Position, für die uns sogar die Linke im Parlament attackierte. Daraus sind dann später die Antikriegsdemos entstanden. Uns ging es dabei nicht nur darum, palästinensisches Leben in Gaza zu retten, das Gebiet vor Zerstörung und Hunger zu bewahren, sondern auch um unsere eigene Seele.

Wie meinen Sie das?

Green: Die israelische Gesellschaft besteht aus Juden und Palästinenserinnen. Erklären wir alle Palästinenser:innen zu Feind:innen, bekämpfen wir nicht nur die Menschen in Gaza, sondern auch ein Fünftel unserer eigenen Bürger:innen. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, eine demokratische, integrative Gesellschaft zu sein.

Daood: Eins ist klar: Auf dem Gebiet, das Israel-Palästina genannt wird, leben zwei Völker, das jüdische und das palästinensische. Wir müssen dringend darüber nachdenken, wie wir an diesem Ort Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und echte Unabhängigkeit für alle schaffen können. Und der erste Schritt dorthin ist die Erkenntnis, dass weder die einen noch die anderen von hier verschwinden werden. Natürlich müssen wir über das Kräfteverhältnis sprechen: Israel besetzt die Westbank, hat Gaza einer Blockade unterzogen und zwölf Kriege gegen Gaza geführt. Viele Generationen sind mit Landkarten aufgewachsen, auf denen Israel die Westbank, Gaza und sogar die Golanhöhen einschliesst. Vor uns liegt also viel Arbeit. Der aktuelle Krieg hat zur Radikalisierung beigetragen, sowohl nach rechts wie auch nach links. Bei mir persönlich hat er aber auch den Wunsch nach Veränderung verstärkt.

Demonstration für ein Waffenstillstandsabkommen in Tel Aviv
«Die Menschen auf der Strasse sind die Basis unserer Macht»: Von Standing Together organisierte Demonstration für ein Waffenstillstandsabkommen. Tel Aviv, am vergangenen Samstag. Foto: Jonas Opperskalski

Sie sprachen eben von der repressiven Reaktion des Staates. Wie viel Spielraum hatten Sie für Ihren Protest?

Green: Wir mussten wegen Morddrohungen unsere Büros räumen, manche von uns wurden persönlich mit dem Tod bedroht. Die Polizei sagte: «Tut uns leid, wir können auch nicht helfen, aber wir empfehlen euch, eure Wohnungen zu verlassen.» Zu wissen, dass jemand nach deiner Adresse sucht, um dir wegen deiner politischen Ansichten zu schaden, ist ein furchtbares Gefühl. Aber wissen Sie, was auch völlig niederschmetternd ist? Haben Sie die neuste Social-Media-Schlacht mitbekommen? Millionen haben das Bild «All Eyes on Rafah» geteilt, um auf das Leid der Palästinenser:innen aufmerksam zu machen. Andere – darunter auch Freund:innen von mir – kritisierten diesen Schritt mit der Aussage, wo denn am 7. Oktober «alle Augen» gewesen seien. Ein schreckliches Missverständnis! Die Augen der ganzen Welt waren damals auf uns gerichtet, überall erstrahlten Gebäude in Blau-Weiss, Politiker:innen wie gewöhnliche Menschen waren erschüttert von den Verbrechen der Hamas.

Verschwindet mit jedem weiteren Kriegstag auch ein Stück Menschlichkeit?

Green: Ja, und das ist wahnsinnig beängstigend. Wie kann man das Leid der anderen zwar sehen, es aber nicht anerkennen wollen? Kinder schreien, während sie in ihrem Zelt verbrennen – und dieses Zelt ist in Flammen geraten, weil wir eine Bombe auf Rafah abgeworfen haben. Die ganze Welt hat das Video gesehen – und du sagst: «Schau nicht auf diese Kinder, schau auf uns»? Es gibt Momente, da zerbricht tief in dir drin etwas.

Standing Together ist eine Bewegung von jüdischen und arabischen Israelis, die jeweils unterschiedlich vom Krieg betroffen sind. Wie lassen sich Empathie und Verständnis für die «andere Seite» aufbringen?

Daood: Zwei Tage nach dem Massaker haben wir uns zu einem Zoom-Call getroffen, bei dem alle von ihren Erfahrungen berichten konnten. Wir waren völlig überfordert, haben die ganze Zeit geweint. Einige von uns hatten beim Angriff der Hamas Angehörige verloren, andere bei den Bombardierungen von Gaza. Die einen hatten Familienmitglieder, die in die Armee eingezogen wurden und nach Gaza mussten, andere waren in Israel Repressionen ausgesetzt. In dem Moment war es wichtig, den Schmerz aller wahrzunehmen. Wir mussten anerkennen, dass alle betroffen sind, dass kein Schmerz grösser ist als der andere. Man kann nicht auf den Tod von Kindern in Gaza aufmerksam machen und dann Bilder israelischer Kinder von sich weisen, die von der Hamas entführt wurden. Menschlichkeit bedeutet nicht, Mitgefühl für nur eine Seite zu empfinden, sondern die gleiche Empathie für beide aufzubringen.

Wie ist Ihnen der Übergang von der Anerkennung des gemeinsamen Schmerzes zu konkreten Aktionen gelungen?

Daood: Wir haben jüdische und palästinensische Israelis bei «Solidaritätstreffen» zusammengebracht, wo sie einander zuhören und miteinander ins Gespräch kommen konnten. In jedem Krieg zwischen Israel und der Hamas haben wir gehört, dass es diesmal ganz sicher klappen wird, die Hamas zu vernichten. Aber jedes Mal war sie nach Kriegsende noch immer an der Macht. Den Schmerz miteinander zu teilen, ermöglichte uns als Bewegung auch, den Blick nach vorne zu richten. Wir konnten auch deshalb einen Schritt weiter gehen und etwa für die Demos mobilisieren, weil wir in den acht Jahren, in denen es uns schon gibt, einen gemeinsamen Raum aufgebaut, gemeinsam gekämpft haben.

Green: Viele Linke im Ausland übersehen, dass es in Israel neben der Regierung auch eine Gesellschaft gibt. Und dass innerhalb dieser Gesellschaft ein Kampf tobt. Auch am 7. Oktober wurden Unschuldige abgeschlachtet und entführt. Und auch sie sind Opfer von Krieg und Besetzung, Opfer jener Kräfte, die ihren Extremismus gegenseitig befeuern. Das anzuerkennen, hält einen nicht davon ab, das Leid der Palästinenser:innen wahrzunehmen. Deren Leid wiederum bedeutet nicht, dass meine Freund:innen nicht auch eigene Ängste und Schmerz haben und ebenfalls Sicherheit verdienen. Man kann um die Machtasymmetrie wissen und gleichzeitig akzeptieren, dass es aufseiten der Unterdrückten auch Unterdrücker gibt. Natürlich ist der Preis der Besetzung unterschiedlich: Die Palästinenser:innen zahlen den höchsten, aber auch wir zahlen einen. Bei unserer Arbeit lassen wir uns von einer Theorie des Wandels leiten: Ungeachtet aller Unterschiede kämpfen wir für die gleiche Zukunft.

Derzeit finden an westlichen Unis propalästinensische Besetzungen statt. Wie nehmen Sie die Debatten darum wahr?

Green: Ich würde den Besetzer:innen gern Folgendes sagen: Kämpft für eure Werte, tretet für die Rechte der Palästinenser:innen ein, sagt «Free Palestine». Aber gebt nicht jüdischen Menschen die Schuld, bringt sie nicht mit dem Handeln eines Staates in Verbindung, der nicht der ihre ist, das ist antisemitisch. Kritisiert Israel, fordert, dass keine Waffen mehr geliefert werden, wir unterstützen das. Aber vergesst nicht, dass die Leute vor Ort etwas zu verlieren haben. Ihr Kampf hat die Veränderung der Hegemonie zum Ziel. Es ist sehr einfach zu sagen, man erkenne Israel nicht an. Aber ich muss euch enttäuschen: Israel existiert. Es gibt einen Ort, an dem ich gerade einen Tisch berühre. Dieser Tisch steht in einem Gebäude und dieses Gebäude in einer Stadt. Diese Stadt wiederum befindet sich in einem Land, dessen Name Israel ist. Das Land hat eine Regierung, deren Politik sich auf die Realität auswirkt. Und in dieser Realität werden Palästinenser unterdrückt und Jüdinnen zum Militär geschickt. Wer hier lebt, kann entweder das Land verlassen oder die Hegemonie akzeptieren. Wir aber haben uns entschieden, die Realität zu verändern.

Sie kritisieren also die Haltungen einiger Linker …

Green: Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man die Realität verflucht und hofft, dass sich Wandel einstellt, wenn man nur so radikale Dinge wie möglich schreit – oder tatsächlich etwas für diesen Wandel zu tun. Es braucht Mut, etwas aufzubauen, das die Hegemonie infrage stellt. Wir werden nie genug Geld haben, um die israelische Waffenindustrie oder die Politiker:innen für uns zu gewinnen. Wir werden auch nicht stärker in der Regierung vertreten sein als sie, nicht mehr Macht im Parlament haben. Aber wir können mehr Menschen auf die Strasse bringen als sie. Diese Menschen sind die Basis unserer Macht – und um sie zu überzeugen, müssen wir ihre Interessen anerkennen.

Mit Ihrer Aktion «Humanitärer Schutzschild» haben Sie die Hegemonie zu Ihren Gunsten verschoben. Worum ging es dabei?

Daood: Es war ein brillantes Unterfangen, aber auch ein äusserst notwendiges. Auf der einen Seite sind viele der Protestierenden verzweifelt, weil sich nichts bewegt, sich die Politik nicht ändert. Auf der anderen Seite gehen die Siedler:innen einfach los und stoppen humanitäre Hilfe, die Israel auf dem Weg nach Gaza passiert. Sie waren sogar so dreist, Lkw-Fahrer in Jerusalem anzuhalten, um zu fragen, ob ihre Ladung für Gaza bestimmt sei. Sie fühlen sich ermächtigt, weil niemand sie aufhält, weder die Polizei noch das Militär an der Grenze. Also haben wir dazu aufgerufen, die Trucks zu bewachen.

Wie sind Sie vorgegangen?

Daood: Zwei Wochen lang sind um die vierzig Aktivist:innen jeden Tag an den Checkpoint in Tarkumija in der Westbank gefahren. Sie sassen acht Stunden lang dort, bis alle Lkws vorbeigefahren waren. Kamen Siedler:innen, um die Lebensmittelladungen zu beschädigen, schritten sie ein. Als Siedler:innen einmal Lebensmittel vom Lkw geworfen haben, sammelten unsere Leute alles Stück für Stück wieder ein. Wir haben die Trucks mit unseren Körpern beschützt. Und damit nicht nur die Siedler:innen eingeschüchtert, sondern auch die Polizei gezwungen, ihre Arbeit zu machen. Kamen wir an den Checkpoint, war sie schon da und verhinderte Angriffe auf uns oder die Fahrer. Viele von uns hatten erstmals das Gefühl, wirklich jemandem auf der anderen Seite der Grenze zu helfen. Vergangenen Sonntag haben die Siedler:innen dann ihren Rückzug verkündet.

Green: Natürlich hoffen wir, dass der Sieg von Dauer ist. Aber wenn sie zurückkehren, kommen wir einfach mit noch mehr Leuten. Es liegt an uns zu beweisen, dass wir sie vertreiben können.

Wir alle hoffen auf ein baldiges Ende des Krieges. Wie aber sieht Ihre Vision aus, um das Land für alle lebenswert zu machen?

Daood: Es ist nicht unser Job, Linien auf Landkarten zu ziehen, das machen andere schon sehr gut. Wir wollen eine politische Kraft aufbauen, die so mächtig wird, dass sie jede israelische und palästinensische Führung – wer auch immer das dann konkret ist – zwingen kann, sich bei Verhandlungen an unseren Grundsätzen zu orientieren. Ob sie sich dann für einen Staat, zwei Staaten oder eine Föderation entscheiden, ist am Schluss nicht so wichtig. Es ist nichts, worüber die Menschen hier im Moment sprechen. Viele fragen sich eher, wann der Krieg endet und was danach geschieht. Aber nur wenn wir nicht vergessen, dass beide Völker Gleichheit, Freiheit und Unabhängigkeit verdienen, können wir echte Sicherheit für alle erreichen.

Gibt es historische Vorbilder, die Sie inspirieren? In Südafrika etwa wurde nach der Apartheid eine «Wahrheits- und Versöhnungskommission» eingesetzt.

Green: Man kann sich von Ländern mit einem ethnischen Konflikt inspirieren lassen, aber auch von historischen Kämpfen. Und die wurden nicht deshalb gewonnen, weil irgendein Staatsoberhaupt eines Tages aufgewacht ist und gesagt hat: «Heute gebe ich den Frauen das Wahlrecht oder hebe die diskriminierenden Gesetze gegen Schwarze in den USA auf.» Wer meint, internationale Sanktionen und Boykotte hätten die Apartheid beendet, ignoriert die Rolle von Leuten wie Nelson Mandela. Und übersieht, dass eine Bewegung aus Schwarzen und weissen Südafrikaner:innen jahrzehntelang für ein Ende der Diskriminierung kämpfte. Das Gleiche gilt für uns: Dass ein Präsident irgendwo auf der Welt sagt, er widme sich nur noch dem Kampf gegen die Besetzung, wird nicht passieren. Die Welt hat genug andere Probleme. Und auch mit internationalen Sanktionen wird sich die israelische Armee noch lange behaupten können. Der Druck von aussen treibt die Gesellschaft nur immer weiter nach rechts. Es ermöglicht zu sagen: «Schaut, die ganze Welt ist gegen uns, also müssen wir uns um unsere rechtsextremen Anführer scharen.»

Daood: Internationaler Druck ist aber dennoch wichtig. Es ist gut, dass Politiker:innen auf der ganzen Welt von Israel fordern, den Krieg zu beenden …

Green: … Es ist einfach nicht an uns, das von ihnen zu verlangen …

Daood: Nur wenn die Leute hier für eine andere Politik kämpfen, wird es auch Veränderungen geben. Nur wenn sie verstehen, dass wir diesen Krieg beenden und einen dauerhaften Frieden anstreben müssen, kann das auch Wirklichkeit werden. Glauben die Leute vor Ort nicht an politische Lösungen, wird es sie auch nicht geben.

Welche Rolle kommt Gruppen wie Standing Together bei der Erarbeitung solcher Lösungen zu?

Daood: Die gegenwärtige Regierung ist eine der extremsten, die das Land je erlebt hat. Und es gibt niemanden, der sie herausfordert. Deshalb arbeiten wir am Aufbau einer binationalen Führung, die eine glaubhafte politische Alternative aufzeigen kann. In Anlehnung an die Farbe unserer Bewegung nennen wir sie die Violetten: jene, die an unsere Politik glauben und Teil davon sein wollen. Im besten Fall werden diese neuen Anführer:innen bei der Aushandlung der Zukunft unseres Landes mit am Tisch sitzen.

Standing Together : Die Aktivist:innen

Rula Daood und Alon-Lee Green bilden gemeinsam die nationale Leitung von Standing Together. Die Palästinenserin Daood (38) wuchs im arabischen Dorf Kufr Jasif im Norden Israels auf. Nach ihrer Politisierung gefragt, erzählt sie jeweils eine Episode aus dem Jahr 2014: Während des damaligen Gazakriegs war sie in der überwiegend jüdischen Küstenstadt Aschdod unterwegs, als ein Luftalarm ertönte. Daood fand Schutz in einer Bäckerei, wo ihr Blick auf eine Zeitungsschlagzeile über die Situation von Kindern in Gaza fiel. «Ich hoffe, sie sterben alle», sagte eine Frau, die ihr beim Lesen über die Schulter geschaut hatte. Als einzige Araberin im Raum wäre sie normalerweise ruhig geblieben, so war sie es gewohnt, in diesem Fall aber habe sie das nicht gekonnt: «Sollen wir aufs Dach gehen und den Kindern in Gaza beim Schreien zuhören? Würde Sie das glücklich machen?», habe sie der Frau gesagt. Plötzlich sei es in der Bäckerei ganz still geworden. An diesem Tag sei Daood, die als Logopädin arbeitet, zur Aktivistin geworden – und machte damit etwas, wovor ihre Eltern sie immer gewarnt hatten. Drei Jahre später stiess sie zu Standing Together.

Alon-Lee Green (36) gehört zu den Mitgründer:innen der sozialen Bewegung. Er wuchs als Sohn einer alleinerziehenden jüdischen Mutter auf, jobbte neben der Schule in einem Café und gründete Israels erste Gewerkschaft, in der jüdische und arabische Kellner:innen zusammen für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. 2011 stand Green bei den grossen Sozialprotesten, deren Köpfe Kontakte zur internationalen Occupy-Bewegung pflegten, in der ersten Reihe. Später war er als politischer Berater im israelischen Parlament tätig, unter anderem für Dov Khenin von der sozialistischen Listenverbindung Chadasch.

2015 entstanden, hatte Standing Together von Anfang an zum Ziel, jüdische und palästinensische Bürger:innen Israels zusammenzubringen, um gemeinsam für Gleichheit, Frieden und soziale Gerechtigkeit einzustehen. Zu den politischen Vorbildern der Gruppe gehören Podemos in Spanien, Momentum in Grossbritannien, Syriza in Griechenland sowie die Democratic Socialists of America. Standing Together kämpfte gegen die Deportation sudanesischer und eritreischer Geflüchteter und die Zerstörung beduinischer Dörfer in der Negevwüste. Die Aktivist:innen protestierten gegen die Wohnungskrise in Tel Aviv oder stritten für einen höheren Mindestlohn. Sie setzen sich gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung und die Besetzung palästinensischer Gebiete ein. Derzeit hat Standing Together mehr als 5000 Mitglieder.