Auf allen Kanälen: 15 Sekunden Protest

Nr. 24 –

Das soziale Netzwerk Tiktok will in erster Linie unterhalten. Jetzt ist die chinesische App zur Plattform für die Proteste in den USA geworden.

Wer dieser Tage durch Tiktok scrollt, sieht zum Beispiel einen Mann, der mit einem albernen Tanz eine Kuhherde verscheucht. Oder auch: Hunderte von Menschen, die im Liegen eine sechsspurige Strasse blockieren, Sniper auf einem Dach im Sonnenuntergang, Polizisten in Vollmontur, leer geräumte Läden.

Eigentlich ist die Video-Sharing-App Tiktok vor allem auf Unterhaltung aus; beliebt sind sogenannte Challenges, bei denen NutzerInnen eine bestimmte Bewegungsabfolge zur selben Musik tanzen, es gibt Beauty- und Fail-Videos, Erlebnisse aus dem Alltag oder den Ferien. Die Videos dauern maximal fünfzehn Sekunden; zu Storys zusammengestellt, ist kein Beitrag länger als sechzig Sekunden. Tiktok gehört dem chinesischen Technologieunternehmen Bytedance und ist eines der am meisten genutzten sozialen Netzwerke überhaupt, der Grossteil der NutzerInnen sind Kinder und Jugendliche.

Seit dem Tod von George Floyd ist die App allerdings zur Plattform für die Proteste in den USA geworden. AktivistInnen der Black-Lives-Matter-Bewegung erzählen von ihren Erfahrungen, schneiden Videos von Demonstrationen zusammen oder filmen gleich live. Unterlegt sind die Videos fast immer mit Musik, die diese kurzen Einblicke in die Proteste emotional auflädt; besonders beliebt ist «This Is America» von Childish Gambino, der 2018 mit seiner wütenden Anklage des systemischen US-Rassismus für Aufsehen sorgte. Durch die oft wacklige Handkamera wirken die Aufnahmen extrem unmittelbar, und es hat schon etwas Dystopisches: Man sitzt auf dem Sofa und scrollt sich durch Tränengas, Gummigeschosse und brennende Polizeiautos.

Moderation und Zensur

Mit seiner intuitiven Handhabung und den vielen Tools zum Erstellen von Videos ermöglicht Tiktok eben nicht nur schnell gemachte Tanzvideos, sondern lädt auch dazu ein, auf niederschwellige Weise die eigene Geschichte zu erzählen. Wie im Fall des jungen schwarzen Manns, der die Regeln aufzählt, die seine Mutter aufgestellt hat, um ihn zu beschützen: Berühre im Laden nichts, was du nicht kaufen willst, schau keine weisse Frau zu lange an, fahr nicht im Unterhemd Auto. Diese knapp sechzig Sekunden fassen die Lebenswelt von Schwarzen in den USA eindringlicher als jede wissenschaftliche Untersuchung.

Dass gerade Tiktok für die Verbreitung dieser Inhalte genutzt wird, erstaunt. Schliesslich berichteten schon früher einige Medien, dass die Plattform politische Beiträge lösche oder aber so markiere, dass sie in den Feeds der anderen NutzerInnen nicht oder selten erscheinen; «shadow banning» nennt sich dieses Phänomen. Seit der «Guardian» letzten September aufdeckte, dass Inhalte zum Tiananmen-Massaker oder zur Unabhängigkeit Tibets komplett zensiert wurden, hat die Plattform einige Moderationsregeln geändert. Seither ist es zumindest erlaubt, Proteste und Demonstrationen zu zeigen – aber keine Gewalt.

7,8 Milliarden Aufrufe

Ende Mai dann wurden Vorwürfe gegen die Plattform erhoben, weil Beiträge mit dem Hashtag #blacklivesmatter oder #georgefloyd nicht mehr in den Feeds erschienen – der Zähler bei den Views blieb bei null. Ein Fehler, entschuldigte sich Tiktok einige Tage danach und beteuerte seine Unterstützung für die schwarze Community. Der Hashtag #blacklivesmatter zählt mittlerweile 7,8 Milliarden Aufrufe. Es ist der einzige in dieser Grössenordnung mit politischem Inhalt.

Warum aber wird er überhaupt geduldet, bei der sonst so restriktiven Handhabung politischer Beiträge und obwohl auch viel Gewalt dokumentiert wird? Wahrscheinlich wäre im aktuellen Klima, in dem sich auch andere Grossfirmen bei Aktionen wie dem «Blackout Tuesday» mit der Black-Lives-Matter-Bewegung solidarisch erklären, eine strikte Zensur einfach zu heikel. Recherchen von Netzpolitik.org zeigen ausserdem, dass es vor allem chinakritische Videos sind, die von Tiktok gelöscht oder wegmoderiert werden.

Wegen der undurchsichtigen Moderationsstruktur bei Tiktok ist ohnehin unklar, welche Videos unterdrückt werden. Die hässliche #georgefloydchallenge, bei der weisse NutzerInnen lachend den Mord an George Floyd nachstellten, einer am Boden liegend, der andere mit dem Knie in dessen Nacken, wurde jedenfalls nicht gesperrt.