Bürokratie im Flüchtlingswesen: Wo bleibt das Kindeswohl?
Seit Monaten versucht ein afghanischer Vater, seinen minderjährigen Sohn vom Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zu sich zu holen. Erfolglos. Der Bund will, dass die griechischen Behörden das Kind zuerst registrieren. Doch das scheint unmöglich zu sein.
Hamed war elf Jahre alt, als er Anfang 2019 mit seiner Tante und deren Tochter vom Iran in die Türkei und mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer nach Griechenland flüchtete. Er sollte zu seinem Vater Mohammed Haydari in die Schweiz reisen. Seit sieben Monaten sitzt er jedoch im Lager Moria auf der Insel Lesbos fest.
Moria – die Zahlen und Fakten sind bekannt: Insgesamt 20 000 Menschen leben in diesem Flüchtlingslager, darunter 4000 Kinder. Jean Ziegler hat das Lager in seiner Funktion als Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrats im Mai 2019 besucht (siehe WOZ Nr. 11/20 ). «Die Zustände in Moria sind die Hölle», sagt der Soziologe. «Frauen, Männer und Kinder sind von diesen mit Glasscherben und Stacheldraht mit Widerhaken bewehrten Mauern eingeschlossen, bewacht von bewaffneten Polizisten in schwarzen Uniformen.»
Für Kinder ist diese Situation besonders schlimm. So schrieb im letzten November Christos Christou, der internationale Präsident von Ärzte ohne Grenzen, in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU: «Diese Kinder haben Krieg, Gewalt und Verfolgung überlebt. Aber viele Monate an einem unsicheren und erbärmlichen Ort wie Moria waren zu viel für viele unserer kleinen Patienten, haben sie in Selbstverletzung und Suizidgedanken getrieben.»
Mohammed Haydari versucht seit sieben Monaten, seinen Sohn von Lesbos zu sich zu holen. Mehrere Briefe hat er ans Staatssekretariat für Migration (SEM) geschrieben. Haydari verfügt über eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung und arbeitet als Hilfskoch in der Zentralschweiz. Seine Familie gehört den Hasara an, einer verfolgten Minderheit in der Grenzregion von Afghanistan, Iran und Pakistan. Haydaris Eltern waren schon früher aus Afghanistan ins iranische Isfahan gezogen. Aufgrund gewaltsam ausgetragener Streitigkeiten innerhalb der Grossfamilie flüchteten die Töchter und Söhne eine nach dem anderen nach Europa. Mohammed Haydari kam 2015 auf der gleichen Route wie sein Sohn – zu Fuss und in Lastwagen, mithilfe von Schleppern – durch die Türkei nach Lesbos. Von dort gelangte er über Serbien und Österreich in die Schweiz.
23 sind eingereist
Katarina Socha, hauptberufliche Rechtsvertreterin von Erwachsenen und Kindern im Asyl- und Ausländerrecht, unterstützt Mohammed Haydari in seinen Bemühungen. Anfang Mai dieses Jahres reichte sie mit zwei KollegInnen beim Bundesrat die Petition Schutz für Kinder auf der Flucht ein. Darin fordern 10 000 UnterzeichnerInnen Bundesrätin Karin Keller-Suter auf, umgehend 200 Kinder aus dem Lager Moria in die Schweiz zu holen.
Wie hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) die Petition aufgenommen? «Der Bundesrat teilt die Besorgnis», antwortet Emmanuelle Jaquet von Sury, Mediensprecherin beim EJPD. Das EJPD habe Griechenland die rasche Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden mit familiären Verbindungen in die Schweiz zugesichert. Am letzten Samstag sind nun 23 Kinder und Jugendliche in Zürich gelandet. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge rief die Schweiz jedoch dazu auf, ihr Engagement zu verstärken. Und Katarina Socha meint: «Die Schweiz wäre fähig, unverzüglich mindestens 200 unbegleitete Minderjährige einreisen zu lassen.»
«Die Schweiz müsste 5000 Menschen ins Land bringen», sagt Jean Ziegler, «die Asylzentren bei uns sind quasi leer. Die aktuelle Asylpolitik ist absurd.» In der Tat: Selbst der Bundesrat schreibt in seiner Antwort auf eine Anfrage der Basler Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne) vom März, dass gemäss einem Notfallkonzept von Bund und Kantonen bis zu 9000 zusätzliche Unterbringungsplätze für Asylsuchende bereitgestellt werden könnten. Der Platz ist also vorhanden, und ein Notfall ist im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos eindeutig gegeben.
Arslan wollte in ihrer Anfrage auch wissen, ob die Schweiz «Familienzusammenführungen von unbegleiteten Minderjährigen mit Familienbezug in der Schweiz proaktiv veranlassen» könnte. Die Antwort des Bundesrats: «Falls das SEM selber von Angehörigen in der Schweiz über den Aufenthalt einer unbegleiteten minderjährigen Person erfährt, informiert es die griechischen Behörden darüber.»
Keine Antwort aus Griechenland
Doch genau hier liegt der Haken: Die zuständigen griechischen Behörden sind heillos überlastet und überfordert. So wurde auch der elfjährige Hamed längst von einem Hilfswerk in Moria registriert. Zu den bisher fruchtlosen Bemühungen des Vaters um seine Einreise in die Schweiz sagt Katarina Socha: «Das dauert viel zu lange! Verfahren von Kindern sollten so schnell wie möglich behandelt werden. Die Frage ist, ob die Bemühungen des SEM genügen.»
Das SEM besteht auf dem offiziellen Prozedere: «Es ist unabdingbar», so Jaquet von Sury, «dass sich der Junge bei den griechischen Behörden registrieren lässt. Wir haben mit ausländischen Behörden zwingend zusammenzuarbeiten.» Nach Überprüfung der entsprechenden Akten sagt sie zu Haydaris Fall: «Er wendete sich drei Mal an das SEM, das die Briefe innerhalb weniger Tage beantwortete. Das SEM leitete die Akte weiter nach Griechenland.» Die zuständigen griechischen Behörden seien zweimal aufgefordert worden, dem SEM ein Ersuchen um Übernahme zu stellen. Das Ersuchen sei bis heute nicht eingetroffen. Kurz: Die griechischen Behörden schaffen es nicht, Hamed zu registrieren. Und die Schweiz ist nicht bereit, mehr zu tun, als Briefe zu schreiben.
«Ein ruhiges Kind»
Unterdessen ist Hamed allein, weil seine Tante mit ihrer Tochter bereits vor Wochen von den griechischen Behörden auf das griechische Festland transferiert wurde. Haydari und seine Schwester Zahra Jafari, die seit mehreren Jahren in der Schweiz lebt, telefonieren regelmässig mit dem Jungen.
«Er ist ein ruhiges Kind, er klagt nicht viel, aber er fragt jedes Mal, wann er in die Schweiz kommen dürfe», erzählt Haydari. Gesundheitlich gehe es Hamed nicht gut, ergänzt Jafari, er habe Ekzeme, und manchmal seien seine Füsse so geschwollen, dass er kaum gehen könne.