Vier Leben: Die Gestrandeten von Moria

Nr. 27 –

Seit Jahren sitzen Tausende von Geflüchteten nahe der Hafenstadt Mytilini fest, im grössten Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos – unter misslichsten Bedingungen. Vier junge Leute erzählen.

  • Yasmin A.: «Die Traumata mancher Menschen hier im Lager können so schwer sein, dass sich die Betroffenen manchmal nicht mal mehr an ihren Namen erinnern.»
  • Zeinab N.: «Ab und zu schauen wir eine Folge einer türkischen TV-Serie. Aber eine SIM-Karte mit einem Gigabyte Internet kostet siebzehn Euro, und die ist schnell leer.»
  • Neda A. mit ihrem Mann Akram: «Ich will nicht sagen, dass es schlimmer ist als in Syrien. Aber dort wärst du zumindest mit deiner Familie gestorben, hier allein.»
  • Noor Ali H.: «In der Türkei lernte ich die deutschen Zahlen. Bis hundert. Bis heute beruhigt es mich zu zählen.»

Yasmin A., 23, Krankenschwester aus Mogadischu, Somalia

«Vor einem Jahr kam ich mit meiner Familie in Europa an. Damals waren es 7800 Menschen in Moria. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten wir ein echtes Problem, einen Schlafplatz zu finden. Zusammen mit meiner kleinen Nichte sind wir sechs Frauen. Alle entwickelten wir eine je eigene Taktik, mit der Belastung umzugehen. Meine jüngere Schwester lernte sogar Koreanisch mithilfe von Filmuntertiteln. Wir hängten Blumen an den Ecken des Zeltes auf, schüttelten jeden Morgen die Decken aus und sangen mit meiner Mutter alte Lieder aus meiner Kindheit – damit sie für ein paar Momente vergessen kann, wo wir sind. Oft spielten wir bis tief in die Nacht Karten und tranken Tee, wenn es elektrischen Strom gab. Vor sechs Monaten wurde der Rest meiner Familie auf das Festland transferiert. Obwohl wir alle die gleiche Fluchtgeschichte haben, sind wir in unterschiedlichen Stadien des Asylverfahrens. Ich musste hierbleiben, um auf meine Reisedokumente zu warten.

Als Pflegefachfrau behandelte ich in den ersten Wochen der Ausgangssperre Menschen, die unter Fieber- und starken Kopfschmerzen litten, mit ausgekochtem Knoblauch. Stundenlang standen wir vor dem kleinen Supermarkt an – manchmal war der Knoblauch dann schon ausverkauft.

Die Angriffe von gewalttätigen Gruppen auf Ärztinnen und Sozialarbeiter im Frühling und die pandemiebedingte Isolation führten dazu, dass auf einmal fast keine humanitären Arbeiterinnen und Arbeiter mehr ins Camp kamen. Die Kinderklinik von Ärzte ohne Grenzen schliesst schon um 16.30 Uhr die Tore – ab da gingen die gewalttätigen Streitereien um die letzten Ressourcen los. Nacht für Nacht. Ab 16 Uhr ist seither nur noch ein Militärarzt anwesend – und am Wochenende manchmal gar niemand mehr. Hast du am Freitag einen Schlaganfall, wirst du also erst am Montag behandelt.

Durch meine Ausbildung bin ich in der Lage, ein wenig zu helfen, und dank meiner Englischkenntnisse kann ich im Spital übersetzen. Eines Nachts stellte ich mich mit einer somalischen Frau in die Warteschlange vor der Militärklinik. Die Frau war mit einem Messer in die obere Bauchdecke abgerutscht. Die Wunde war nicht allzu tief, doch sie blutete stark. Zwei Nähte hätten es getan, aber die Ärztin sagte, ein grosses Pflaster sei genug. Natürlich brach die Wunde am nächsten Morgen wieder auf – ich musste mit der Frau ins Spital.

Die Behörden hier wissen oft gar nicht, was die Anzeichen von traumatischer Belastung sind. Die Traumata hier können so schwer sein, dass sich die Betroffenen manchmal nicht mal mehr an ihren Namen erinnern. Die Polizisten, die als Einzige den Krankenwagen rufen können, denken dann oft, sie würden auf den Arm genommen, und werden grob. Erst heute Morgen sah ich einen afghanischen Mann vor dem Haupteingang des Camps, der sich mit einem Messer erst in die Arme und dann in den Hals schnitt. Er wurde von der Polizei abtransportiert. Wohin, das wissen wir nicht. Psychologisch wird er mit Sicherheit nicht betreut. Darauf ist hier niemand auf der Insel vorbereitet.

Die Isolierung hier ist mental schwer belastend. Dazu kommt, dass du keine Tür hast, die du einen Moment lang schliessen kannst, um dich zurückzuziehen und durchzuatmen. Für manche endet die Isolation sogar tödlich. Im letzten halben Jahr begleitete ich einen dreissigjährigen Mann mit schwerer Herzerkrankung fast wöchentlich ins Krankenhaus, wo ich ihm mit Übersetzen half. Die Ärzte sagten, er könne wieder gesund werden. Doch mit der Ausgangsbeschränkung brach auch seine Behandlung ab, sein Zustand verschlechterte sich mit jedem Tag. Man konnte ihm nicht direkt ansehen, wie schwer krank er war. Immer machte er Witze, jeder kannte ihn hier. An einem Tag Anfang April wollte er in die Hafenstadt, um seine Medikamente zu kaufen. «Du machst uns doch etwas vor», sagte die Polizei zu ihm, als er eine Ausgangsgenehmigung beantragte, «du willst doch nur einkaufen gehen.» Es dauerte Stunden, bis wir die Polizisten endlich überzeugen konnten. Der Mann starb am 29. April auf dem Weg zum Krankenhaus. Immer wieder sagte er in den Tagen zuvor zu mir: «Yasmin, hilf mir.» Ich sagte ihm, dass ich ihm nicht helfen könne, da ich hier auch nur Gast sei. Heute fühle ich mich schuldig.

Eine Woche später verlor eine Frau im Zelt neben mir ihr Kind, wir schafften es zum Krankenhaus, dort wollte sie das Personal aber nicht behandeln. Eine Frau am Eingang schrie mich an: «Du kannst hier nicht ohne Maske hinein, du steckst uns alle an.» Ich wusste nicht mehr, was ich sagen soll. In Moria gibt es keine Masken und keine Apotheke. Woher sollte ich auf einmal eine Maske haben?

Weil ich als Geflüchtete anerkannt bin, muss ich bis Ende Juni das Camp verlassen. Gehen wir nicht – so steht es auf den Aushängen an der Essensausgabe und den Toiletten –, wird uns der Fluchtstatus aberkannt. Auf einmal bekamen alle Frauen in unserem Container einen blauen Stempel in den Pass. Damit durften sie die Fähre nehmen und sich im ganzen Land bewegen. Doch wohin sie gehen sollten, wussten sie nicht. Jetzt sitzen viele auf Pappdeckeln am Victoriaplatz in Athen oder haben sich mit ein paar anderen Frauen ein Hotelzimmer gemietet. Die meisten sind verzweifelt, und einige wollen sogar zurück nach Moria.

Manchmal denke ich an die Frau zurück, die aus Somalia floh, und schaue auf die, die ich jetzt bin. Ich bin stärker geworden. Die Zeit hier hat mein Herz gebrochen, aber meinen Blick auf die Welt geschärft.»

Zeinab N., 19, afghanische Schülerin aus dem Iran

«Im Winter hängte ich Milch und Eier in einem Plastiksack an den Olivenbaum vor dem Zelt. Einen Kühlschrank gibt es hier ja nicht, und wenn wir einen hätten, würde das ohne Strom auch nichts bringen. Jetzt ist es viel zu warm, um irgendetwas draussen aufzuhängen. Wir versuchen, alles sofort aufzuessen. Die Eier lege ich in den Karton neben den Schuhen. Da ist es am kühlsten. In der Nacht stelle ich ihn raus, sonst haben mein Mann und ich nicht genug Platz zum Schlafen.

Am Anfang der Ausgangssperre stand ich manchmal um drei oder vier Uhr morgens auf, um den Olivenhain hinunter zu den Duschen zu gehen. Dann stehen höchstens zwei statt wie später dreissig Frauen vor dir. Mit meiner Beinprothese brauche ich sehr lange bis dorthin. Regnet es, wird es besonders schwierig. Die Abhänge werden dann zu Rutschbahnen.

Seit vier Monaten warte ich auf meine Prothese. Vor der Ausgangssperre hatte ich noch einen Termin beim Orthopäden in der Stadt. Er bestellte eine neue Prothese, da meine seit der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland im letzten Winter fast durchgebrochen ist. In der Hitze reibt sie schmerzhaft am Knie, ich kann nie lange stehen. Mein Bein wurde vor eineinhalb Jahren im Iran amputiert, da es viel kürzer war als das andere. Bei der Operation gab es Probleme. Jetzt bräuchte ich Physiotherapie, aber hier oben im Zelt kommt niemand vorbei. Krücken will ich nicht benutzen, weil die anderen sonst denken, ich sei schwach. Es muss ja weitergehen.

Da in der Isolation keiner mehr in die Stadt einkaufen gehen konnte, war anfangs alles überfüllt. In der Schlange vor dem Supermarkt gab es oft Schlägereien. Jetzt wird es mit jedem Tag heisser, nach ein paar Minuten spürt man die Sonne wie einen Bohrer im Kopf. Das Essen, das wir bekommen, ist nicht richtig gekocht und macht einen oft sehr schlapp.

Die Frauen in den Nachbarzelten sagen mir, ich sei die Fröhlichste und zugleich Traurigste von uns.

Mit meiner Mutter telefoniere ich fast jeden zweiten Tag. Sie ist wie eine Freundin und macht mir Mut. Vor zwei Jahren floh sie zu meiner Cousine nach Deutschland. Ein Jahr später entschloss auch ich mich, mit meinem Mann den Iran zu verlassen. Als Afghanin hatte ich dort keine Zukunft: Seit meiner Kindheit wurde ich diskriminiert, konnte mich nicht an der Uni oder einer anderen Ausbildungsstätte einschreiben. Auch gesundheitlich wurden wir kaum versorgt. Mein Mann hat schweres Asthma und kann nur eingeschränkt arbeiten – wir hofften in Europa auf eine zweite Chance.

Auch meine Schwester schaffte es mit ihrem Kind hierher auf die Insel. Vor zwei Monaten wurde sie von einer Gruppe von Männern in den hinteren Olivenbaumfeldern vergewaltigt. Danach wurde sie an einen Ort für besonders Schutzbedürftige gebracht. Seit der Ausgangssperre kann ich sie nicht mehr besuchen. Die meisten meiner Gedanken drehen sich darum, wie es ihr gehen könnte und was aus ihr werden soll.

In der Isolation hat sich die sexuelle Gewalt noch vervielfacht. Es gibt kaum jemanden, an den man sich wenden kann. Die Polizei fragt oft erst am nächsten Tag nach, was passiert sei. Die Täter bleiben meist auf freiem Fuss.

Um mich abzulenken, gehe ich abends manchmal zu meiner Freundin ins Zelt nebenan. Ab und zu schauen wir eine Folge einer türkischen TV-Serie, um ein Stück Normalität zu spüren. Das können wir leider nicht jeden Abend machen. Siebzehn Euro kostet eine SIM-Karte mit einem Gigabyte Internet, und die ist schnell leer.

Am meisten vermisse ich hier einen grossen, langen Tisch, an dem meine ganze Familie sitzen könnte, wir Kabuli – Reis mit Rosinen, Karotten und Lammfleisch – essen und uns Geschichten erzählen. Meinen Geburtstag feiere ich hier nicht – ich weiss eh kaum mehr, was für einen Tag wir haben.

Wenn ich hier rauskomme, laufe ich, so schnell es geht, in eine Schule oder Universität. Ich weiss, dass ich das alles schaffen kann, sobald ich in Sicherheit bin.»

Neda A., 18, Hausfrau aus Deir Essor, Syrien

«Hier bin ich meist im Zelt, mache Tee und koche das Essen aus dem Lager noch einmal auf. Nach unserer Heirat arbeitete Akram auf dem Bau, und ich wollte an die Uni. Vor dem Krieg hatten wir ein wirklich gutes Leben. Dann aber sollte Akram eingezogen werden. Der Druck auf ihn wurde immer grösser. Dabei hatten wir unser Leben erst angefangen, wir wollten nicht fort. Wir sparten Geld, um es in Sicherheit zu schaffen.

Am 6. Januar kamen wir an der griechischen Küste an. Die Regenklamotten klebten an uns wie eine zweite Haut. Viermal ist das Boot fast gekentert. Dabei herrschte eine Kälte, die mich bis heute nicht mehr verlässt. Mit uns auf dem Schlauchboot sassen auch Familien aus dem Sudan und dem Irak. Ich bin froh, nicht selbst Mutter auf so einem Boot sein zu müssen.

Als wir ankamen, warteten wir ein paar Stunden am Strand, bevor uns Leute aus einem nahen Dorf fanden und wir mit einem Bus in das Camp gebracht wurden. Am Anfang war ich geschockt darüber, wie die Menschen hier lebten. Wir zogen in den hinteren Teil der Olivenbaumfelder. Dort lebten auch andere Syrer.

Akram ist auch ein guter Innenarchitekt. Mit Decken und Planen baute er einen kleinen Wintergarten vor das Zelt, in das heute auch Freunde zum Teetrinken kommen. Immer wenn Nachbarn auf das Festland übersiedelten, liessen sie uns einen Blumentopf, ein Kissen oder eine Fussmatte hier. So konnten wir unser Zelt immer weiter ausbauen. Der Untersetzer des Wasserkochers hängt an einem Nagel neben dem Eingang. Eine Wannenschüssel bauten wir in einen Nebentrakt ein, damit wir hier unsere Kleider und Füsse waschen können. Viele hier gehen wochenlang in den gleichen Sachen herum, weil es nicht genug Wasser oder Waschbecken gibt.

Nach nur drei Tagen hatten wir unser erstes Interview mit der griechischen Asylbehörde. Eine rechtliche Beratung und Information zu unserem Asylprozess bekamen wir nicht. Manche Bewohner sagten uns, eine Entscheidung könne Monate, manchmal auch Jahre dauern. Zu unserer Überraschung bekamen wir drei Wochen später eine Antwort. Wir wurden abgelehnt – wie alle Syrer um uns herum. Einer unserer Freunde aus Rakka, der mit seiner 74-jährigen Mutter auf unserem Boot war, wurde auch abgelehnt. Erst letzte Woche wurde die Mutter an der Wirbelsäule operiert. Seitdem kann sie nur noch auf dem Bauch im Zelt liegen.

Nächtelang liegen Akram und ich wach. Jetzt können wir weder vorwärts noch zurück. Wir warten noch auf die Antwort auf unseren Einspruch.

Ich will nicht sagen, dass es schlimmer ist als in Syrien. Aber es ist so hoffnungslos, weil du nicht weisst, wann du deine Familie siehst. Seit vier Monaten habe ich nichts mehr von meinen Eltern gehört. Sie sind auf unserem Bauernhof in Syrien zurückgeblieben. Dort wärst du zumindest mit deiner Familie gestorben, hier allein.

An diese Zeit hier in Moria will ich mich später nicht erinnern. Hier gehe ich nur selten aus dem Zelt. Mein Kopf schwirrt den ganzen Tag, und draussen kann ich nirgendwo hin, ausser um noch mehr Verzweiflung zu sehen. Gestern war ein guter Tag. Das erste Mal seit Wochen ging ich nach draussen. Ein paar afghanische Frauen wollten das Meer sehen und fragten mich, ob ich mitkommen würde. Wir schmuggelten uns zum Strand durch. Anders als mit den Bussen kann man mit einem der Taxis, die unten an der Strasse stehen, ohne Ausnahmegenehmigung raus. Die Fahrt können sich nur wenige leisten. Es war das erste Mal seit meiner Überfahrt, dass ich das Meer sah. Tiefer als bis zu den Oberschenkeln wagte ich mich nicht ins Wasser. Als wir später an der Küste sassen, befreite der Horizont meine Gedanken. Auf dem Rückweg durch Mytilini dachte ich mir: Wie schön die Stadt doch ist!»

Noor Ali H., 17, Schüler aus Quetta, Pakistan

«Seit letztem November bin ich hier im Lager. Dreimal versuchten wir es mit dem Schlauchboot über das Meer. Jedes Mal wurden wir von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und zurück aufs Festland geschleppt. Beim letzten Mal schafften wir es. Die griechische Küstenwache musste uns aus dem wackligen Boot ziehen. Alle schrien sie uns an. Einer der Soldaten packte mich und wollte wissen, wer das Boot gesteuert hatte. Wir alle blieben still. Da wurden sie immer lauter, und einer gab mir eine Ohrfeige, weil ich nichts sagte.

Eigentlich musste ich schon immer fliehen. An einem Morgen – ich war neun Jahre alt und packte gerade meine Sachen für den Englischunterricht – zersplitterten unsere Fensterscheiben in alle Richtungen. Ich schaffte es nicht mehr aus unserem Haus. In einem Billardclub hatte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Kurz danach gab es einen weiteren Anschlag. Obwohl wir gar nicht so nah waren, hat die Druckwelle unser Haus erreicht. Nie werde ich diesen Tag vergessen. Damals starben so viele Menschen. Es hört niemals auf in Quetta – immer wieder werden dort Anschläge auf uns Hasara verübt.

Als Hasara-Angehöriger durfte ich nur bis in die fünfte Klasse zur Schule. Mein Vater wollte immer, dass wir ein besseres Leben als er und unsere Mutter haben. Dass wir in die Schule gehen und eine Familie, die eine Perspektive hat, grossziehen können. Ich bin der Einzige in unserer Familie, der fliehen konnte. Meine Schwester ist sehbehindert, und meine Eltern sind zu alt dafür. Sie haben ihr Schicksal schon akzeptiert. Ausser Wasser und den Ring, den mir meine Mutter mitgegeben hat, nahm ich nichts mit.

Erst schaffte ich es nach Afghanistan, und von dort in den Iran. Den grössten Teil gingen wir zu Fuss – oft vierzehn Stunden am Tag. Am Stacheldrahtzaun an der iranisch-türkischen Grenze rutschte ich ab und riss mir beide Hände auf. In der Türkei sassen wir für eine Woche in einem Hotelzimmer fest. Dort lernte ich die deutschen Zahlen. Bis hundert. Bis heute beruhigt es mich zu zählen.

Hier im Lager wohnte ich erst draussen in den Olivenbaumfeldern, kurz vor der Ausgangssperre zog ich in die «Safe Zone». Ich frage mich, was daran sicher sein soll. Bis fünf oder sechs Uhr morgens können wir nicht schlafen. Jede Nacht gibt es Schlägereien und auch Messerattacken. In der Isolation ist die Gewalt noch schlimmer geworden. Zwei meiner Freunde wurden mitten in der Nacht von zwei mit Messern bewaffneten Männern in der «Safe Zone» angegriffen – einfach nur, weil sie ihre Handys wollten.

Morgens um etwa viertel vor neun bekommen wir eine Portion Zahnpasta, Seife, ein abgepacktes Croissant und zwei Flaschen Wasser. Doch die meisten von uns schlafen bis mittags, weil sie bis in die frühen Morgenstunden wach waren. Kochen dürfen wir hier aus Feuerschutzgründen nichts, dabei hat der Reis oft gar kein Öl und ist trocken wie ein Steinbrocken. Jetzt, wo es so heiss wird, steht das Essen oft viel zu lange in Plastikschalen in der Sonne und wird ungeniessbar. Viele meiner Freunde wohnen noch immer draussen in den Olivenbaumfeldern. Mit den Jungs teile ich alles. Auch das afghanische Gewand, das ich heute trage. Jeder darf es mal anziehen.

Vor der Ausgangssperre besuchte ich eine Schule, die von einer Hilfsorganisation für unbegleitete Minderjährige eingerichtet worden war. Dort lernte ich Englisch und Mathe und konnte am Nachmittag Gitarre spielen. Ich vermisse es, die Welt vom Busfenster aus in Bewegung zu sehen. Jetzt wage ich mich höchstens noch zwanzig Minuten am Tag heraus.

Früher wollte ich immer Jetpilot werden. Das habe ich eigentlich immer noch vor. Vor allem würde ich gerne noch mehr Sprachen lernen. Ich hoffe, dass ich beim nächsten Jugendlichentransfer mit dabei sein werde. Ich würde ungerne in Serbien oder Kroatien landen – am liebsten in Deutschland. Aber ich weiss, dass ich mir das nicht aussuchen kann.»

Ausgangssperre in den Camps : Zustände wie in einem Internierungslager

Während sich die Bars in der Hafenstadt Mytilini wieder füllen und die ersten europäischen TouristInnen die ägäischen Strände anfliegen, sitzen nur zehn Autominuten entfernt 16 000 Geflüchtete noch immer im grössten Flüchtlingslager auf Lesbos fest. Seit fünfzehn Wochen dürfen die Menschen das Gelände rund um das alte Militärgelände von Moria nicht verlassen. Vor einer Woche wurde die Ausgangssperre in den Camps griechenlandweit zum vierten Mal verlängert. Anstatt die Menschen während der Coronapandemie in Sicherheit zu bringen, machten die Behörden Lager wie Moria immer mehr zu Internierungslagern.

In der Isolation sind die Menschen zunehmend auf sich selbst gestellt. Die Sicherheits- und die Gesundheitssituation haben sich in den letzten Wochen noch einmal dramatisch verschlechtert. Viele schwere chronische Krankheiten oder psychische Erkrankungen werden nicht mehr medizinisch behandelt. Nur siebzig Menschen dürfen das Campgelände pro Tag mit einer Ausnahmegenehmigung verlassen. Die Zufahrtsstrassen nach Moria werden von zwei Polizeicheckpoints kontrolliert.

Im März setzte Griechenland das Asylrecht komplett aus und schloss die Asylbehörden für zweieinhalb Monate. Menschen, die nach dem 1. März auf Lesbos ankamen, wurden auf ein geschlossenes Militärschiff am Hafen von Mytilini gebracht und schliesslich in Haftanstalten auf dem Festland festgehalten, um sie schneller ausschaffen zu können. Inzwischen häufen sich die Indizien, dass die griechische Küstenwache Geflüchtete illegal in die Türkei zurückschiebt oder sogar auf aufblasbaren Plattformen im Meer aussetzt, damit sie von der türkischen Küstenwache in türkischen Gewässern aufgegriffen werden.

Anfang Juni teilte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis mit, dass die Asylbehörden seit Januar 11 000 negative Asylbescheide ausgestellt hätten, um die Deportationen zu beschleunigen. Doch die meisten Schutzsuchenden haben keine andere Möglichkeit, als in den überfüllten Camps zu bleiben, da es dort wenigstens dreimal täglich etwas zu essen gibt. Seit dem 1. Juni jedoch müssen alle Menschen in ganz Griechenland, die als Geflüchtete anerkannt sind, ihre Unterkünfte in den Lagern verlassen. Bloss wohin? Aufgrund der Wirtschaftslage, fehlender Integrationsangebote und der wachsenden Ressentiments der Lokalbevölkerung ist es für die Betroffenen nahezu unmöglich geworden, einen Job zu finden oder eine Wohnung zu mieten.

Franziska Grillmeier