Durch den Monat mit Nicolas Galladé (Teil 2): «Welche Nachteile hat der Status S?»

Nr. 23 –

Als Winterthurer Sozialvorsteher ist Nicolas Galladé auch für die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine verantwortlich. Er kritisiert, dass sich der Bund in dieser Frage zu wenig für die Arbeit der Städte interessiere.

Nicolas Galladé: «Was ist, wenn das erste Kriegsjahr vorüber ist? Behalten die Menschen dann den Schutzstatus?»

WOZ: Herr Galladé, wie viele Menschen aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn nach Winterthur geflüchtet?
Nicolas Galladé: Ganz genau lässt sich das nicht sagen, aber aktuell wissen wir von rund 650 ukrainischen Geflüchteten, die hier untergekommen sind. Das ist ziemlich beachtlich: Vor drei Monaten hatten wir gesamthaft etwa 420 Geflüchtete, es gab also mehr als eine Verdoppelung innerhalb von zwei, drei Monaten.

Befindet sich ihr Amt deshalb im Dauerausnahmezustand?
Es ist vor allem die operative Ebene wie die Sozialberatung Asyl, die extrem gefordert ist. Wir mussten manche Arbeitsprozesse umstellen, denn ein solch sprunghafter Anstieg ist gar nicht zu bewältigben, wenn du weiter funktionierst wie immer. Ebenfalls stark herausgefordert sind wir im Bereich der Unterbringung: Wir sind dafür zuständig, dass niemand in dieser Stadt obdachlos sein muss.

Ich selbst habe die politische Leitung, für mich ist es vor allem mental herausfordernd. Es geht da insbesondere um die übergeordnete und die politische Vernetzung mit Kanton und Bund, was gerade bei Letzterem auch mit Ärger und Frust verbunden ist.

Warum?
Asyl ist eine Verbundaufgabe, da braucht es eine Gesamtsicht. Ich hatte in den drei Monaten seit Kriegsbeginn aber eher das Gefühl, dass der Bund vor allem seine eigenen Probleme zu lösen versucht hat: Er wollte sein Vorgehen mit Europa abgleichen, indem er Geflüchteten aus der Ukraine den kollektiven Schutzstatus S erteilte. Diesen Entscheid finde ich absolut richtig. Der Bund übertrug die Verantwortung für die Menschen und die damit verbundenen Aufgaben rasch an die Kantone, und von dort ging sie je nach kantonaler Organisation an Städte und Gemeinden. Meines Erachtens wurde dabei nicht allzu viel überlegt. Natürlich, im Asylbereich stellte der Krieg für alle eine völlig neue Herausforderung dar. Umso wichtiger wäre es gewesen, nach der Aktivierung des Status S zu sagen: Wir müssen uns zwischen den Staatsebenen möglichst rasch zusammenschliessen.

Welche Fragen stellen sich konkret?
Der Status S ermöglicht eine unbürokratische Aufnahme ohne individuelle Verfahren. Aber was machen wir dann mit den Menschen? Was ist, wenn das erste Kriegsjahr vorüber ist? Behalten sie dann den Schutzstatus? Welche Integrationsangebote sind sinnvoll? Auf kommunaler Ebene ist da sehr viel Know-how vorhanden, das auch der Bund stärker einbeziehen sollte. Zudem hat der Status S für die Geflüchteten nicht nur Vorteile.

Welche Nachteile gibt es?
Gegenüber dem Status F, also einer vorläufigen Aufnahme, hat der Status S grosse Vorteile, was die Reisefreiheit, die Arbeitsmarktintegration und den Familiennachzug betrifft. Demgegenüber ist der Status F geradezu schikanös. Aber die Fallpauschale, die der Bund gemäss Integrationsagenda für vorläufig Aufgenommene und anerkannte Geflüchtete an die Gemeinden zahlt, ist mit 18 000 Franken viel höher als die 3000 Franken, die er bislang für die Ukrainer:innen bereitstellt. Diese seien ja «rückkehrorientiert» und nicht «integrationsorientiert», wird gerne gesagt. Aber was, wenn der Krieg noch lange dauert? Wenn eine Rückkehr nicht möglich ist? Unsere Erfahrung zeigt, dass man sinnvollerweise möglichst rasch Geld in Sprach- und Bildungsangebote investiert. Und an einem Punkt ist der Status S für Geflüchtete genauso schlecht wie der Status F: beim Grundbedarf für den Lebensunterhalt, der sogenannten Asylfürsorge.

Was bedeutet das?
Als die Asylverfahren noch viel länger dauerten als heute, sagte man: Die Asylsuchenden dürfen während dieser Zeit nicht zu viel Geld erhalten. Man sprach für sie einen reduzierten Ansatz an Sozialhilfeleistungen. Und seit einer Gesetzesänderung des Bundes steht auch Menschen mit Status F, die also einen ausgewiesenen Schutzbedarf haben und dauerhaft hier leben, weniger Geld zu als anerkannten Flüchtlingen und Sozialhilfebezüger:innen. Die Kantone regeln das unterschiedlich, und mancherorts sind die Beiträge unglaublich tief. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe rechnet mit einem Grundbedarf von monatlich 1000 Franken zum Leben, manche Gemeinden zahlen jedoch offenbar bloss 300 bis 500 Franken.

Wie viel zahlt Winterthur?
704 Franken für eine Einzelperson, 1309 für eine dreiköpfige Familie. In einer Kollektivunterkunft oder Wohngemeinschaft ist es weniger. Das entspricht den Empfehlungen der Sozialkonferenz des Kantons Zürich.

Und die Asylfürsorge gilt also auch für den Status S?
Genau. Dass die Ukrainer:innen folglich genauso nachteilig behandelt werden, hat bereits für einige Empörung gesorgt. Da muss ich sagen: Ja, ich bin derselben Meinung. Bloss ergeht es in der Schweiz vielen Menschen mit ausgewiesenem Schutzbedarf schon lange so. Wir müssen diesen Fehler grundsätzlich korrigieren.

In diesem Frühling wurde Nicolas Galladé (46) zum vierten Mal in den Winterthurer Stadtrat gewählt. Wie man den Job als Exekutivpolitiker am besten mache, habe er erst Mitte der zweiten Amtszeit herausgefunden.