Nachtleben: Durchgetanzt wird ganz zuletzt
Auch nach dem Ende des Lockdowns leidet die Clubkultur besonders stark unter Massnahmen wegen Corona. Warum die Lockerungen die Situation für viele Schweizer Clubs sogar verschlimmern. Und wie Streaming und Day Dance ein grossflächiges Clubsterben abwenden sollen.
Die Freude währte nur kurz. Als der Bundesrat am 27. Mai das Ende des Lockdowns verkündete, sah er darin auch eine Wiedereröffnung der Clubs vor. Nach den normalerweise umsatzstärksten Monaten März bis Mai sollten viele der in finanzielle Schieflage geratenen Betriebe früher als erwartet ihre Türen wieder öffnen dürfen. Dann allerdings kam das grosse Aber: nur bis Mitternacht. Weiter sahen die flankierenden Massnahmen vor, dass pro Gast vier Quadratmeter zur Verfügung stehen sollen.
«Ganz einfach: unnachvollziehbar», kommentiert Dino Dragic-Dubois vom «Kapitel Bollwerk» in Bern den Entscheid. Unter diesen Auflagen könnten in seinem Club nur zwanzig Personen Einlass finden. Vorerst hat das «Kapitel» daher nur Restaurant und Terrasse geöffnet, wie vielerorts mutierte das Tanzlokal zum Sitzplatz. Dabei operiere der Club eigentlich umgekehrt, das Restaurant sei als Supplement zum Tanzbereich gedacht, so Dragic-Dubois. Nun sucht der Club nach einer Lösung, um die Fixkosten zu decken, ohne die nächste Saison zu gefährden: «Bis August halten wir durch, dann wird es schwierig.»
Nach der Disco in Quarantäne
Noch vor Beginn des Lockdowns wurde das Nachtleben auf unbestimmte Zeit in die Zwangspause geschickt. Nun droht ein Lokalsterben, denn die Clubkultur, international in erster Linie als Gefahrenherd wahrgenommen, wird vermutlich als letzter Bereich des gesellschaftlichen Lebens ihren Betrieb voll wiederaufnehmen dürfen. Nachrichten wie aus Südkorea, wo ein sogenannter Superspreader in einem Club 247 Menschen angesteckt haben soll, verstärkten vielerorts die Vorbehalte.
Doch nicht erst seit der Coronakrise kämpft die Partyszene mit ihrem schlechten Image. Aussenstehende blicken skeptisch auf Ausschweifung und Ekstase und werfen der Szene ihre Nebenprodukte vor: Lärm, Abfall, Absturz. «Clubs werden strukturell benachteiligt, es fehlt eine Lobby», sagt Dragic-Dubois. Die in den letzten Jahren in Zürich und Bern nach Berliner Vorbild gegründeten Bar- und Clubkommissionen haben denn auch als Erste reagiert und die Ende Mai kommunizierten Auflagen scharf kritisiert.
Inzwischen hat die Schweizer Bar- und Club-Kommission (SBCK) ein umfassendes Schutzkonzept ausgearbeitet. Doch ist man glücklich mit der Situation, insbesondere der mitternächtlichen Sperrstunde? «Ganz klar: nein», antwortet Sandro Bernasconi, Leiter Musik der Kaserne Basel und Vorstandsmitglied der SBCK. Das Bedürfnis nach Events sei gross, dem wolle man Rechnung tragen – aber man wolle auch darauf hinweisen, dass im Extremfall allen Clubgästen aufgrund eines positiv getesteten Coronaträgers etwa kollektive Quarantäne drohe. Bei Veranstaltungen mit 300 Gästen sollten notfalls dank Kontaktlisten 299 mit in Quarantäne, sagte Michael Beer vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.
Der Entscheid zur Wiedereröffnung unter diesen Auflagen stösst auch anderswo auf Kritik: «Nun werden die Finanzhilfen für die Clubs gekappt, während gleichzeitig der öffentliche Druck zunimmt, unter widrigen Bedingungen zu wirtschaften», sagt Jo Vergeat. Sie sitzt für die Jungen Grünen im Basler Grossrat und ist Geschäftsführerin von Kulturstadt Jetzt, dem Komitee für die Basler Kultur- und Gastroszene. Die Lockerungen würden die Situation vieler BetreiberInnen sogar verschlimmern: «Unter diesen Bedingungen genug Umsatz zu generieren, ist extrem schwierig.»
Kulturstadt Jetzt fordert deshalb für die Dauer der Coronakrise eine Taskforce Nachtkultur. Am 3. Juni hat der Basler Grossrat einen entsprechenden Vorstoss von Kulturstadt-Jetzt-Mitglied Sebastian Kölliker (SP) mit 76 zu 12 Stimmen bei zwei Enthaltungen an den Regierungsrat überwiesen. Das deutliche Votum habe sie selber positiv überrascht, sagt Vergeat. Sie hofft angesichts der aktuellen Lage auf ein Umdenken der Politik: «Es ist wichtig, ein Zeichen zu setzen.»
Tourabbruch statt Transzendenz
Alex Dallas, Betreiber des Zürcher Clubs Zukunft, bezeichnete die mangelnde Wertschätzung gegenüber seiner Szene in einer Gesprächsrunde auf SRF Kultur unlängst als «Ohrfeige». Angesichts der aktuellen Lage fehle ihm die spirituelle Ebene des geteilten, gemeinschaftlichen Cluberlebnisses.
Die Sehnsucht nach Euphorie, Ekstase und Tanz trotz widriger Bedingungen – zur Wiedereröffnung der Clubs am 6. Juni trat sie hierzulande deutlich zutage. Als Reaktion auf den mitternächtlichen Zapfenstreich verlegten sich viele Clubschwergewichte auf Day-Dance-Veranstaltungen: Vom «Supermarket» und «Hive» in Zürich über das «Elysia» und das «Viertel» in Basel bis zum Berner «Kapitel» wurde neu tagsüber gefeiert. «Auflockerung» betitelte das «Kapitel» dabei den ersten Tanz seit dem Lockdown. Die Kapazitätsgrenze von 300: fast überall rasch erreicht. Der Grossandrang vom Wochenende könnte politischen Forderungen nach einem höheren Stellenwert der Clubkultur weiter Auftrieb verleihen.
Für viele DJs und LabelbetreiberInnen bedeutet die aktuelle Krise den Abstieg ins Prekariat. Denn die mobile Generation von TechnokünstlerInnen arbeitet oft ohne Vertrag oder Sicherheitsnetz. In den letzten Wochen häuften sich auf den sozialen Medien Hilferufe bekannter Szenegrössen, die – etwa aufgrund eines Tourabbruchs – irgendwo auf der Welt gestrandet festsitzen und dringend Finanzhilfe benötigen – oder mangels Reserven in Mietrückstand gerieten und nach fristloser Kündigung nun verzweifelt eine neue Bleibe suchen. Vorerst bleibt vielen Betroffenen mangels eines versicherten Verdiensts oder der Unterstützung einer Gewerkschaft die Mitarbeit im Gastgewerbe, während viele Partylabels versuchen, die Notlage mit Benefizprojekten und Crowdfunding zu meistern.
Munkeln im Dunkel
Andere behelfen sich mit der gängigen Ersatzhandlung: Streaming. In Berlin, Welthauptstadt des Technos, haben sich vom «Tresor» bis zum «Watergate» zahlreiche Partytempel auf der Plattform «United We Stream» zusammengeschlossen, der bisher wirkmächtigsten Spendenkampagne zur Rettung der Ravekultur. Täglich senden DJs aus ihren stillgelegten Stammlokalen. Streams würden natürlich nicht das Cluberlebnis ersetzen, bei dem die Zusammenkunft einen grossen Teil des Erlebnisses ausmache, erklärt Katharina Blum von «United We Stream». Doch es sei wichtig zu zeigen, «dass diese Erlebnisse ein Stück Kultur ausmachen». Die Plattform soll so lange betrieben werden, wie die Schliessung der Locations die finanzielle und kulturelle Existenz der Clublandschaft bedroht. Nicht nur in Berlin: Weltweit sind bereits 45 Städte «United We Stream» beigetreten.
Nadine Moser alias DJ Resom hat bei «United We Stream» für den explizit politischen Club About Blank aufgelegt. Die Wahlberlinerin setzt sich mit DJ-Workshops für Frauen sowie Podcast- und Partyreihen für das politische Bewusstsein in der Technoszene ein. Angesichts der aktuellen Lage zeigt sie sich pessimistisch: Hoffnung auf Besserung sei eine Illusion. Die Technoclubs in Berlin werden diesen Sommer vermutlich als Biergärten öffnen. Denn, so DJ Resom: «Einen Club mit den ganzen Auflagen wieder zu eröffnen, das fetzt einfach nicht.» Der Schweiss, der Nebel, das bewusste Munkeldunkel und überhaupt die individuelle Grenzenlosigkeit auf Basis von gegenseitigem Respekt, das alles fehle ihr sehr: «Ein Clubbesuch ist ja auch eine Art Kurzurlaub, eine Entfremdung vom Alltag und von gesellschaftlichen Gefügen, die schlechte Laune machen. Daher ist es wichtig, diese Oasen zu erhalten.»