Pogrome in Delhi: In Schutt und Asche
Nach den antimuslimischen Ausschreitungen, bei denen vor zwei Wochen mindestens 47 Menschen starben und viele vertrieben wurden, kann in der indischen Hauptstadt von Normalität keine Rede sein. Die staatliche Hilfe für die Betroffenen rollt nur langsam an.
«Wir schlafen tagsüber und sind nachts wach», sagt Friedensaktivist Ovais Sultan Khan, der im Nordosten der indischen Hauptstadt wohnt. Dabei mache es keinen Unterschied, ob man Hindu sei oder Muslima. Viele sind traumatisiert, seit im zum Grossraum Delhi gehörenden Jaffrabad vorletztes Wochenende Unruhen begannen. Über drei Tage hielt die Gewalt an – ausgelöst wohl durch eine Sitzblockade gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz (CAA) und die darauffolgenden Proteste.
Einige DemonstrantInnen hatten versucht, kurz vor dem Besuch von US-Präsident Donald Trump eine Strassenblockade zu errichten. Allerdings suchten sie sich dafür just eine Gegend aus, in der die hindunationalistische Regierungspartei BJP seit der Regionalwahl vor ein paar Wochen gestärkt ist. «Wir wussten, dass es zu Gewalt kommen würde, wenn so etwas passiert», sagt der dreissgjährige Khan am Telefon. «Deshalb haben wir versucht, die Blockade zu verhindern.» Vergeblich: Gegen die Eskalation konnten sie an jenem Sonntag in Jaffrabad nichts tun.
BJP-PolitikerInnen sahen die Sitzblockade als Provokation an und drohten mit einer Räumung innert drei Tagen. Bald nach dieser Ankündigung geriet die Situation ausser Kontrolle.
Menschenleere Strassen
Die Rede ist von den schlimmsten Ausschreitungen in Delhi seit Jahrzehnten. Mehrheitlich muslimische Quartiere wurden von Männern angegriffen, die Parolen wie «Indien den Hindus» gerufen haben sollen. Die Pogrome hinterliessen zerstörte Wohnhäuser und geplünderte Geschäfte, auch Moscheen und Schulen wurden in Brand gesetzt. Mindestens 47 Menschen – Hindus und MuslimInnen – starben, 200 weitere wurden verletzt.
«Die Menschen haben ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Freunde verloren», sagt Khan. Seither sind viele aus Angst vor weiterer Gewalt geflohen. Unterdessen werden immer noch Menschen vermisst. Über 500 Geschäfte und Häuser seien betroffen, schätzt Student Varun Choudhary, der drei Kilometer von jener Metrostation in Jaffrabad entfernt wohnt, wo alles seinen Anfang nahm.
Das Haus seiner Familie, die Hindus sind, blieb verschont. «Vor allem für die muslimische Minderheit hier war das, was passiert ist, verheerend», sagt der 25-Jährige. Seitdem sind die Strassen leer, die Geschäfte geschlossen, weit und breit keine StrassenhändlerInnen zu sehen. Viele, die in dem Gebiet sonst arbeiten, kommen aus dem angrenzenden Bundesstaat Uttar Pradesh. Auch sie haben die Gegend verlassen.
Premierminister Narendra Modi meldete sich erst zu den Ausschreitungen zu Wort, nachdem Trump sich von seinem ersten Staatsbesuch in Indien bereits verabschiedet hatte. «Ich appelliere an meine Schwestern und Brüder, jederzeit den Frieden zu wahren», twitterte er. KritikerInnen sehen in den Vorfällen Parallelen zu den antimuslimischen Pogromen im westindischen Gujarat vor achtzehn Jahren, wo Modi damals Ministerpräsident war. Tausend Menschen starben bei den Ausschreitungen, die Polizei hatte gar nicht oder erst sehr spät eingegriffen.
Auch diesmal werden polizeiliche Versäumnisse beklagt. Die Polizei untersteht dem Innenminister der Zentralregierung, Amit Shah von der BJP. Die Vorsitzende der oppositionellen Kongresspartei, Sonia Gandhi, fordert deshalb dessen Rücktritt. Inzwischen haben die Behörden über tausend Personen im Zusammenhang mit der Gewalt festgenommen. Unterstützung für die Betroffenen rollt nur langsam an. Seit dieser Woche gibt es immerhin ein Camp, in dem Vertriebene Zuflucht finden.
Wachsende Ressentiments
Über Social Media versuchen Freiwillige derweil, Hilfe zu organisieren. Bisher würden Privatpersonen, Gemeindeorganisationen und NGOs helfen, wo es möglich sei, sagt Friedensaktivist Khan. «Aber was bringen uns eine gute Ausbildung, kostenlose Wasserversorgung und subventionierter Strom, wenn wir nicht sicher sind?» Khans Kritik richtet sich an den Regierungschef von Delhi, Arvind Kejriwal von der Oppositionspartei AAP, der bisher ebenfalls zögert zu handeln.
Seit Dezember sorgen die Proteste rund um das Staatsbürgerschaftsgesetz für Spannungen zwischen BefürworterInnen, die meist der BJP nahestehen, und ihren GegnerInnen, die das Gesetz als verfassungswidrig ansehen. Das CAA soll die Einbürgerung von verfolgten religiösen Minderheiten aus Pakistan, Afghanistan und Bangladesch vereinfachen. Es gilt allerdings nicht für MuslimInnen, die in jenen Ländern die Mehrheit stellen.
Khan befürchtet, dass die Polarisierung zwischen Hindus und MuslimInnen weiter zunehmen wird. Seit der Wiederwahl von Modis BJP verschärft seine Regierung die Situation. Zuerst wurden Teile des muslimischen Scheidungsrechts verboten, danach folgte die Streichung der Teilautonomie des muslimisch geprägten Kaschmir. Die Idee des Staatsbürgerschaftsgesetzes fusst ebenfalls auf dem Parteimanifest. Seitdem sind die Ressentiments gegen MuslimInnen gewachsen. HardlinerInnen beider Lager dürften sich gestärkt fühlen.