«Vorläufig Aufgenommene»: Integration auf Nothilfeniveau

Nr. 24 –

«Vorläufig aufgenommene» Menschen sollen integriert werden – trotzdem müssen sie teilweise mit 300 Franken pro Monat überleben, wie ein neuer Bericht zum Kanton Zürich zeigt. Dafür findet selbst die kantonale Fachstelle Integration kritische Worte.

Das Recht auf soziale Teilhabe: Gewisse Zürcher Gemeinden finanzieren nicht einmal Zugbillette für die Fahrt zum Sprachkurs. Foto: Ursula Häne

Sogar wenn die Behörden anerkennen, dass Menschen nicht in ihr Heimatland zurückkönnen, behandeln sie diese nicht immer besser als jene, die sie ausschaffen möchten. Im Kanton Zürich gibt es eine Gemeinde, die den ihr zugewiesenen «vorläufig Aufgenommenen» monatlich 300 Franken für den Lebensbedarf gibt – 10 Franken pro Tag, so wenig wie anderswo die Nothilfe. Manche Gemeinden bringen «vorläufig Aufgenommene» in «Kollektivunterkünften» unter; in einer Gemeinde müssen sie gar in der Notunterkunft wohnen.

Das «vorläufig» ist irreführend: Die meisten Menschen mit Aufenthaltsstatus F stammen aus Afghanistan, Eritrea und Syrien. Sie sind Kriegsvertriebene und würden in anderen Ländern Asyl erhalten. Hierzulande jedoch bleiben sie jahrelang in einem dauernden Provisorium mit grundrechtlichen Einschränkungen gefangen, wie es europaweit einmalig ist. Letzteres hat mittlerweile auch das Staatssekretariat für Migration (SEM) anerkannt: Seit 2019 sind sie in der Integration anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt. Die Integrationsagenda des Bundes umfasst Sprache, Ausbildung, Arbeits- und Gesellschaftsleben, sogar Frühförderung. Nur: Wie soll diese Gleichstellung funktionieren, wenn ihnen Grundrechte verwehrt sind und sie, wenn sie zum Beispiel in Aus- oder Weiterbildung sind, knapp über Nothilfeniveau überleben müssen?

Die Willkür der Gemeinden

Dieses Paradox besteht schweizweit. Im Kanton Zürich gibt es mit Map-F eine unabhängige Monitoringstelle, die die Situation der knapp 7000 Betroffenen beobachtet. Ihr neuster Bericht enthält die Resultate einer Befragung, an der knapp jede zweite Zürcher Gemeinde anonym teilgenommen hat. «Es geht uns darum, dass das System diskutiert und hinterfragt wird», sagt Moritz Wyder von Map-F. Das Grundproblem: Der Spielraum der Gemeinden ist enorm – im Kanton gibt es bloss Empfehlungen. Oft agieren Gemeindebehörden auch aus Unkenntnis, wie die Map-F zeigt: Um Integrationsangebote wie etwa Sprachkurse zugänglich zu machen, müssen Zug- und Bustickets übernommen werden. «In etlichen Fällen», so Map-F, hätten Gemeinden aber angegeben, dass lokale ÖV-Tickets bereits mit den wenigen Hundert Franken Asylfürsorge pro Monat abgegolten seien. Ein Irrtum.

Die Sozialkonferenz des Kantons Zürich (Soko) empfiehlt knapp 700 Franken für den Grundbedarf, weit mehr als etwa die 400 Franken im Kanton Solothurn; aber anders als dort bloss in der Form einer Empfehlung, die viele Zürcher Gemeinden unterschreiten – bis zum Extremfall von 10 Franken pro Tag. Das ist gleich wenig wie die Nothilfe im Kanton Obwalden. Per Gesetz aber muss die Unterstützung an nicht erwerbstätige «vorläufig Aufgenommene» zwar tiefer sein als die Sozialhilfe, aber höher als die Nothilfe. Ist das also überhaupt legal?

Auf Anfrage teilt ein SEM-Sprecher mit, es gehe «nicht primär um legal oder illegal». Die Beträge würden sich «interkantonal sehr wohl unterscheiden können»: «Es ist durchaus möglich, dass die Nothilfe im ‹teuren› Genf höher bemessen ist als die Sozialhilfe im ‹billigen› Graubünden.» Dass das Leben in Obwalden eher jenem in Graubünden ähnelt als jenem in Genf, ist beim SEM anscheinend unbekannt.

Mario Fehr will nichts ändern

Bei der Fachstelle Integration des Kantons Zürich findet man, unabhängig davon, um welche Gemeinde es sich handelt, entschiedene Worte. Die Integrationsdelegierte Nina Gilgen teilt mit, dass mit einem solchen Betrag «sowohl das Recht auf eine angemessene Unterkunft wie auch das Recht auf soziale Teilhabe missachtet» werde. Beides sei aber nötig für eine erfolgreiche Integration. 300 Franken sind «weniger als die Hälfte der Empfehlung durch die Soko». Dabei sollten, so Gilgen, die «empfohlenen Mindeststandards für den Grundbedarf» aus «integrationspolitischer Sicht zwingend» nicht unterschritten werden. Dass «vorläufig Aufgenommene» nach einem kantonalen Volksentscheid trotz Integrationsauftrag aus der regulären Sozialhilfe ausgeschlossen wurden, habe zu einem «Spagat» geführt, den die «Mehrheit der Städte und Gemeinden» schaffe.

Momentan ist die Umsetzung der Integrationsagenda in einer Übergangsphase. Ab 2021 wird der Kanton laut Gilgen «mit allen Gemeinden Ziele, Grundsätze und Bedingungen definieren und die Umsetzung der Integrationsagenda mit engem Monitoring begleiten». Map-F fordert hingegen einheitliche Richtlinien. Soko-Kopräsident Daniel Knöpfli sagt, dass «sehr viele Gemeinden hervorragende Integrationsarbeit leisten», die Ausgestaltung von Integrationsarbeit «in einem föderalen Staat» jedoch «sehr unterschiedlich» sei. Die Soko habe sich aber «mehrfach bereit erklärt», an «einheitlichen Richtlinien etwa über die kantonale Asylfürsorgeverordnung» mitzuwirken.

Die Fachstelle Integration ist dem Justizdepartement angeschlossen; die Asylfürsorge obliegt Mario Fehrs Sicherheitsdepartement. Und dort gibt es keinen Änderungswillen: «Die Gemeinden verfügen über einen Spielraum», teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. Der Regierungsrat habe festgehalten, «dass er keinen Anlass habe, diesen noch weiter zu verringern». Der Sprecher verweist auf einen Regierungsratsentscheid von 2016. Damals erhielten nicht erwerbstätige «vorläufig Aufgenommene» im Kanton aber auch noch 986 Franken reguläre Sozialhilfe im Monat – mancherorts müssen sie heute mit weniger als einem Drittel davon überleben.