Widerstand im Nahen Osten : Für die Utopie von einem neuen Staat
Neun Jahre nach dem Arabischen Frühling erschüttert eine zweite Welle von Protesten den Nahen Osten. Ganz vorne mit dabei: die Frauen. Fragmente aus Beirut, Teheran und Bagdad.
Bagdad, 13. Februar. Vier Monate nach dem Ausbruch der Revolution marschieren Tausende Frauen durch die irakische Hauptstadt, junge und alte, aus allen Gesellschaftsschichten. «Rafaa banatak, ja watan», skandieren sie. Heimatland, deine Mädchen erheben sich.
Gerechnet hätten sie mit einigen Hundert, schreibt Ban Layla, eine der Organisatorinnen des ersten Frauenmarschs dieser Revolution, per Whatsapp. Die Grösse des Marsches hat sie schier überwältigt. Dieser würde das Bild verändern, das die Gesellschaft von Frauen habe, so Layla. Auf die Frage, woran sie das erkennen könne, schickt sie bloss ein Bild. Darauf zu sehen ist eine Frau, die inmitten der Menge ein Schild in die Luft streckt: «Revolution is Female».
Ban Layla ist Feministin, als Nachname verwendet sie den Namen ihrer Mutter statt wie üblich jenen des Vaters. Sie ist eine von Hunderttausenden IrakerInnen, die zurzeit gegen ihre Regierung protestieren. Ihre Familie allerdings weiss nichts davon. Layla stammt aus dem konservativen Sadr City, ihre Familie ist gegen die Revolution, die längst die gesellschaftliche Ordnung durcheinandergeworfen hat. Das Doppelleben, das Ban Layla schon länger führt, ist seither nur noch extremer geworden.
Brennende Reifen und Blockaden
Sudan, Algerien, Irak, Libanon, Iran: Neun Jahre nach den Revolten von 2011 erlebt der Nahe Osten eine zweite Welle von Aufständen. Und wie schon während des Arabischen Frühlings sind die Frauen nicht nur in grosser Zahl, sondern auch an vorderster Front dabei. Für sie ist klar: Wenn wir jetzt nicht auf die Strasse gehen – wann dann?
Beirut, Ende Oktober. Wenige Tage nach dem Ausbruch der Revolution sitzt Rima Feghaly mit ihren Freundinnen auf dem Märtyrerplatz. Es ist weit nach Mitternacht, ein langer Demonstrationstag ist zu Ende gegangen. Feghaly hat sich vorher kaum politisch engagiert. Doch jetzt ist alles anders, und der Gedanke, dass am nächsten Tag einfach wieder alle ihrer Arbeit nachgehen, gefällt den Frauen nicht. Stattdessen fahren sie in ein anderes Viertel und fangen an, die Strasse zu blockieren. «Wir fanden einen Reifen, doch wir wussten zuerst gar nicht, wie wir ihn anzünden sollten», sagt Feghaly.
Von der ersten Nacht der Aufstände am 17. Oktober ging ein Video viral: eine Frau, die einem Sicherheitsmann gut gezielt zwischen die Beine kickt. Dieses Bild, das zum Symbol der libanesischen Protestbewegung wurde, bringt etwas ganz Wesentliches auf den Punkt: Der Platz der Frauen in dieser Revolution ist nicht auf eine Nische beschränkt und schon gar nicht auf konservative Rollenbilder. «Frauen haben Proteste und Diskussionsrunden angeführt, sie waren an der Frontlinie und im Internet präsent», sagt die Aktivistin Alia Awada. Sie haben, wie Feghaly und ihre Freundinnen, Reifen angezündet und Strassen blockiert.
Awada ist Mitgründerin des feministischen Kollektivs Fe-Male und kämpft seit Jahren für Frauenrechte. Bei früheren Protesten, sagt Awada, seien Frauen zwar auch dabei gewesen. Doch dass sie jetzt auf allen Ebenen präsent seien, sei etwas gänzlich Neues. «Ihre Anliegen sind in die Revolution eingebettet. Du siehst jemanden mit einem Schild gegen das Personenstandsrecht neben jemandem mit Forderungen für Wirtschaftsreformen.»
Die Revolution im Libanon begann, wie auch jene im Irak, als Protest gegen die korrupte Regierung. Doch während die DemonstrantInnen früher bloss nach Reformen verlangten, reicht das heute nicht mehr: Sie fordern, hier wie dort, die Absetzung der gesamten politischen Klasse und ein neues System, das nicht länger auf Quoten für die verschiedenen Religions- und Bevölkerungsgruppen basiert. Sie haben genug vom korrupten Klientelismus, bei dem die Parteien die politische Treue ihrer AnhängerInnen mit Privilegien erkaufen.
«Die Frauen hat dieses System besonders diskriminiert», sagt Awada. Der Libanon gilt im Vergleich zu seinen Nachbarn als liberal und fortschrittlich. Doch auf dem Gender-Gap-Index ist das Land auf Platz 145 von 153 – direkt vor Saudi-Arabien. Das liege in erster Linie an den zahlreichen Gesetzen, die Frauen «nicht als Bürgerinnen behandeln», wie Awada sagt. So können Libanesinnen etwa ihre Staatsbürgerschaft nicht an die Kinder weitergeben. Es gibt fünfzehn verschiedene Personenstandsrechte, die Frauen je nach Religion unterschiedlich behandeln. Diese Kleinteiligkeit machte den Frauenrechtlerinnen den Kampf für mehr Gleichstellung bisher besonders schwer.
Gefangen in der Zeitkapsel
Bagdad, 25. Oktober. Nachdem die erste Welle der Proteste von Sicherheitskräften brutal bekämpft worden war und Hunderte Menschen ihr Leben verloren hatten, haben sich die DemonstrantInnen in in der Hauptstadt und zahlreichen Provinzen im Süden des Landes abermals auf der Strasse versammelt. In den folgenden Wochen erlebt der Irak einen Volksaufstand, wie es ihn in den Jahren seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 nie gegeben hat. Die Protestierenden halten den Tahrirplatz in Bagdad und die Zentren anderer Städte besetzt und schaffen dort mit Zeltstädten, Theateraufführungen und Wandmalereien ihre Utopie von einem gerechten Staat.
Für Ban Layla, die Monate später den Frauenmarsch mitorganisieren wird, war schon am Anfang der Proteste klar: Ein Volksaufstand ist das nur, wenn er auch die Frauen miteinbezieht. Schliesslich ist die Neudefinition der irakischen Identität, und um nichts weniger geht es den Protestierenden, nicht etwas, was nur die Männer betrifft.
Dass die Frauen eine zentrale Rolle einnehmen, ist im Irak allein schon eine Revolution: Die Gesellschaft ist konservativ, auch wenn sie das nicht immer war. Doch über dreissig Jahre Krieg und Sanktionen sowie der Aufstieg radikalreligiöser Parteien und Milizen nach dem Umsturz haben die Gesellschaft geprägt. Die Aktivistin Reaam Mahbuba drückt es so aus: «Die letzten dreissig Jahre waren wie eine Zeitkapsel, in der sich nichts bewegt. Wenn du bombardiert wirst, denkst du nicht über Frauenrechte nach.»
Die Revolution im Irak, sagt Mahbuba, sei für sie vor allem eine soziale. «Die Leute fordern den Status quo heraus und schaffen neue Regeln.» Zwar gab es bereits in den vergangenen Jahren eine zaghafte Öffnung. In Bagdad sitzen Frauen und Männer inzwischen zusammen in Cafés, und es ist, anders als noch vor einigen Jahren, normal, dass junge Frauen auf ihren Facebook- oder Instagram-Profilen Bilder von sich hochladen.
Und dennoch, die Öffnung fand vor allem im Privaten statt. Dann aber posteten junge Paare Bilder davon, wie sie sich inmitten der Proteste küssen. «Es ist etwas ganz anderes, dies in aller Öffentlichkeit auszuleben, wie es jetzt etwa auf dem Tahrirplatz geschieht. Dort bist du umgeben von Sadr-Anhängern», sagt Reaam Mahbuba.
Der Kleriker Muktada al-Sadr wird im Irak von Hunderttausenden verehrt und inszenierte sich in den vergangenen Jahren als Reformer, der die Korruption bekämpfen will. Doch viele der Protestierenden trauen ihm nicht, seit er der Bewegung Anfang Januar erst die Unterstützung entzog, um dann später seine Anhänger zurück auf den Tahrirplatz zu schicken. Neulich dann rief er dazu auf, dass Frauen und Männer doch bitte getrennt demonstrieren mögen – so wie Frauen auch zu Hause oder im Restaurant von fremden Männern getrennt sein sollten, wie es an vielen Orten im Irak heute noch üblich ist.
Es war dieses Statement, das Ban Layla und drei weitere Aktivistinnen dazu bewog, den Frauenmarsch zu organisieren: eine Antwort auf Sadrs Versuch, der Revolution seine Moralvorstellungen überzustülpen. Dass so viele kamen, zeigt, dass viele sich nicht länger von einem Kleriker vorschreiben lassen wollen, wie sie zu leben haben. «Die Proteste haben ein neues Miteinander zwischen Frauen und Männern ausgelöst», sagt Reaam Mahbuba. «Diese Erfahrung kannst du den Menschen nicht einfach wieder wegnehmen.»
Eine Lektion über Veränderung
Teheran, 10. Oktober. Über 3000 Frauen stehen im Stadion zusammen und feuern das iranische Nationalteam im Qualifikationsspiel gegen Kambodscha an. Doch für Sara Abed, die seit 2005 dafür kämpft, dass Frauen bei Fussballspielen zugelassen werden, ist das nur ein halber Erfolg. Schon allein, weil der jetzt gewährte Zugang nur für Qualifikationsspiele der Weltmeisterschaft gilt und auch nur in einem abgetrennten Bereich mit einer beschränkten Anzahl Billette. «Das Regime will den Frauen gegenüber keine Zugeständnisse machen», sagt Abed. «Sie fürchten, wir könnten danach nur noch mehr fordern.» Sara Abed ist nicht ihr richtiger Name. Als «Open Stadiums» twittert sie auf Englisch über ihre Kampagne, sie redet mit ausländischen Medien, um Druck auf die Regierung auszuüben. Damit geht Abed, die in Teheran lebt, ein hohes Risiko ein.
Es ist vierzig Jahre her, seit eine Revolution die Diktatur des Schahs stürzte und das radikalislamische Regime an die Macht kam, das den Iran bis heute beherrscht. Doch genauso alt wie dieses Regime ist der Widerstand der Frauen dagegen. «Die Frauenrechtsaktivistinnen waren die Ersten, die vor dem Regime gewarnt hatten», sagt Abed. Sie demonstrierten nicht nur gegen den obligatorischen Hidschab, sondern auch gegen das islamische Familienrecht oder, wie Abed, für den gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Anlässen wie einem Fussballspiel. Die Frauenbewegung, sagt sie, habe eine zentrale Rolle im Widerstand: indem sie das Bewusstsein der Leute für ihre Rechte schärfe.
«Viele Revolutionen haben wenig erreicht, weil sie die Köpfe der Menschen nicht verändert haben», sagt Abed. Sie erinnert sich, wie sie 2011 mit einer Freundin in Ägypten sprach und sie warnte: Die Revolte dort erinnere sie an jene im Iran dreissig Jahre zuvor. Und, zumindest politisch, hatte sie nicht unrecht: Denn das Regime von Abdel Fattah al-Sisi, das sich 2013 nur zwei Jahre nach dem Sturz Hosni Mubaraks an die Macht putschte, ist brutaler, als es der alte Diktator, der gerade verstorben ist, je war.
Dennoch hat sich in Ägypten etwas verändert. Aktivistinnen berichten, dass die Frauen durch die Erfahrung der Revolution selbstsicherer geworden seien und sich jetzt entschiedener gegen die beinahe täglichen Belästigungen wehrten. Dasselbe beschreibt auch die Libanesin Alia Awada.
«Auch wenn das Regime noch immer an der Macht ist: Was wir erreicht haben, ist die Veränderung innerhalb der Gesellschaft», sagt Sara Abed. Am Anfang hätten viele gedacht, hier wollten einfach ein paar Fussballfans Zutritt zu den Spielen. Dabei gehe es um etwas Grundsätzliches: dass Frauen durch das Verbot vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind. «Heute versteht jeder, warum wir dieses Tabu brechen wollen. Das allein ist eine Riesenerrungenschaft. Es ist eine Lektion darüber, wie man eine Gesellschaft verändert, selbst wenn alles verboten ist.»