Black Germans: Schauen, wie das ist, deutsch zu sein
Man nannte sie «Besatzungskinder» oder «Brown Babies»: die Kinder weisser deutscher Mütter und schwarzer, meist US-amerikanischer Väter, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Besatzungsmächte in Deutschland stationiert waren. Viele wurden zur Adoption in die USA gegeben. In den USA trafen sich einige der mittlerweile erwachsen Gewordenen ein erstes Mal.
Dolores Becker steht auf, als die Vorträge in der vornehmen New Hampshire Avenue Nummer 1607 beendet sind. Dolores Becker, die mit fünf Jahren aus Deutschland in die USA adoptiert wurde, «ich erinnere mich nur noch, dass ich auf dem Schiff war und dass mir schlecht war», und die seither ihr Geburtsland nicht mehr betreten hat. Dolores Becker, die ihren Namen in Anlehnung an die mexikanische Schauspielerin Dolores del Río bekam und die oft für eine Latina gehalten wird. Im weissen Sommerkleid, die dunklen Locken flüchtig hochgesteckt, steht sie jetzt auf und sagt: «Ich suche meine Mutter, und ich möchte von Ihnen wissen: Wohin kann ich gehen, um meine Mutter zu finden? Ich habe alles, ihren Namen, ich weiss, wann sie geboren ist, wo sie geboren ist, ich habe alle Unterlagen, aber ich frage Sie: Wie kann ich sie jetzt finden?»
Es ist still im Saal des Deutschen Historischen Instituts in Washington. Nur die Klimaanlage surrt. Dolores Becker macht eine verlorene Handbewegung und setzt sich zögernd wieder hin. Becker, so hiess sie bei ihrer Geburt, ihren heutigen Namen möchte sie nicht öffentlich machen. Wie sie wurden die meisten Anwesenden von AfroamerikanerInnen adoptiert. Sie alle gehören zu einer Gruppe von Deutschen und ehemals Deutschen, die, je nachdem, auf welcher Seite des Atlantiks man sich befand, «Brown Babies» (USA) oder «Besatzungskinder» (Deutschland) genannt wurden. Sie sind Kinder weisser deutscher Mütter und schwarzer, meist US-amerikanischer Väter, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Besatzungsmächte in Deutschland stationiert waren.
An diesem schwülen Tag im August treffen sich ein paar Dutzend jener mittlerweile in die Jahre gekommenen Kinder zum ersten Mal. Ein Verein wurde in Amerika gegründet, «Black Germans» nennen sie sich.
Das Treffen schlägt ein oft überblättertes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte auf. Das Kapitel beginnt 1946 mit der Geburt des ersten Jahrgangs der sogenannten Besatzungskinder. Schon bald darauf sind sie Gesprächsstoff in ganz Deutschland – in Schlagerliedern, Groschenheftchen, Kinofilmen, aber auch im Bundestag und akademischen Kreisen. Und Deutschland stellt sich vor allem eine Frage: Wohin mit den schwarzen Kindern? Die weissen Besatzungskinder, bis 1960 wurden 85 000 gezählt, wurden gelegentlich wie alle nichtehelich geborenen Kinder zu der Zeit als Kostenstelle für den Sozialstaat thematisiert. Doch um die schwarzen Kinder, bis 1960 weniger als 5000, entspannen sich geradezu abenteuerliche Diskussionen.
Zum Beispiel in einer Bundestagsdebatte im Jahr 1952. «Eine besondere Gruppe unter den Besatzungskindern bilden die 3093 Negermischlinge, die ein menschliches und rassisches Problem besonderer Art darstellen.» So fasste die Abgeordnete Luise Rehling den Stand der Debatte zusammen und fuhr fort: «Die verantwortlichen Stellen der freien und behördlichen Jugendpflege haben sich bereits seit Jahren Gedanken über das Schicksal dieser Mischlingskinder gemacht, denen schon allein die klimatischen Bedingungen in unserem Lande nicht gemäss sind. Man hat erwogen, ob es nicht besser für sie sei, wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter verbrächte.»
Folgerichtig begann Deutschland damit, ausländische, vorzugsweise US-amerikanische Adoptiveltern für die deutschen Kinder zu suchen.
Vier Monate täglich im Archiv
Dolores Becker, die nun 55 und US-Amerikanerin ist, hat ihre Frage, «wie kann ich meine Mutter finden», an eine deutsche Historikerin gestellt, die gerade ihren Vortrag beendet hat. Yara-Colette Lemke Muniz de Faria hat das Standardwerk über diese Epoche geschrieben, «Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung: afrodeutsche ‹Besatzungskinder› im Nachkriegsdeutschland». An diesem Augusttag in Washington stellte sie eine noch unveröffentlichte Untersuchung von rund 200 Adoptionsakten vor.
Allein um diese Anzahl zu finden – einen Bruchteil aller Fälle – war sie vier Monate lang täglich in den riesigen Keller der Social Welfare History Archives hinuntergestiegen, der Archive für soziale Wohlfahrtsgeschichte in Minnesota. Dort hatte sie acht Stunden am Tag beim Schein einer nackten Glühbirne Tausende Akten des Internationalen Sozialdienstes durchsucht, der weltweit grössten Netzwerkorganisation für internationale Adoption. Becker horcht auf, als Lemke Muniz de Faria über eines ihrer Untersuchungsergebnisse spricht. In einer Vielzahl der Fälle, sagt die Historikern, bemühten sich die US-Väter darum, ihre Kinder zu sich zu holen. Das bedeutete nach damaligem Recht, dass sie ihre eigenen Kinder adoptieren mussten.
Wenige Tage später sitzt Dolores Becker zu Hause an ihrem Esstisch, vor ihr die Notariatsurkunden ihrer Adoption. Eine auf Deutsch, eine auf Englisch, zwei vergilbte, brüchige Akten. «Ich habe erst auf der Konferenz erfahren, dass mein Vater mich adoptiert haben muss. Ich wusste nur, dass er mich geholt hat, zusammen mit seiner zweiten Ehefrau.» Nun will sie noch einmal nachschauen. Ja, hier steht es, im letzten Satz: «Die unverehelichte Haushaltsgehilfin Valentine Becker hat am 26. Mai 1956 in Bad Nauheim das Kind Dolores Becker unehelich zur Welt gebracht. Die Kindesmutter ist am 7. August 1929 in Bessabotowka, Russland, geboren und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und evangelische Religion. Durch Urkunde Nr. 6 / 1960 des Notars Dr. Pfeffer in Bad Nauheim hat die Kindesmutter ihre unwiderrufliche Einwilligung zur Adoption ihres Kindes durch die amerikanischen Eheleute erteilt.»
Dolores Becker hat sich ihr Leben im Südosten Washingtons eingerichtet. In einem schwarzen Viertel – «schwarze Mittelschicht», das ist ihr wichtig – bewohnt sie mit ihrem Ehemann ein eigenes Häuschen. Um Geld zu verdienen, arbeitet sie als Barfrau in zwei feinen Hotels, aber am liebsten ist sie zu Hause. Ihr Heim ist ihre Festung, ihr Kokon, in den sie liebevoll all das hineinsortiert hat, was ihr etwas bedeutet.
«Dann laufe ich einfach weiter»
Andenken an ihre Kindheit in einem kleinen Südstaatenort gehören nicht dazu. «Ich denke nie an meine Kindheit, sie war nicht schön. Ich halte mich damit nicht auf.» Viel Arbeit im Haushalt, eine ablehnende Adoptivmutter, ein gewalttätiger Vater, daran erinnert sie sich. Wenn sie nicht mit ihren jüngeren Brüdern Badminton im Hof spielte, dann lief sie. «Ich bin immer gelaufen, ich bin eine Läuferin. Manchmal will ich irgendwohin, und dann laufe ich einfach weiter.» Bald lief sie von zu Hause fort, zu einer Tante zuerst und schliesslich nach Washington. Nein, ihre Kindheit hat keinen Platz in diesem Haus.
An der Wand neben dem Esstisch hängt gross ein gerahmtes Foto von Schloss Neuschwanstein. Überall im Haus kleben selbst gemachte Zettel mit deutschen Begriffen. In der Besteckschublade «Die Schublade», im Geschirrschrank «Der Suppenteller».
Dieses Jahr wollte sie zum ersten Mal nach Deutschland fahren, um ihre Mutter zu suchen, um Deutschland kennenzulernen. Doch die Krankheit ihrer Schwiegermutter kam dazwischen. Eine Wand im Wohnzimmer ist noch mit Worten bedeckt, die sie für die Reise lernen wollte. «Ich verstehe nicht», «Ankunft/Abfahrt», «erste/zweite Klasse». «Ich habe zu Reggie, meinem Mann, gesagt», sagt sie, «ich will hauptsächlich nach Deutschland, um die Kultur kennenzulernen, Leute zu beobachten. Ich will eigentlich nicht viel Zeit im Museum verbringen, es reicht, wenn wir in eines gehen und natürlich ins Schloss. Aber vor allem will ich die Leute sehen, in Cafés sitzen und nur schauen. Vor allem das will ich: schauen, wie das ist, deutsch zu sein.»
Als Dolores Becker kurz darauf in den Hinterhof geht, um ihre Tomaten zu giessen, wackelt plötzlich die Erde. Nippes fällt von den Regalen. Ein Erdbeben hebt Beckers Welt kurz aus den Fugen. Das Epizentrum des Bebens – 5,8 auf der Richterskala – ist 150 Kilometer entfernt, in Washington entsteht wenig Schaden. Doch Beckers selbstbewusste, kontrollierte Fassade ist aufgeplatzt. Ihre Festung könnte innerhalb weniger Sekunden zu Staub zerfallen, diese Erschütterung schreit aus ihrem Blick.
Erst seit ein paar Jahren will sie ihre Mutter finden. «Seit ich die fünfzig überschritten habe, denke ich über viele Dinge nach, die mir vorher nichts bedeutet haben.» Die Konferenz in Washington, sagt sie, habe ihr gutgetan. «Ich spüre eine gewisse Affinität zu Leuten, die so sind wie ich.» So wie sie: mit einem weissen und einem schwarzen Elternteil. Mit einer Geschichte in Deutschland und einer in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Mit 25 ins gelobte Land
So wie sie ist auch Lisa Hein Dixon, geboren 1946 in Töging am Inn. Sie wäre gern nach Washington gekommen, doch eine Krankheit hindert die zierliche Frau derzeit am Reisen. Lisa Dixon gehört zur grössten Gruppe der afrodeutschen Besatzungskinder, denjenigen, die in Deutschland aufwuchsen. In Dixons Fall hiess das: in einer Pflegefamilie und im Kinderheim. Jeden Sonntag nach der Kirche durfte sie gemeinsam mit ihrer weissen Halbschwester für einige Stunden die Mutter besuchen. Die Mädchen konnten nicht bei der Mutter wohnen, weil es für alleinstehende Mütter damals nahezu unmöglich war, eine Wohnung zu bekommen. So schlug sich die Mutter als Hausangestellte mit Kost und Logis durch. In die USA kam Dixon erst mit 25, heiratete «sozusagen den erstbesten Amerikaner», nur um aus Deutschland wegzukommen. Ins gelobte Amerika, in das Land, das ihr seit der Kindheit als der einzig richtige Ort für solche wie sie beschrieben worden war – neben Afrika und Brasilien.
«Mammies für die Negerlein»
Jetzt, wenige Tage nach der Washingtoner Konferenz, steht Lisa Dixon im Arbeitszimmer ihres Apartments in Atlanta, der Hauptstadt des Bundesstaats Georgia. Sie erklärt die gerahmten Bilder an der Wand. Eines zeigt sie mit Helmut Schmidt bei einem Empfang im Bundesstaat South Carolina im Jahr 1979. Da hatte sie sich bereits hochgearbeitet zur Verwaltungsassistentin im Stab des dortigen Gouverneurs. «Das war ein glücklicher Moment, wie ich den Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine Frau Loki getroffen habe. Ich, die kleine Schwarze aus Deutschland, und der Bundeskanzler. Der Bundeskanzler!» Sie lacht hellauf, schlägt die Hände zusammen im Erinnern daran. Wie ein junges Mädchen wirkt Lisa Dixon in diesem Moment. Leiser fügt sie hinzu: «Das war eine Genugtuung.»
Eine Genugtuung wofür? Man ahnt es, wenn man im Buch «Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung» liest, wie Kinder wie die junge Lisa auf Schritt und Tritt damit konfrontiert wurden, dass die Gesellschaft sie als Fremde sah. Im Jahr 1952, als Dixons Jahrgang eingeschult wurde, fand die schon erwähnte Bundestagsdebatte statt. Im selben Jahr wurde ein Kinofilm zum Gassenfeger, «Toxi», der die Geschichte eines fünfjährigen afrodeutschen Waisenkinds erzählt, das vor der Tür einer gutbürgerlichen Familie ausgesetzt wird und zum Schluss zur Erlösung aller von seinem amerikanischen Vater in die USA geholt wird. Zeitungen und Zeitschriften feierten begeistert die erste Abreise von deutschen Kindern zu Adoptiveltern in den USA. Zum Beispiel titelte der «Mannheimer Morgen»: «Zwei kleine Negerlein, die fahren über’n Teich», und der «Stern»: «Mammies für die Negerlein».
Doch nicht ganz Deutschland wünschte die Kinder weg. Manch einer glaubte, ihnen käme in ihrem Heimatland eine wichtige Rolle zu.
«Der tiefe Sinn der sinnlos in die Welt gesetzten Mischlinge», schrieb eine Zeitung 1952, sei, dass sie zu einem Prüfstein der Gesinnung würden. Damit spielte sie auf den Völkermord an Juden, Roma und Sinti an. Deutlicher sprach der damalige Direktor der Caritas, Gustav von Mann, diesen Gedanken aus: «In diesem Jahr beginnt eine ganz konkrete Erziehungsaufgabe, die von grosser Bedeutung für die Erziehung des ganzen Volkes ist. In diesem Jahr werden die Mischlingskinder eingeschult», schrieb er in der Zeitschrift «Jugendwohl». Und fuhr fort: «Sie sind uns gegeben, dass an ihnen das deutsche Volk die Verbrechen an den Menschen anderer Rassen wieder gutzumachen sich bemühe.»
«Am besten in Negerumgebungen»
Die Caritas, der katholische Wohlfahrtsverband, war eine einflussreiche Stimme in dieser gesellschaftlichen Diskussion, ebenso wie ihr evangelisches Pendant, die Innere Mission, die heute im Diakonischen Werk aufgegangen ist. Denn diese Verbände trugen häufig die Vormundschaften für die Besatzungskinder. Die Innere Mission hielt «eine Adoption möglichst durch Negerfamilien» für «die beste Lösung». Denn «dass die Negermischlinge am besten in Negerumgebungen gedeihen», das wisse man aus den Erfahrungen deutscher Missionare in Süd- und Ostafrika.
Schuldgefühle wegen des Völkermords, offene Ablehnung, Bemühen um christliche Nächstenliebe, Angst um die Aussenwirkung – Deutschlands Verfasstheit war die einer mehrfach gespaltenen Persönlichkeit. Nur eines teilten alle Seiten: Sie fuhren noch immer auf den rassifizierenden Denkgleisen, die in der Kolonialzeit verlegt und im Nationalsozialismus geölt worden waren. Wer nicht weiss ist, kann nicht deutsch sein.
Lisa Dixon erinnert sich: Wie sie mit der Unterstützung ihrer Sozialhelferin von der katholischen Jugendfürsorge, aber gegen den Widerstand der Oberin der Klosterschule Au am Inn – schwarze Kinder seien nicht intelligent genug – schliesslich die Mittelschule besuchen durfte. Wie sie, einmal in der Klosterschule angekommen, nicht am Französischunterricht teilnehmen durfte. Eine wie sie könne keine nasalen Töne lernen.
Auch daran, wie sie Nonne werden wollte, erinnert Dixon sich gut. Eine Nonne im Sankt-Josefs-Kinderheim hatte sie ins Herz geschlossen. In vertraulichen Momenten zu zweit «hat die Schwester Beate-Maria mir auch von den Schwestern in Afrika und in Brasilien erzählt», sagt Dixon. «Das war damals als Kind alles, was ich wollte, eine Nonne werden. Ich wollte nach Afrika gehen oder nach Brasilien, damit ich mit meinen Leuten sein konnte. Man hat ja gehört», sagt sie, «dass man nicht nach Deutschland passt, dass man nicht dazugehört.»
1960 war ein weiteres Jahr, in dem sich die Öffentlichkeit den Kopf über die afrodeutschen Kinder ganz besonders zerbrach. Denn in diesem Jahr beendeten die ersten SchülerInnen die Volksschule. Die Gesellschaft machte zwei neue Probleme aus: Beruf und Liebe oder genauer: Beruf und Sex. Die Historikerin Lemke Muniz de Faria beschreibt es so: «In der Frage der Partnerschaft spiegelte sich das Spektrum von biologistischer Determination und veralteten Rassenideologien, das in der Angst vor ‹Rassenmischung› zum Ausdruck kam, bis hin zu sexualisierter Wahrnehmung von den Körpern schwarzer Menschen wider.» Ein Aktenvermerk des Bundesinnenministeriums hält ein Beispiel dafür fest, wie so etwas klang. Da sagte ein Vertrauensmann des katholischen Fürsorgevereins in den USA dem Ministerium voraus, dass «für Deutschland Konflikte entstehen werden, sobald sie herangewachsen sind». Pater Alkuin Heibl, steht im Vermerk, fuhr fort: «Die Fruchtbarkeit der Neger ist durchaus im Stande, die Blutfärbung eines Volkes in kurzer Zeit vorzunehmen.»
Die Sexualisierung schwarzer Menschen zieht sich wie ein aufdringlicher Refrain auch durch Lisa Dixons Kindheit und Jugend. Bis hin zu einer Vergewaltigung gingen die sexuellen Übergriffe – von Menschen ihres Vertrauens. «Und ich konnte es niemandem sagen, ich konnte es meiner Mama nicht sagen, weil niemand mir geglaubt hat.»
Amerika sollte ihr Weg ins Glück sein, doch die Ankunft war ein Schock. Ihr Ehemann wohnte in einem winzigen Ort in South Carolina, «eine Tankstelle, die war auch das einzige Geschäft, eine weisse Kirche, eine schwarze Kirche und ein paar Häuser». Fliessendes Wasser und eine Toilette gab es nicht im Haus. Nicht nur nicht im Haus, «auch nicht draussen, man musste in den Wald gehen und sich in die Büsche setzen.» In ihrer Stimme schwingt die Fassungslosigkeit des Grossstadtmädchens aus München. Doch Dixon, mittlerweile Mutter zweier Kinder, riss sich zusammen, lernte Englisch, arbeitete sich hoch, liess sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden. Sie heiratete ein zweites Mal und fand ihr Glück.
Ihr Verhältnis zu Deutschland heute, wie soll sie das erklären? Lisa Dixon will es mit einem Gleichnis ausdrücken, ihrer Erfahrung als Sozialarbeiterin entlehnt: «Meine Loyalität zu Deutschland ist, wie wenn ein missbrauchtes Kind den Eltern weggenommen wird. Diese Kinder verteidigen ihre Eltern noch. So kann ich Deutschland am besten erklären. I love Germany. Die Dinge waren nicht immer gut, aber sie waren auch nicht immer schlecht.»
Für Dolores Becker dagegen hat Deutschland erst vor wenigen Jahren an Bedeutung gewonnen, es ist ihr ein Sehnsuchtsort geworden. «Jetzt bin ich in dem Alter, you know, das Leben wird kürzer, jetzt will ich die andere Seite in mir kennenlernen. Familie bedeutet mir jetzt etwas. Ich habe Sehnsucht. Ich will meine Mutter kennenlernen, ich will wissen, ob ich Geschwister oder Cousins habe.»
Allein mit zwei Kindern
Noch einmal einige Tage später in München, an einem Spätsommertag, der sich schon nach Herbst anfühlt. Elisabeth Lermontow*, geborene Hein, Lisa Hein Dixons Mutter, hat wie jeden Morgen, ausser sonntags, ihre Wanderschuhe geschnürt, ihr Hütchen auf den Kopf gesetzt und den Rucksack geschultert, ihre Krückstöcke gepackt und sich mit Bus und Bahn zum Olympiaberg begeben. Dort wandert sie nun, wie jeden Tag, ausser sonntags, mehrere Stunden auf und ab, immer an den steilsten Hängen. Frau Lermontow ist 87 und wirkt, als könne nichts sie aufhalten. An diesem sonnigen Freitag stapft sie mitten durch ein Filmset, das auf ihrer Strecke liegt. Auf dem Olympiaberg wird gerade ein Kinofilm gedreht, «Vatertage», der bekannte Schauspieler Heiner Lauterbach sitzt etwas entfernt.
Wenn Frau Lermontow im Laufschritt von ihrer Kindheit und Jugend im schlesischen Breslau erzählt, wo sie von klein auf die bettlägerige Mutter pflegen musste, von ihrer Flucht aus Breslau vor der russischen Armee, davon, wie sie monatelang umherirrte auf dem Weg nach Töging am Inn, dann scheint ein hartes, entbehrungsreiches Leben auf.
Je näher sie in ihren Erzählungen an die Nacht kommt, «es war stockfinster», als sie in den Wirren der ersten Nachkriegsmonate in einem Güterwaggon von einem amerikanischen Soldaten vergewaltigt wurde, desto mehr versucht sie, im Erzählen auf der Stelle zu treten. An diesen Moment ihres Lebens will sie nicht denken. «Da ist es halt passiert», sagt sie schliesslich.
Als sie merkte, dass sie schwanger war, gab ihr ein Frauenarzt, dem sie vertraute, eine Abtreibungspille. «Und ich blöde Ziege, katholisch erzogen, wie ich war – das ist Mord und so –, hab die Pille nicht genommen.» Dass sie von einem schwarzen Mann vergewaltigt worden war, erfuhr sie erst, als ihre schwarze Tochter zur Welt kam. Inzwischen hatte sie einen russischen Flüchtling geheiratet und seinen Namen angenommen, die gemeinsame Tochter Hedi kam 1948 zur Welt. Bald darauf reichte sie die Scheidung ein und stand nun allein da, mit zwei Kindern, ohne Wohnung. Frau Lermontow setzt an, um die Unworte auszusprechen, die ihr Passanten zuriefen, die sie mit ihrer Tochter Lisa sahen. «Ne …», sie seufzt, «Fl…», und seufzt und bringt am Ende keins heraus. Schüttelt nur immer wieder den Kopf und seufzt: «Ach.»
«Sie war so schön, und ich so hässlich»
Die meisten schwarzen Kinder wurden nicht durch Vergewaltigung gezeugt. So oder so waren die Mütter offenen Anfeindungen ausgesetzt. Ganz anders als die schwarzen Soldaten. «Für schwarze GIs, vor allem die aus den Südstaaten, war Deutschland ein Stück Freiheit», erinnert sich zum Beispiel Colin Powell. Der ehemalige US-Aussenminister war Ende der fünfziger Jahre im hessischen Gelnhausen stationiert. «Sie konnten essen gehen, wo sie wollten, und ausgehen, mit wem sie wollten», schreibt er in seiner Autobiografie. «Der Dollar war stark, das Bier gut, die Deutschen freundlich.»
Sich zur selben Zeit am selben Ort zu befinden, heisst eben nicht, dass man dieselben Erfahrungen macht. Es kann einen Unterschied machen, Angehöriger einer Besatzungsmacht zu sein oder eine andere Hautfarbe zu haben. So kann Lisas Halbschwester Hedi, die am Nachmittag zum Kaffee bei der Mutter vorbeischaut, sich nicht daran erinnern, dass die Hautfarbe ihrer Schwester jemals eine Rolle gespielt hat. Mit einer weichen bayrischen Melodie sagt sie: «Mei, was mich manchmal gestört hat, dass sie so schön war und ich hässlich.» Sie sagt es mit Zuneigung. Die drei Frauen halten über die geografische und vielleicht innere Distanz hinweg doch Kontakt zueinander.
Dolores Becker sah ihren Vater zum letzten Mal, als er eines Tages vor ihrer Tür in Washington stand, kurz vor seinem Tod durch Krebs. In den Händen hatte er eine Kiste getragen, darin ihr deutscher Reisepass, ein paar Kinderfotos, die Adoptionsurkunden. Becker kann sich an ihre Mutter nicht erinnern, obwohl sie womöglich fast fünf Jahre bei ihr gelebt hat. Sie kann sich an so vieles nicht erinnern, dass sie selbst glaubt, etwas in ihr wolle es nicht. «Wer weiss, vielleicht war alles so schmerzhaft, dass ich es verdrängt habe», sagt sie.
Im kommenden Jahr will sie endlich nach Deutschland reisen. Natürlich will sie ihre Mutter finden, Valentine Becker, geboren 1929 in Bessabotowka, Russland, deutsche Staatsangehörigkeit. Aber Dolores sucht noch mehr. «Vor allem will ich die Leute sehen, in Cafés sitzen und nur schauen», hatte sie gesagt. «Schauen, wie das ist, deutsch zu sein. Weil, ich frage mich die ganzen Jahre, was bedeutet das, deutsch zu sein? Was bedeutet das, schwarz zu sein, weiss zu sein? Ist es, wo ich geboren bin oder wer meine Mutter ist, oder ist es die Kultur? Was macht mich zu der, die ich bin?»
* Nachname geändert
Die meisten historischen Beispiele stammen aus dem erwähnten Buch «Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung».