EU–Türkei: Zynismus am Zaun

Nr. 10 –

Weil der türkische Präsident Erdogan sich in Syrien verzettelt hat, hat er den 2016 mit der EU vereinbarten «Flüchtlingsdeal» gebrochen. Die humanitären Folgen sind verheerend.

Es sind genau die Bilder, vor denen sich Europa fürchtet, die türkische Medien am Wochenende wirksam streuten: Auf Videos war zu sehen, wie Menschen in türkischen Städten zu Bussen rannten, die sie an die griechische Grenze fahren würden. Der Staatssender TRT zeigte Landkarten, auf denen Routen in bestimmte europäische Länder markiert waren. Nach jahrelangen Drohungen hat Präsident Recep Tayyip Erdogan die Situation eskalieren lassen. «Wir haben die Tore geöffnet», sagte er – und schürte gezielt Ängste: «Hunderttausende haben sich auf den Weg nach Europa gemacht. Bald werden es Millionen sein.»

Erdogans Kalkül ist zynisch: Menschenhandel auf dem Rücken der Geflüchteten. Es geht ihm dabei nicht bloss um finanzielle Interessen. Ebenso sehr braucht er die Unterstützung der EU und der USA für seine Militäroperation in Syrien. Um von seiner sinkenden Popularität und der anhaltenden Wirtschaftskrise abzulenken, schickte er Truppen nach Idlib, was nun eine heftige Reaktion des syrischen Diktators Baschar al-Assad und von dessen Verbündetem, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, provozierte. Das überfordert die militärischen Kräfte der Türkei. Weil sich der türkische Präsident in Syrien verzettelt hat, hat er nun den 2016 mit der EU vereinbarten «Flüchtlingsdeal» gebrochen.

Entsprechend sucht Erdogan jetzt die Unterstützung der Nato, der er jahrelang trotzig die kalte Schulter gezeigt hatte. Weil Ankaras Einmarsch in Syrien die humanitäre Katastrophe verschärfte, warten bei Idlib Hunderttausende Menschen darauf, in die Türkei einreisen zu können. Die derzeit kursierenden Bilder von Familien hinter Stacheldrahtzäunen an der griechisch-türkischen Grenze machen augenfällig, dass der Deal mit der Türkei nur eine Atempause bot. Die EU hat sie nicht genutzt, um eine nachhaltige Lösung für die Flüchtlingsfrage zu finden oder eine kohärente Syrienpolitik zu betreiben.

Darum gleicht das in Europa nun überall erklingende «Wir lassen uns nicht erpressen»-Geschrei bloss billiger Empörung. Die Türkei hat 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, die solidarisch integriert wurden. Hinzu kommen Hunderttausende Menschen aus Pakistan und Afghanistan, die keine staatliche Unterstützung erhalten.

Angesichts der Wirtschaftskrise kippte 2019 die Stimmung im Land – und Ankara begann, SyrerInnen teils gewaltsam in ihr Heimatland auszuschaffen. Nicht nur, dass Europa die Türkei und die Flüchtlinge allein gelassen hat; auch unter muslimischen Ländern hält sich die Solidarität in Grenzen. So beuten die Golfstaaten ihre Glaubensbrüder und -schwestern lieber aus, statt ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Deswegen ist Erdogans Forderung nach einer Lastenteilung legitim. Nur seine Mittel sind es nicht.

Nun rüstet die EU auf, weil 13 000 Menschen an ihrer Grenze stehen. Die Losung «Grenzen schützen» mündet allerdings in die brutale Abwehr von Schutzsuchenden. Sollen die TürkInnen sich doch alleine um die Probleme kümmern, denkt man sich insgeheim in Brüssel. Eine Rhetorik, hinter der sich Europas Konservative und Liberale verstecken. Ein kurzsichtiges Verhalten, das sich nun rächt.

Denn Fluchtursachen lassen sich nicht durch Wegschauen beseitigen. So half die EU letztlich mit, dass Erdogan die Flüchtlinge nun instrumentalisieren konnte. Weil das Wegschauen jetzt aber nicht mehr funktioniert, sind Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und weitere EU-Spitzen am Dienstag an die griechisch-türkische Grenze geflogen. Ihr Besuch sollte ein Zeichen der europäischen Solidarität mit Griechenland sein – wohlgemerkt nicht mit den Geflüchteten.

Aber gefragt wäre jetzt ein europäisches Krisenmanagement – unter Beteiligung der Schweiz. Nicht Gipfeltreffen, sondern eine unbürokratische Aufnahme jener, die zurzeit im Niemandsland stranden. So würde Erdogans Kalkül ins Leere laufen. Und Europa sich dem eigenen Bekenntnis zur Menschlichkeit wieder annähern.