Quarantäne: Ein Land schliesst sich ein
Wer mit am Coronavirus erkrankten Personen in Kontakt kommt, muss in Quarantäne. Schweizweit dürften schon bald Tausende zu Hause isoliert werden. Noch wird zu wenig beachtet, was das mit den Menschen macht.
Hanna Weyer (Name geändert) hat ein Fenster gefunden, durch das sie aus ihrem Gefängnis in die Welt blicken kann. Seit einer Woche und einem Coronafall in der Kita ihres Sohnes lebt Weyer in amtlich angeordneter Isolation. Vom Alltag in der Wohnung in Riehen BS erzählt sie auf Instagram. Es gehe ihr gut, die Risiken seien klein, sie backe jetzt halt viel.
Wie Weyer ergeht es derzeit schweizweit zahlreichen Personen. Das Bundesamt für Gesundheit sprach am Mittwoch von aktuell 300 Fällen. Aber alleine in Basel-Stadt wurden Stand Anfang Woche 221 Personen zu Hause festgesetzt. Und mit jedem bestätigten Fall werden es mehr. Gut möglich, dass schon bald Tausende Menschen, die Kontakt mit Infizierten hatten, in ihrer Wohnung ausharren müssen.
Paranoia in der Waschküche
Rechtsgrundlage für diese Eingriffe in die persönliche Freiheit ist das Epidemiengesetz. Wie genau es umgesetzt wird, ist den Kantonen überlassen. In Basel-Stadt etwa bedeutet Quarantäne, dass die Betroffenen vierzehn Tage lang zu Hause bleiben müssen. Täglich melden sich die Behörden, um die Symptome abzufragen. Lebensmittel sollen von Angehörigen vor die Haustür geliefert werden. Ein Verlassen der eigenen vier Wände ist nur in Ausnahmefällen erlaubt und auch dann nur mit Schutzmaske. Leben mehrere Personen im gleichen Haushalt, soll man sich in ein Zimmer zurückziehen und dieses nur mit Maske verlassen.
Die «Absonderung» hat starke psychologische Effekte. Sie suggeriert der Bevölkerung, das Virus werde von ihr ferngehalten. Für jene, die mit dem Virus weggesperrt werden, ist der Effekt indes ein anderer.
Hanna Weyers Stimmung ist in den letzten Tagen gekippt, obwohl keine Symptome aufgetreten sind. Auf Instagram berichtet sie, von einer Nachbarin bei den Behörden angeschwärzt worden zu sein, weil sie einmal ohne Schutzmaske in die Waschküche ging. «Das macht mir Angst», sagt sie. Sie fragt sich: «Geht das so weiter, wenn die Quarantäne vorbei ist?» Weyer bittet um Verständnis. Es sei nicht einfach, eingesperrt zu sein mit dem Kind. «Er will unbedingt raus, Trotti fahren, aber er darf nicht … Ich weiss, dass es Schlimmeres gibt auf der Welt, aber uns geht es schlecht.»
Keine Antwort vom Bund
Fachleute kennen die von Weyer beschriebene Entwicklung gut. Dass die Zeit sich dehnt, die Wände immer näher rücken und die ständige Nähe Konflikte ausbrechen lässt. Doch die psychologische Dimension der Epidemiebekämpfung hat bislang kaum interessiert.
Urs Braun ist Notfallpsychologe in Zug und Mitglied der ständigen Fachgruppe für die psychologische Nothilfe. Vor vier Wochen, als in China Städte abgeriegelt wurden und sich eine globale Ausbreitung von Covid-19 ankündigte, setzte die Gruppe ein Schreiben auf, das an das Bundesamt für Gesundheit gerichtet war.
«Wir hatten uns Gedanken darüber gemacht, was die psychischen Folgen der Epidemie und der Gegenmassnahmen sein könnten», sagt Braun. Die Fachgruppe wollte dem Bund mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der Brief blieb unbeantwortet.
Die fehlende Reaktion hat ihn nicht überrascht: «Alle Ressourcen werden jetzt darauf verwendet, die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen. Das ergibt auch Sinn. Was mit der Psyche der Betroffenen passiert, danach wird in dieser Phase der Ereignisbewältigung nicht gefragt.» Er kenne dieses Muster von früheren Katastrophen: «Wenn das Blaulicht abgestellt ist und die Trümmer weggeräumt sind, erinnert man sich daran, dass die Menschen eine Psyche haben.»
Eine Auswertung Dutzender Studien in der Fachzeitschrift «The Lancet» legt nahe, dass das Thema unterschätzt wird. ForscherInnen des Londoner King’s College kommen zum Schluss, dass die psychischen Folgen der Quarantäne «weitreichend und bedeutsam sind und lange andauern können». Eine Einzelstudie aus Toronto, die nach der Sars-Epidemie 2004 entstand, stellte fest, dass fast ein Drittel der Befragten aufgrund der Quarantäne eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelten.
Der Angst ausgeliefert
Notfallpsychologe Braun erstaunt der Befund nicht. In Quarantäne sei man zum Nichtstun verdammt, möglicherweise eingesperrt in einen Raum, seinen Gedanken und seiner Angst ausgeliefert. «Dieser Mix ist ein maximaler Stressor», sagt Braun.
Das Resultat der Studie müsse aber auch relativiert werden: Solange die Personen in der Quarantäne die Massnahme nachvollziehen könnten, als sinnvoll wahrnähmen und sich nicht alleingelassen fühlten, halte sich die Belastung in Grenzen.
Die Londoner ForscherInnen stiessen noch auf etwas anderes: Ist den isolierten Menschen bewusst, dass sie ihre Mitmenschen vor einer Infektion bewahren, kommen sie besser mit ihrer Situation klar. Der Gedanke der Solidarität hat sich als äusserst heilsam für die Psyche erwiesen.