Rechter Terror: «Die migrantische Community darf dem Staat nicht trauen»

Nr. 46 –

Am 23. November jährt sich der rassistische Anschlag im deutschen Mölln zum 30. Mal. İbrahim Arslan hat ihn knapp überlebt. Heute setzt er sich gegen Rassismus und für eine andere Erinnerungskultur ein.

İbrahim Arslan
«Warum muss ein Betroffener eines Anschlags eine vernünftige Gedenkkultur aufbauen?»: İbrahim Arslan. 

Herr Arslan, Sie waren zum Zeitpunkt des Anschlags sieben Jahre alt. Können Sie sich daran erinnern?

İbrahim Arslan: Nur an Bruchteile, an einige Küchenutensilien etwa. Abgesehen davon weiss ich nur noch, wie ich dann neben meiner Mama im Krankenhaus aufgewacht bin.

Ihre Grossmutter hat Ihnen das Leben gerettet.

Sie hat mich, als das Haus in Flammen stand, aus dem Zimmer rausgeholt, in nasse Tücher gewickelt und in die Küche gebracht. Dann hat sie auch noch versucht, meine Schwester und meine Cousine zu retten – dabei ist sie selbst ums Leben gekommen. Die Feuerwehrleute berichteten, dass sie verbrannt ist. Meine Schwester und meine Cousine sind an einer Rauchvergiftung gestorben.

«Wir wollen zeigen, dass wir die Hauptzeugen des Geschehens sind und keine Statisten.»

 

Wie sind Ihre Familie und Sie mit dem Verlust umgegangen?

Das ist kein abgeschlossener Prozess. Wer Menschen durch einen rassistischen Mord verliert, fragt sich immer wieder, ob die Gesellschaft so verändert werden kann, dass so etwas nicht mehr geschieht. Deswegen haben wir den Anschlag bis heute nicht verarbeiten können. Das ist das Schlimmste an der ganzen Geschichte: dass wir damit nicht abschliessen können.

Wie haben damals Nachbarschaft und Stadtgesellschaft auf den Anschlag reagiert?

Mölln ist klein, alle kannten einander. Unsere direkten Nachbar:innen waren wie Verwandte für uns. Auch weisse Deutsche waren uns sehr wohlgesonnen. Nach dem Anschlag allerdings entwickelte sich eine extreme Abneigung gegenüber unserer Familie. Einige Bewohner:innen, nicht alle, sind davon ausgegangen, dass wir selbst hinter dem Anschlag stecken könnten. Das war die typische Täter-Opfer-Umkehr, bei der die Betroffenen und Familienangehörigen der Ermordeten nach der Tat beschuldigt werden. Unser Glück im Unglück war, dass die Neonazis, die uns das angetan haben, in der Nacht des Anschlags bei der Polizei angerufen und sich als Neonazis zur Tat bekannt haben.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch vom zweiten Anschlag.

Nicht nur ich. Ich bin bundesweit vernetzt mit Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt. Alle erzählen, dass sie nicht allein der Anschlag krank macht, sondern auch das, was danach kommt: dass sie von Gesellschaft, Medien und Justiz kriminalisiert und beschuldigt werden.

Gleichzeitig gab es auch damals Solidarität mit Ihrer Familie. Hunderte Menschen hatten Briefe geschrieben. Allerdings sind sie erst vor kurzem aufgetaucht. Wieso?

Aus ganz Deutschland haben uns Menschen geschrieben, auch aus dem Ausland, aus den Niederlanden, Amerika, selbst aus der Türkei. Aber wir waren zu dieser Zeit obdachlos, haben in einem Gasthaus gelebt. Die Briefe sind deshalb zur Möllner Stadtverwaltung gelangt, die sie gesammelt hat, statt sie an uns weiterzuleiten. Später wurden sie dem Stadtarchiv übergeben. Erst vor drei Jahren habe ich sie dort durch einen Zufall entdeckt. Inzwischen habe ich alle gelesen. Sie enthalten neben Solidaritätsbekundungen auch Vernetzungsangebote von Shoah-Überlebenden. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. Wir haben zwanzig Jahre lang versucht, Betroffene zu vernetzen. Direkt nach dem Anschlag hätten wir mit den Briefen die Möglichkeit dazu gehabt. Aber selbst das wurde uns nicht gewährt.

Seit Jahren engagieren Sie sich für eine andere Erinnerungskultur im Umgang mit rassistischem Terror. Warum braucht es ein Umdenken?

Man hat nie wirklich mit Betroffenen gemeinsam darüber nachgedacht, wie man mit dem offiziellen Gedenken umgehen soll. Dabei ist die wichtigste Frage überhaupt, was die Angehörigen der Ermordeten von uns als Gesellschaft verlangen.

Sie kritisieren auch die Stadt Mölln für ihre offizielle Erinnerungspolitik. Warum?

Die Stadt Mölln versucht, das Gedenken zu vereinnahmen. Das passiert auch in anderen Städten, in denen es Anschläge gegeben hat: Betroffene werden nicht zu den Gedenktagen eingeladen oder sogar bewusst ausgeschlossen. Obwohl diese eigentlich den Angehörigen gehören sollten. Wir haben in Mölln keine Möglichkeit mehr, eine offizielle Gedenkveranstaltung zu organisieren. Die Stadt will das nicht. Deswegen versuchen wir, eine eigene Mahnwache vor ebenjenem Haus in Mölln abzuhalten. Ausserdem haben wir die «Möllner Rede im Exil» ins Leben gerufen, eine Gedenkveranstaltung, die jedes Jahr in einer anderen Stadt stattfindet. Damit wollen wir zeigen, dass wir die Hauptzeugen des Geschehens und keine Statisten sind.

Sie sind auch in der antirassistischen Bildungsarbeit aktiv. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Gesellschaft in Bezug auf Rassismus und den Umgang mit Migration und Integration seit den neunziger Jahren verändert hat?

Im Bildungssystem gibt es meiner Meinung nach leider kaum Veränderungen. Man beschäftigt sich immer noch viel zu sehr mit Täter:innen, die Betroffenen stehen nicht im Fokus. Mein Job ist es, ihre Perspektive aufzuzeigen und die Schülerinnen und Schüler zu ermächtigen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Wie machen Sie das?

Als ich vor ungefähr sieben Jahren angefangen habe, meine Geschichte an Schulen zu erzählen, war das jeweils ein typisches Zeitzeugengespräch. Inzwischen habe ich aber gelernt, dass Schüler:innen eigene Betroffenheiten haben, die sie auch mit mir, anderen Schüler:innen und Lehrkräften teilen möchten. Menschen wie ich können Bezugspersonen für andere sein, die Rassismus erfahren. Ausserdem versuche ich, Menschen dazu zu motivieren, sich mit den Betroffenen zu identifizieren. Über die Täter:innen wissen wir oft alles: Wir wissen, welche Kindheit, welche Grosseltern, welche Haustiere ein Täter hatte, welche Kleider er gerne trug. Über die Opfer wissen wir dagegen gar nichts. Warum sollte diese Gesellschaft empört sein, wenn sie nichts über die Betroffenen weiss?

Nach dem Anschlag von Hanau war «Say their names» eine zentrale Parole der Angehörigen und Überlebenden. Die Namen der Ermordeten waren überall zu lesen – auf Aufklebern, auf Transparenten und auch in vielen Medien.

Was denken Sie, warum die Namen der Ermordeten aus Hanau von Anfang an in den Zeitungen zu lesen waren? Warum diese Botschaft so zentral wurde?

Ich schätze, es lag vor allem an Angehörigen, Überlebenden und Unterstützenden, die schnell und offensiv darum gekämpft haben, über die Ermordeten zu sprechen, und die die Erinnerungsarbeit, das Gedenken und sogar die Aufklärung selbst in die Hand genommen haben.

Meine Frage geht aber darüber hinaus: Warum konnten sich Betroffene so ermächtigen, vom ersten Tag an auf die Strasse gehen, bald einen eigenen Laden als Gedenkort in Hanau eröffnen und sich in den Medien Gehör verschaffen? Ich denke, dass das auch an den Kämpfen liegt, die Betroffene vor ihnen geführt haben. Bereits Angehörige der NSU-Ermordeten und Überlebende haben damals gefordert, die Namen der Opfer in den Vordergrund zu rücken. Auch wir haben das in den neunziger Jahren gesagt, ebenso Betroffene rassistischer Gewalt in den Achtzigern. Auch Shoah-Überlebende haben dafür gekämpft. Sie alle, wir alle, haben einen Baum gepflanzt, und die Früchte können jetzt geerntet werden von Überlebenden aus Hanau. Es gibt natürlich viel mehr, was wir noch tun müssen, aber das ist ein Anfang.

Sowohl Angehörige der NSU-Ermordeten als auch Betroffene aus Hanau kritisieren, Sicherheitsbehörden hätten die Taten nicht verhindert und nicht angemessen aufgeklärt. Einige sprechen von Staatsversagen. Wie steht es um Ihr Vertrauen in den Staat und in die Sicherheitsbehörden?

Es gibt kein Vertrauen in den Staat. Es beschämt mich, das zu sagen, denn ich bin deutscher Staatsbürger, hier geboren und hier aufgewachsen. Aber für das Misstrauen gibt es viele Gründe: Die Polizei hat damals beim NSU in rassistischer Weise gegen die Betroffenen ermittelt. Gleichzeitig hat der Verfassungsschutz V-Männer in der neofaschistischen Szene eingesetzt und diese dadurch mit Steuergeldern unterstützt. Ausserdem haben wir nach der Selbstenttarnung des NSU gelernt, dass Behörden in der Lage sind, wichtige Akten zur Aufklärung zurückzuhalten oder zu vernichten. Hinzu kommt: Der Staat möchte die Kontinuität rassistischer Gewalt seit den achtziger Jahren nicht erkennen und spricht lieber von Einzelfällen. Auch deshalb darf es aus der migrantischen Community kein Vertrauen in ihn geben. Darf es einfach nicht. Umso wichtiger ist dafür die Solidarität aus der gesamten Gesellschaft.

Haben Sie Hoffnung, dass sich die Gesellschaft und dann auch irgendwann die staatlichen Behörden verändern können?

Das meiste, was ich tue, habe ich von Shoah-Überlebenden gelernt. Sie haben darauf vertraut, dass sich diese Gesellschaft irgendwann verändert. Deshalb gehe ich an Schulen. Weil ich den Heranwachsenden einen grossen Vertrauensvorschuss gebe. Sie werden irgendwann in den entscheidenden Positionen sitzen.

Sie haben eine Familie, sind Vollzeit berufstätig. Die Erinnerungs-, Vernetzungs- und Bildungsarbeit machen Sie ehrenamtlich in Ihrer Freizeit.

Ja, das wissen viele Menschen nicht. Dass die meisten Betroffenen diese ganze Arbeit in ihrer Freizeit leisten. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir das alle Vollzeit machen könnten im Rahmen einer offiziellen Institution für die professionelle Arbeit von Betroffenen. Dann wäre Deutschland wahrscheinlich wirklich ein Synonym für eine gut laufende Gedenkkultur.

Denken Sie manchmal darüber nach, nicht mehr so viel Zeit und Arbeit zu investieren?

Ich frage mich immer wieder, warum ich diese Arbeit überhaupt machen muss. Warum muss ein Betroffener eines Anschlags eine vernünftige Gedenkkultur aufbauen, warum einen antifaschistischen Kampf führen? Wir tun das alles, weil wir uns gezwungen sehen, dazu beizutragen, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann. Weil der Tod unserer Liebsten nicht einfach folgenlos bleiben darf. Deswegen machen wir immer weiter, müssen wir immer weitermachen. Wir, die Überlebenden, sind zum Überleben verurteilt.

Dieser Text basiert auf einer gekürzten und leicht überarbeiteten Fassung eines Interviews von NDR Kultur.

Der Anschlag von Mölln

Am 23. November 1992 warfen zwei Neonazis in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln Molotowcocktails auf Wohnhäuser, in denen aus der Türkei stammende Familien lebten. Drei Menschen wurden ermordet: die 51-jährige Bahide Arslan, die 10-jährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe Yılmaz. Neun weitere Personen wurden schwer verletzt.