Nationalbanken in der Coronakrise: Das Spiel muss weitergehen

Nr. 24 –

Die Rettungsaktionen der Zentralbanken haben perverse Folgen: Die Schuldenblase wird noch gigantischer, Superreiche häufen gerade noch grössere Vermögen an – während sich Millionen andere auf Arbeitslosigkeit einstellen müssen.

Nach dem schrittweisen Ende des Lockdowns in Europa und den USA hoffen viele, dass die Wirtschaft wieder an Fahrt gewinnt. Die Menschen sollen wieder konsumieren, die Unternehmen investieren – und auch die Hunderttausenden, die allein in der Schweiz auf Kurzarbeit gesetzt worden sind, schon bald wieder normal arbeiten und Geld verdienen.

Ob das für alle so sein wird, ist allerdings mehr als fraglich. Viele Branchen werden noch Monate oder gar Jahre nicht zur Normalität zurückkehren können. Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen. Allein in den USA, wo man das System der Kurzarbeit nicht kennt, sind inzwischen rund vierzig Millionen Menschen ohne Erwerbseinkommen. Weltweit besonders stark von der Krise betroffen sind die prekär Beschäftigten, denen eine soziale Absicherung fehlt. Selbst im reichen Zürich stehen inzwischen Hunderte von Menschen stundenlang für ein Gratispaket mit Esswaren an.

Ganz anders sieht es in der Welt der Finanzmärkte aus: Dank beispielloser Interventionen der Zentralbanken, allen voran die der US-Notenbank Federal Reserve (Fed), wurden die Finanzunternehmen nicht nur gerettet – in den letzten zwei Monaten haben sie gar wieder fette Gewinne eingefahren.

Angst und Panik an den Börsen

Der 16. März war der Tag, an dem das globale Finanzsystem auf der Kippe stand. Nachdem der US-Aktienleitindex Dow Jones schon in den Tagen zuvor massiv an Wert eingebüsst hatte, verlor er an diesem einen Tag fast dreizehn Prozent. Mehrmals musste der Handel unterbrochen werden. Auslöser dieses Kurssturzes war paradoxerweise eine Ankündigung der Fed, die die Lage eigentlich hätte beruhigen sollen. Doch deren überraschende Bekanntgabe, den Leitzins um einen Prozentpunkt zu senken, steigerte die Panik, die schon Tage zuvor an der Wall Street geherrscht hatte, weiter – indem sie die Dramatik der Lage zusätzlich unterstrich. Die ganze Finanzwelt schien eingefroren. Nichts ging mehr.

Wenn Aktienpreise sinken, verlagern HändlerInnen ihr Geld normalerweise in andere Anlagen und kaufen zum Beispiel Obligationen (also Schuldtitel von öffentlichen Institutionen oder Privaten) oder Gold. Doch am 16. März wollte niemand mehr irgendetwas kaufen. Die NZZ schrieb danach von einer «toxischen Kettenreaktion»: Alle wollten verkaufen, um möglichst viel Bargeld zu halten – möglichst in US-Dollar, der globalen Leitwährung.

Besonders dramatisch war die Situation, weil die Schulden der Unternehmen seit der Finanzkrise von 2008 massiv angestiegen waren. Schon zu jenem Zeitpunkt hatte es eine hohe Verschuldung gegeben, speziell im Immobiliensektor, was die damalige Krise überhaupt erst auslöste. Damals retteten die Zentralbanken die Finanzwirtschaft vor dem Kollaps, indem sie neues Geld druckten und die Zinsen senkten – was zu einer noch höheren Verschuldung führte.

Tiefe Zinsen animieren Unternehmen oft weniger dazu, billige Kredite für Investitionen zu nutzen, als vielmehr dazu, die Einkommen des obersten Managements und der Aktionäre zu steigern. So pflegen viele Aktiengesellschaften mit dem geliehenen Geld einen Teil der Aktien ihrer eigenen Firma zurückzukaufen, um sie zu vernichten – und so den Wert der verbliebenen Aktien zu erhöhen. Andere Unternehmen wiederum nehmen neue Kredite auf, um die Übernahme von Firmen zu finanzieren und so den Aktienkurs anzutreiben. Auf diese Weise ist das jährliche Medianeinkommen der CEOs der 400 grössten US-Unternehmen innert zehn Jahren um fast fünf auf über dreizehn Millionen US-Dollar gestiegen.

Die Banken organisieren die Kredite und verteilen sie via Obligationen auf ihre KundInnen. Auch Obligationen von Unternehmen, die Gefahr laufen bankrottzugehen, sind dabei sehr beliebt, weil deren Zinsen besonders hoch sind und sie an den Börsen gehandelt werden können. Risikoreiche Schuldtitel schlagen besonders stark aus. Auch Fondsgesellschaften wie der Gigant Blackrock kaufen solche Obligationen für ihre sogenannten Exchange Traded Funds, die ebenfalls an der Börse gehandelt werden.

Inzwischen haben die Banken weitere Instrumente kreiert, um Schuldtitel der Spekulation zuzuführen. So warfen sie in den letzten Jahren immer mehr sogenannte Collateralized Loan Obligations (CLO) auf den Markt, deren Gesamtwert laut dem Internationalen Währungsfonds mittlerweile 750 Milliarden US-Dollar beträgt. Dabei handelt es sich um handelbare Wertpapiere, denen Schulden von Unternehmen aus verschiedenen Branchen – und je nachdem auch mit unterschiedlicher Bonität – zugrunde liegen. Dieses Konstrukt erinnert fatal an die Collateralized Debt Obligations, die Hypothekarschulden bündeln und mit ihrem Wertzerfall die Finanzkrise von 2008 mit ausgelöst hatten.

Auch sogenannte Private-Equity-Unternehmen nutzen die tiefen Zinsen. Früher als «Heuschrecken» bezeichnet, kaufen sie mit geliehenem Geld Unternehmen auf, um etwa «überschüssiges Personal» zu entlassen und profitable Teile gewinnbringend weiterzuverkaufen. Real Estate Investment Trusts (REITs) wiederum nutzen die tiefen Zinsen, um Immobilien auf Pump zu kaufen. In der Krise von 2008 verloren in den USA ebenso wie in europäischen Ländern Millionen von Menschen ihre Eigenheime, weil sie die Hypothekarzinsen nicht mehr zahlen konnten. Viele REITs packten die Gelegenheit beim Schopf – und kamen so schnell zu einer grossen Zahl preiswerter Liegenschaften, die sie seither profitabel vermieten oder mit Gewinn weiterverkaufen. Andere REITs kaufen derweil mit billigen kurzfristigen Krediten im grossen Stil Schuldpapiere auf, die mit Immobilien gesichert sind.

Mitte März drohte diese gigantische Schuldenblase zu platzen: REITs, die ihre Immobilienschulden mit neuen kurzfristigen Krediten finanzieren wollten, mussten plötzlich einen massiven Aufschlag in Kauf nehmen. Die Banken sassen auf CLOs, die niemand mehr wollte; die Kurse der Exchange Traded Funds (ETF) stürzten ins Bodenlose – und vielen Unternehmen drohte wegen ihrer hohen Verschuldung und der Unmöglichkeit einer Neuverschuldung der Konkurs. Niemand traute mehr dem anderen, dass er die alten Schulden bezahlen könne.

Die Nationalbanken retteten schliesslich das Spiel mit einer beispiellosen Aktion. Die Europäische Zentralbank kündigte am 19. März den Kauf von privaten und öffentlichen Schuldpapieren im Wert von total 750 Milliarden Euro an; am 4. Juni stockte sie den Betrag um weitere 600 Milliarden auf. Und die Fed erklärte am 23. März, mit der Summe von 4 Billionen US-Dollar Kreditpapiere wie zum Beispiel ETF zu kaufen, und stockte den Betrag am 9. April um weitere 2,3 Billionen auf. Allein diese Ankündigungen reichten schon, um die Kurse wieder nach oben schnellen zu lassen. Denn die Botschaft lautete: Es wird immer einen Käufer geben, auch für noch so unsichere Papiere. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) verteilt derweil den Schweizer Banken ab Ende März nicht nur einfach Kredite: Wer Geld von der SNB bezieht, bekommt obendrauf gar noch einen Minuszins von 0,75 Prozent. Das soll die Banken dazu animieren, neue Unternehmenskredite zu vergeben.

Die Nationalbanken retten damit nicht nur die KapitalbesitzerInnen, also die Reichen und Superreichen, sondern auch die Pensionskassen, die in den letzten Jahren wegen der tiefen Zinsen in immer riskantere Anlagen investiert haben. «Sie hatten keine andere Wahl», sagt der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann dazu. «Hätten sie nicht gehandelt, wäre es zum Infarkt gekommen. Das Spiel muss weitergehen.» Doch auch Straumann ist überzeugt: «Ewig kann man es nicht weitertreiben.»

Plus 565 Milliarden in elf Wochen

Mit ihrer Aktion haben die Zentralbanken gezeigt, dass sie zum zentralen Machtfaktor geworden sind. Ohne demokratische Kontrolle agieren sie nach Gutdünken im Interesse der Finanzwelt. Und können sich damit legitimieren, dass ein Zusammenbruch des Finanzsystems auch grosse Teile der Bevölkerung träfe.

Für den britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ist die Macht der Nationalbanken mit der Coronakrise nochmals stark angewachsen. In einem Beitrag in der Zeitschrift «Foreign Policy» macht er einen eigentlichen Wandel aus: Waren die Zentralbanken einst vor allem dazu bestimmt, die Inflation zu bekämpfen oder eine Deflation zu verhindern und als Kreditgeber der letzten Instanz mit ihrer Zinspolitik die Wirtschaft anzukurbeln oder abzuschwächen, so seien sie nun zu den «Händlern der letzten Instanz geworden», um das «Einfrieren des Finanzsystems» zu verhindern – und das «mit unbeschränkter Feuerkraft».

Mit den Interventionen wird die Ungleichheit jedoch nur noch weiter verstärkt. Laut einer Analyse des unabhängigen US-amerikanischen Institute for Policy Studies vergrösserte sich in den elf Wochen zwischen dem 18. März und dem 4. Juni das Vermögen der Reichen und der Superreichen in den USA um 565 Milliarden US-Dollar. Der Weltaktienindex ist seit dem Kurzeinbruch um dreissig Prozent gestiegen – während weltweit immer mehr Menschen ihre Arbeit verlieren und vor dem Nichts stehen.

Es wird weiter spekuliert

Mit ihrem Aufkauf von Unternehmensschulden und ihrer Tiefzinspolitik heizen die Nationalbanken auch die Verschuldung der Unternehmen weiter an. Das Spiel geht nun also auf einem Level höher weiter. Grosse Konzerne haben in den letzten Wochen Hunderte Milliarden US-Dollar neue Schulden gemacht. Allein der strauchelnde US-Luftfahrtkonzern Boeing nahm jüngst 25 Milliarden Dollar frisches Geld auf. Ausgerechnet Boeing, dessen Flugzeuge vom Typ 737 Max nach zwei Abstürzen nach wie vor nicht wieder fliegen dürfen und der angesichts der Krise der Fluggesellschaften mit Stornierungen en masse rechnen muss.

«Firmen, die eigentlich längst Konkurs gehen müssten, verschulden sich weiter. Die werden das wohl nie zurückzahlen können», sagt der Ökonomieprofessor Sergio Rossi von der Universität Fribourg. Man rette ein System, das nicht nachhaltig sei. Laut Rossi haben die Interventionen der Nationalbanken kaum Einfluss auf die Realwirtschaft. «Die Firmen investieren nicht, wenn sie nicht glauben, sie könnten etwas verkaufen.» Das Geld werde mehrheitlich für weitere Spekulationen auf den Finanzmärkten benutzt. Die Firmen würden deswegen auch nicht mehr Steuern zahlen. «Die Schuldenblase ist derart gross – ich weiss nicht, wie das gelöst werden kann», sagt Rossi.

Ginge es nach Rossi, so hätten die Zentralbanken den Staaten Geld vielmehr für Investitionen in einen ökologischen Umbau der Wirtschaft ausleihen sollen: «Es braucht einen Marshallplan für milliardenschwere Investitionen in den ökologischen Umbau und den Ausbau des Gesundheits- und Betreuungssektors.» Die autonom agierenden Zentralbanken denken jedoch offensichtlich nicht daran, die soziale und die ökologische Krise zu lösen. Sie berufen sich dabei auf einen gesetzlich definierten Auftrag – und pumpen die Spekulationsblase weiter auf.