Kost und Logis: Wer gehört wem?
Karin Hoffsten über innerfamiliäre Irrtümer
«Ich gehöre mir», sagte kürzlich ein kleines Mädchen im Bus zu seiner Mutter und strahlte: «Alle Menschen gehören sich.» «Hm», meinte die Mutter, «gehörst du denn nicht mir? Oder ich dir?» «Nein», so die Kleine, « – oder irgendwie doch, weil du meine Mama bist.» Sie war fünf oder sechs Jahre alt. «Die studiert mal Philosophie», sagte ich. «Oder Psychologie!», lachte die Mutter. «Unglaublich», murmelte ein Fahrgast, «Fast beängstigend», der Chauffeur.
Dass Kinder nicht ihr Eigentum sind, scheint vielen Eltern nicht bewusst zu sein. Noch konnte sich die Schweiz nicht dazu entschliessen, ein elterliches Gewaltverbot gesetzlich zu verankern; die Ohrfeige zur rechten Zeit, die noch keinem geschadet hat, geistert weiter durch geschönte Erinnerungen.
Die Kinderpsychologin Heidi Simoni sagte kürzlich, im Kinderspital nähmen die Verdachtsfälle auf Kindesmisshandlung zu, auch das lebensgefährliche Schütteln von Babys werde wieder häufiger. Die einst erfolgreiche Aufklärungskampagne erreiche heutige Eltern nicht mehr. Unbestritten ist jedoch, dass die meisten Eltern nur rabiat werden, wenn eine schwierige Situation sie überfordert.
Um diese Mütter und Väter zu entlasten, gibt es Pflegefamilien, in denen Kinder aus bedrohlichen Verhältnissen die Ruhe finden können, die sie zu ihrer Entwicklung brauchen. Einfach ist das weder für die eine noch für die andere Seite.
Die leiblichen Eltern kämpfen häufig mit dem Gefühl, versagt zu haben. Und Pflegeeltern müssen damit umgehen, dass leibliche Mütter und Väter weiterhin wichtig, aber vielleicht auch unzuverlässig bleiben. Wie die Mutter, die ihrem Sohn am Telefon immer wieder verspricht, bald zu kommen, zur verabredeten Zeit jedoch nie erscheint. Oder der Vater, der die zugestandene Zeit mit dem Töchterchen rauchend und biertrinkend vor dem Fernseher verbringt.
Ich kenne eine Familie, die seit vielen Jahren neben den eigenen Kindern auch Pflegekinder aufnimmt. Aus der Ferne verfolge ich mit, wie dort Kleinkinder zu SchülerInnen und jungen Erwachsenen werden, die dann bei den Kleineren mithelfen.
Vor rund zehn Jahren kamen zwei Brüder dazu, ein Säugling und ein circa Fünfjähriger. Vor allem dem Kleinen ging es gar nicht gut, man vermutete, er sei von seinen Eltern geschüttelt worden, heute ist er körperlich und geistig behindert.
Kürzlich war ich zu Besuch. Auch der Kleine ist heute gross, ein wunderhübscher Knabe, der mir lange in die Augen sah, meine Hände hielt und mir dabei erzählte, was nur er verstand. Wenn ich später beim Spielen die Metallkügelchen, die er rasch hintereinander über den Tisch rollte, nicht erwischte, lachte er entzückt. Dann kam sein Bruder, jetzt ein hochgewachsener Teenager, und nahm den kleineren in den Arm – mit einer Fürsorglichkeit, wie sie mir noch selten begegnet ist. Ich glaube, in dem Moment waren alle ein bisschen glücklich.
Karin Hoffsten hatte ihr Leben lang weder leibliche noch Pflegekinder. Bedauert hat sie das nie. Kinder mag sie trotzdem.