Nach dem Anschlag in Hanau: Das Ringen um Sichtbarkeit
In der hessischen Stadt wird dieser Tage der Opfer gedacht, die ersten Beisetzungen finden statt. Es zeigt sich, wie brüchig das oft beschworene «wir» ist, wie schwierig würdiges Trauern.
Die Kerzen leuchten schon von weitem. Es ist kalt und windig im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, drei Tage nachdem ein Rechtsterrorist hier und an einem weiteren Ort in der Innenstadt neun Menschen erschossen hat. Im Erdgeschoss eines Hochhauses liegen die Shishabar Arena und der Kiosk, die der Täter aufsuchte, in und vor denen er auf Menschen zielte, die er nach rassistischen Motiven auswählte.
Im überdachten Aufgang des Hauses drängen sich einige AnwohnerInnen. Sie blicken still auf das Kerzenmeer, über dem Bilder der Opfer aufgehängt wurden. In einer Ecke sitzt ein Jugendlicher auf einem Barhocker. «Geh mal für ein paar Minuten nach Hause», sagt ein älterer Mann zu ihm. «Du kannst doch nicht die ganze Zeit hier sein. Deine Mutter macht sich Sorgen.»
Die Namen verlesen
Der Jugendliche schweigt. «Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe», sagt er dann. «Du musst etwas essen», sagt der Mann. Dabei geht es ihm genauso – auch er kann nicht gehen, nicht schlafen, nichts essen. Sie schweigen wieder, gemeinsam mit den vielen anderen, die da sind. Einige ziehen leise davon, andere kommen hinzu, zünden eine Kerze an, halten inne.
Am Sonntagnachmittag formiert sich in der Kesselstadt ein Trauermarsch, mehrere Tausend Menschen sind gekommen. Einige Angehörige der Opfer, viele Nachbarinnen und Freunde laufen mit. «Alle kennen alle hier in Hanau», hört man immer wieder. Etwas am Rand steht Jutta Friess, die Mütze tief in die Stirn gezogen und den Kragen des Mantels hochgeschlagen. Sie beobachtet die Vorbeiziehenden und hält dabei ein Schild hoch. «Say their Names: Hamza Kurtovic» steht darauf. Und von Hand ist darunter geschrieben: «Du bist einer von uns! Die Eugen-Kaiser-Schule trauert um dich!»
Jutta Friess ist Lehrerin an der Berufsschule, die Hamza Kurtovic einst besucht hat. Auch viele SchülerInnen dort kannten ihn gut, in der Schule wurde eine Gedenkstätte errichtet, der schulpsychologische Dienst ist im Einsatz. «Alle sind betroffen», sagt Friess, sie wischt sich über die Augen. «Fast alle unsere Schüler haben eine Einwanderungsgeschichte.»
Orte des Innehaltens wie im Hausaufgang am Tatort oder in der Eugen-Kaiser-Schule gibt es nun viele in Hanau. Auch das Brüder-Grimm-Denkmal auf dem Marktplatz im Zentrum ist in einen Gedenkort umgewandelt worden. Dort endet der Trauermarsch.
Von einer Bühne werden die Namen der Opfer verlesen: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saracoglu und Vili Viorel Paun. Einige der Angehörigen kommen am Ende der Kundgebung zu Wort, nachdem unter anderem der Oberbürgermeister, der türkische Botschafter und VertreterInnen der Religionsgemeinschaften – Islamverbände, die evangelische Kirche und die jüdische Gemeinde – gesprochen haben.
Angst vor Vereinnahmung
Es gibt allerdings auch kritische Töne: von kurdischen Organisationen und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma etwa, von denen auf der Kundgebung, auf der türkische Fahnen das Bild dominieren, keine VertreterInnen auf der Bühne stehen. Und die ebenfalls nicht eingeladen waren, als sich CSU-Innenminister Horst Seehofer zwei Tage nach den Anschlägen mit Vertretern der MuslimInnen und der türkischen Gemeinde traf.
Es zeigt sich, dass das dieser Tage oft beschworene «wir» brüchig ist, dass nicht nur ein Riss zwischen der Mehrheitsgesellschaft und von Rassismus betroffenen Menschen besteht, sondern dass auch unter diesen Menschen um Sichtbarkeit und Beteiligung, um ein würdiges Trauern gerungen wird, dass es grosse Sorgen um eine Vereinnahmung der Opfer gibt.
Auf Anfrage sagt Herbert Heuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dass, hätte es die Möglichkeit gegeben, in Hanau zu sprechen, man das «selbstverständlich gemacht» hätte. Drei der Opfer waren nach Kenntnis des Verbands Roma, unter den Verletzten ist ein Sinto.
«Wir trauern um alle Opfer», betont Heuss. Und: «Unsere Minderheit nimmt das Geschehene sehr ernst. Wir nehmen mit der rassistischen Dimension dieses Terroranschlags eine neue Qualität von Bedrohung wahr, die von Politik und Sicherheitsbehörden lange ignoriert wurde.»
Tiefes Misstrauen
Schon am Samstag zieht eine Demonstration mit 5000 TeilnehmerInnen durch die Stadt, organisiert von antirassistischen Initiativen. Auf Auftakt- und Schlusskundgebung wird schmerzhaft deutlich, dass die Hanauer Ereignisse Teil eines umfassenden rassistischen und rechtsterroristischen Kontinuums der Bundesrepublik sind. Es sprechen Überlebende und Angehörige von Opfern rassistischer Morde aus den vergangenen Jahrzehnten. Und überall in der Stadt hängen Plakate mit den Namen der Todesopfer von Nazimorden seit 1989. Man muss sehr nah rangehen, um sie überhaupt lesen zu können, die Schrift ist sehr klein, so viele Namen sind es.
«Wir haben immer vor Anschlägen gewarnt. Man muss nicht Nostradamus sein, um sie vorauszusehen», heisst es in einem Grusswort von Ibrahim Arslan, der im November 1992 als Siebenjähriger den Brandanschlag von Mölln überlebte, bei dem drei Menschen starben.
Andere wünschen den Angehörigen der Opfer von Hanau Geduld und Kraft. Aus ihnen spricht die bittere Erfahrung verschleppter Aufklärung. Vertrauen in die deutschen Behörden und die Politik gibt es hier kaum mehr. Auch deshalb wird immer wieder gegenseitige Solidarität beschworen. Und migrantische Selbstorganisation wie auch Selbstverteidigung angemahnt.
Dieses tiefe Misstrauen teilt der Frankfurter Semih Doganay, der nicht zum Demonstrieren nach Hanau gekommen ist, sondern um still am Tatort in der Innenstadt und am Brüder-Grimm-Denkmal zu gedenken. Er kennt Menschen in Hanau und fühlt sich betroffen, mit gemeint. «Ich habe kein Vertrauen mehr in die Mehrheitsgesellschaft», sagt er. «Ich bin müde.» Und: «Was sollen wir tun?»
Auch Abaned Rodriguez ist ratlos und ohne Vertrauen. Sie besitzt den in Hanau angegriffenen Kiosk und ist eine Angehörige des dort ermordeten Gökhan Gültekin. Am Sonntag läuft sie beim Trauermarsch aus der Kesselstadt mit. Einen Wunsch an die Politik hat sie nicht. «Das bringt nichts», sagt Rodriguez. «Bald wird vergessen sein, was hier passiert ist, und dann geht es weiter wie bisher.»
Da mischt sich ihre Begleiterin ein. Sie heisst Isabelle Akouete, eine Schwarze Deutsche, die ebenfalls in der Kesselstadt lebt. Wenn Abaned Rodriguez keinen Wunsch habe, dann möchte sie an ihrer statt einen äussern. «Der organisierte Rassismus, die AfD, darf niemals, niemals, niemals an die Regierung kommen», sagt sie mit Nachdruck in der Stimme. Abaned Rodriguez nickt.
Am Montag finden in Hanau die ersten Beisetzungen statt, es wird weitere Trauerveranstaltungen geben. Die Brüder-Grimm-Stadt wird nie mehr sein, was sie zuvor war. Sie wird künftig in einer Reihe stehen mit Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder der Kölner Keupstrasse. Orten, deren Namen man in Deutschland nicht aussprechen kann, ohne an rassistische Gewalt zu denken.