Türkei: Kaskade der Gewalt gegen Syrer:innen
Nach einer Welle von Ausschreitungen gegen Geflüchtete gerät Präsident Erdoğan unter weiteren Druck. Nun stellt er ein Ende des Militäreinsatzes in Nordostsyrien in Aussicht.
Recep Tayyip Erdoğan sucht die Aussöhnung mit Baschar al-Assad. Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt soll ein Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten und dem syrischen Diktator stattfinden. Erdoğan bekräftigt, die Beziehungen zur syrischen Regierung wiederherstellen zu wollen. Er sei jederzeit für Gespräche mit Assad bereit, und er suche den Frieden.
Leidtragende dieser Annäherung sind die syrischen Geflüchteten in der Türkei. Erdoğans wichtigstes Ziel sind Verhandlungen mit Assad über deren Rückkehr. Ihre Lebensbedingungen in der Türkei haben sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Syrer:innen sind dort staatlicher Willkür ausgesetzt, Berichten zufolge werden sie von der türkischen Polizei schikaniert. So führe diese etwa wahllos Verhaftungen durch. Die schon angeheizte Stimmung spitzte sich in den vergangenen Wochen zu. Anfang Juli kam es in einigen Provinzen zu pogromartigen Ausschreitungen gegen syrische Geflüchtete.
Nachdem Medien berichtet hatten, dass im zentraltürkischen Kayseri ein Syrer ein syrisches Mädchen sexuell belästigt haben soll, forderten Demonstrant:innen eine Abschiebung der Geflüchteten; in der Stadt wurden Geschäfte von Syrer:innen in Brand gesetzt, wie auf Videos zu sehen ist, die in den sozialen Medien geteilt wurden. Die Geflüchteten suchten teils auf Polizeistationen Schutz, allerdings sei ihnen dort nicht geholfen worden, vielmehr sind sie laut Medienberichten von Beamten zur Ausreise aufgefordert worden.
Als «Gäste» willkommen geheissen
Vergleichbares spielte sich in anderen Städten ab, etwa in Gaziantep und in Bursa, wo Geschäfte und Häuser von Syrer:innen mit Steinen beworfen wurden. Zahlreiche Betroffene erzählen, dass sie nach den Ereignissen Mieterhöhungen erhalten hätten. Ihre Vermieter wüssten, dass sie angesichts der angespannten Situation woanders kaum eine Wohnung fänden. Syrer:innen trauen sich laut Medienberichten oftmals nicht mehr, zur Arbeit oder in die Schule zu gehen. Die Ausschreitungen sind ein neuer Höhepunkt antisyrischer Ressentiments. In den vergangenen Jahren gab es regelmässig Angriffe auf Syrer:innen, allerdings waren sie nie so heftig wie jetzt.
Erdoğan verhält sich bei diesem Thema ungewohnt zurückhaltend. Nach den Ausschreitungen in Kayseri sagte er lediglich, dass mit Fremdenfeindlichkeit nichts zu erreichen sei. Seine Wortkargheit mag auch daran liegen, dass ihn viele Türk:innen dafür verantwortlich machen, dass so viele Geflüchtete im Land leben. Die oppositionelle CHP gab ihm denn auch die Schuld für die Ausschreitungen; sie seien das Resultat seiner Flüchtlingspolitik. Gemäss Zahlen der EU leben rund 4 Millionen Geflüchtete in der Türkei, davon sind 3,6 Millionen Syrer:innen.
Erdoğan und Assad pflegten einst enge Beziehungen und machten 2008 sogar mit ihren Familien gemeinsam Ferien in der Südtürkei. Nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 unterstützte die Türkei jedoch in dem Konflikt lange Zeit bewaffnete Oppositionsgruppen im Nordwesten Syriens, deren Ziel es ist, Assad zu stürzen. Die Geflüchteten aus dem Nachbarland hiess sie als «Gäste» willkommen. Vor allem seit der anhaltenden Wirtschaftskrise müssen Syrer:innen jedoch als Sündenböcke für politische Fehlentwicklungen herhalten. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 war es die sozialdemokratische CHP, die rigoros gegen die Migrant:innen hetzte und versprach, nach einem Wahlsieg die Syrer:innen abzuschieben.
Kein Vorbeikommen an Assad
Dabei werden bereits seit Jahren Syrer:innen aus der Türkei abgeschoben. Erst im März kritisierte dies die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Die türkischen Behörden hätten seit 2017 Tausende von syrischen Geflüchteten abgeschoben. Laut HRW werden viele dazu gezwungen, «freiwillig» Ausreiseformulare zu unterschreiben und das Land in Richtung Tal Abjad zu verlassen, eines von der Türkei besetzten Grenzbezirks in Nordsyrien, wo die humanitären Bedingungen katastrophal seien.
Im Mai 2022 kündigte Erdoğan an, in den von der türkischen Armee besetzten Gebieten Nordsyriens Wohnungen für bis zu eine Million in der Türkei lebende Geflüchtete bauen zu lassen. Es handelt sich dabei laut HRW um Gebiete, in denen lokale bewaffnete Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden, schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Auch wegen des verheerenden Erdbebens im türkisch-syrischen Grenzgebiet im Februar 2023 ist dieses Projekt indessen ins Stocken geraten.
Erdoğan weiss, dass er ohne Assad keine Lösung erzielen kann. Bisher hatte der syrische Diktator direkte Gespräche mit ihm abgelehnt, und er fordert seit langem eine Beendigung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien. Seit 2016 geht das türkische Militär auch gegen die kurdisch kontrollierte Region in Nordostsyrien vor. Doch die kostspieligen militärischen Einsätze und Verluste türkischer Soldaten rufen in der türkischen Gesellschaft zunehmend Kritik hervor. Am 15. Juli kündigte Erdoğan nun an, den Militäreinsatz in Syrien beenden zu wollen. Er scheint verstanden zu haben, dass seine Syrienpolitik gescheitert ist.