Ein Traum der Welt: Leere Plätze
Annette Hug sorgt sich um Filipinas in Hongkong
Weil die Infektionen mit dem Coronavirus in Südkorea plötzlich zunahmen, hat die Regierung am 21. Februar öffentliche Kundgebungen in der Hauptstadt untersagt. Viele BewohnerInnen Seouls werden sich darüber freuen. Seit über einem Jahr demonstrieren im Stadtzentrum täglich Rechtsextreme für eine harte Linie gegen Nordkorea. Es sind kleine Gruppen, darunter viele Kriegsveteranen, die den Verkehr blockieren. Manchmal treffen sie auf eine linke Gegendemonstration. Dann wird die US-amerikanische Botschaft abgeriegelt, Polizeitruppen in dichten Reihen stellen sich auf. Der Stacheldraht auf der hohen Mauer vor dem Gebäude erinnert an die Botschaftsbesetzung in Teheran 1979, nur dass hier niemand zuschaut. Auch die Medien berichten kaum noch über die ritualisierten Proteste, die jetzt also ausfallen.
Die Regierung von Hongkong ruft die philippinischen und indonesischen Hausangestellten auf, am Sonntag bitte zu Hause zu bleiben und sich nicht zu versammeln. Aber die rund 300 000 Angestellten haben kein Zuhause in Hongkong. Sie leben am Arbeitsplatz, die wenigsten bewohnen ein eigenes Zimmer. Deshalb treffen sie sich am Sonntag mit FreundInnen im Freien, in Parks, auf Strassen, in Unterführungen, auf Passerellen und Plätzen des zentralen Bezirks – wenn nicht gerade Demonstrationen stattfinden. In ihrem Aufruf tönt die Stadtregierung an, dass sie einen der Gründe für den sonntäglichen Exodus erkannt hat. So fordert sie die ArbeitgeberInnen auf, den Angestellten ihren freien Tag auch dann zu gewähren, wenn sie im Haus bleiben.
Als ich vor drei Jahren in Hongkong Gespräche mit Filipinas führte, die Kinder oder alte Menschen betreuen, sagten mir einige, sie müssten am Sonntag die Wohnung verlassen, bevor die Madame aufstehe, sonst sei der freie Tag gelaufen. Das Befehlen und Befolgen ergebe sich ganz automatisch. Was die Stadtregierung jetzt fordert, ist also ein Kulturwandel. Familien sollen sich daran gewöhnen, dass eine Hausangestellte still für sich liest, auf ihrem Tablet spielt oder privat telefoniert, während jemand anders kocht. Es sei denn, sie ist gar nicht da, weil ihr der philippinische Präsident die Rückreise nach Hongkong verboten hat. In der internationalen Kaskade harter Massnahmen wollte nämlich auch Rodrigo Duterte nicht hintanstehen. Seit über einem Jahr spitzt sich die Kritik an seiner Aussen- und Migrationspolitik zu, die Opposition wirft ihm eine servile Haltung gegenüber der Volksrepublik China vor. Der Volkszorn trägt in dieser Sache oft rassistische Züge. Da traf Duterte die populäre Entscheidung, wegen des neuen Virus Reisen von und nach China ganz zu verbieten – wahrscheinlich ohne zu bedenken, dass dadurch Tausende von Angestellten, die während der chinesischen Neujahrsferien auf den Philippinen weilten, nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren konnten. Inzwischen werden Ausnahmen bewilligt.
Am 19. Februar gab ein Spital in Hongkong bekannt, dass zum ersten Mal eine philippinische Hausangestellte am neuen Virus erkrankt sei.
Annette Hug ist Autorin in Zürich. Beim Lesen internationaler Nachrichten kommt es ihr vor, als müsste sie einem vielfach verzweigten Dominospiel zuschauen.