Essay: Alltag der lebenden Toten

Nr. 25 –

Immer mehr Abläufe in unserem Leben folgen einer Logik, auf die wir keinen Einfluss zu haben scheinen. Dabei ist das tote Kapital nur so mächtig, wie wir, die Lebenden, es zulassen.

Wohin wir auch blicken: Wir alle sind Untote der ökonomischen Prozesse – Szene aus dem Film «Nacht der lebenden Toten» von George A. Romero. Foto: PictureLux, Alamy

Der Zombie ist die popkulturelle Figur unserer Zeit: die Kinderverkleidung zu Halloween, die Verkörperung des ultimativen Schreckens in Serien und Kinofilmen, das abzuknallende Böse in Computerspielen. Warum beschäftigen uns die Untoten so sehr? Wen oder was erkennen wir in den seelenlos, wie fremdgesteuert umherirrenden Zombies? Was fesselt uns an Kreaturen, die die Energie der Lebenden aufsaugen, ihre Opfer dabei aber nicht töten, sondern assimilieren?

Die simpelste Antwort lautet wohl: die Faszination am Drastischen. Gestalten, die wie Menschen aussehen, aber keine mehr sind, nur noch von einem restanimalischen Instinkt getrieben werden, überschreiten alle Grenzen, wobei das Motiv seine Kraft auch daraus zieht, dass wir alle zu Zombies mutieren können. Das absolut Andere schlummert in uns selbst. Trotzdem kommen die Untoten in den meisten Filmen wie eine Invasionsarmee daher – in der extrem aufwendig produzierten, aber inhaltlich dann doch eher einfältigen Fantasysaga «Game of Thrones» zum Beispiel. Zwar kreist die Serie – mit einer knappen Milliarde US-Dollar Produktionskosten die bislang teuerste TV-Produktion der Geschichte – um die dunkle Seite von Politik und Kultur: Die Macht der Königreiche beruht auf Intrigen und roher Gewalt, jede Moral scheint verloren gegangen. Das eigentliche Grauen, das die Menschheit wieder zusammenführt, rückt indes von aussen heran.

Es sind die «Weissen Wanderer»: enthemmte, als Menschenflut heranstürmende Ungeheuer, die einem finsteren «Nachtkönig» folgen. Irgendwann war es der Menschheit gelungen, die anschwellende Zombiegefahr mit einer Eismauer zu stoppen. Auch wenn sich die unwirtliche Welt, die die Weissen Wanderer zu verlassen suchen, im Norden und nicht im Süden erstreckt, liegt spätestens hier die Analogie zu den realen Verhältnissen auf der Hand: Die Eiszombies, im Original bezeichnenderweise auch «the others» (die Anderen) genannt, sind gesichtslose, elende Massen, die an die Aussengrenzen der Zivilisation branden. Deshalb verstand man die Botschaft sofort, als US-Präsident Trump Anfang 2019 in Anspielung auf das Motto der Fantasysaga («Winter is coming») ein Bild mit dem Spruch «The wall is coming» twitterte: Die Weltwohlstandszonen wollen vor den Killerhorden «da draussen» geschützt werden.

Vereint gegen das Andere

Es gab aber noch eine zweite, weniger beabsichtigte Analogie zur Fantasysaga: So wie in «Game of Thrones» der Schrecken der umherstreifenden Eiszombies dafür sorgt, dass sich die Königreiche gegen die äussere Bedrohung vereinen, dient die politische Erzählung der «Anderen» durch Rechtsextreme wie Trump als ideologischer Kitt, mit dem die auseinanderdriftenden Marktgesellschaften zusammengehalten werden sollen. Die Konstruktion eines Aussen verschleiert die sozialen und ökonomischen Widersprüche im Inneren.

Offenbar macht die Eigenschaft des Zombies, das «Andere» zu repräsentieren, ihn für die Popkultur so interessant: Da Zombies Antimenschen sind, kann an ihnen das eigene «Andere» ausgelebt werden. Zumindest in Computerspielen besteht ihre Funktion fast ausschliesslich darin: Entmenschlichte, empathielose Kreaturen kann man ohne Gewissensbisse abknallen und damit dem eigenen Bedürfnis nach Empathielosigkeit nachgehen. In dieser Hinsicht hat der Zombie etwas von Giorgio Agambens «Homo sacer»: ein Vogelfreier, der straffrei getötet werden darf. Letztlich erlaubt er die Externalisierung jener Entmenschlichung, die wir ausleben, indem wir sie bekämpfen. Der innere Abgrund wird zum Aussen, das sich niedermetzeln lässt.

Die Paranoia der Mehrheit

Betrachtet man die Ursprünge des popkulturellen Zombiemythos, ging es lange jedoch weniger darum, ein Aussen zu konstruieren, als vielmehr darum, in genau diesen Abgrund zu blicken. Über die gesellschaftskritischen Aspekte bei George A. Romero, der das Genre mit seinen Filmen massgeblich prägte, sind unzählige Texte geschrieben worden, und wirklich lassen sich die – heute eher harmlos daherkommenden – Schocker als politische Dokumente ihrer Zeit lesen. In Romeros «Nacht der lebenden Toten» aus dem Jahr 1968 schweisst der Angriff der Untoten eine Gruppe von sieben Personen zu einer Zwangsgemeinschaft zusammen. Das eigentliche Drama ist jedoch schon bald nicht mehr der Kampf gegen die Zombies, sondern findet, wie die Filmkritikerin Alissa Wilkinson schrieb, «im Inneren des Hauses statt, wo die noch Lebenden heftig darüber streiten, was sie gegen die ‹lebenden Toten› draussen unternehmen sollen».

Im Mittelpunkt des Dramas steht der Afroamerikaner Ben, der Verantwortung für die Gruppe übernimmt, aber dem die anderen aus rassistischen Gründen misstrauen. Am Ende wird Ben von einem weissen Sheriff erschossen, der ihn für einen Zombie hält. So spiegelt der Film sowohl die amerikanische Verunsicherung der sechziger Jahre als auch die weisse Paranoia der Mehrheitsgesellschaft. Gleichwohl Romero es nie so gemeint hat, lässt sich das Ende des Films wie eine Allegorie auf die bis heute in den USA (und nicht nur dort) herrschende Polizeigewalt interpretieren: «Black lives don’t matter.»

Ursprünglich scheint es beim Zombiemythologem vor allem um die Furcht vor Kontrollverlust gegangen zu sein. In Haiti, von wo aus die Zombieerzählung in die USA gelangte, heisst es, Menschen könnten durch Voodoozauber in Untote verwandelt werden. Eine der Varianten hiervon ist der «Zombie cadavre», ein höriger Arbeitssklave ohne Bewusstsein. Der Anthropologe Wade Davis behauptete in den achtziger Jahren, eine wissenschaftliche Erklärung für den Mythos gefunden zu haben: Haitianische Hexer versetzten ihre Opfer mithilfe des Nervengifts Tetrodotoxin, das unter anderem in Kugelfischen vorkommt, in eine Art Scheintod und erweckten sie nach einer Beerdigung dann heimlich wieder zum Leben. Diese «Untoten», die offiziell nicht mehr existieren und dementsprechend von niemandem gesucht werden, würden mit Drogen willenlos gehalten, um ihren Herren zu Diensten zu sein. Auch wenn das «Zauberpulver», das Davis als Beweis aus Haiti mitgebracht hatte, wirkungslos und sein wissenschaftlicher Nachweis dementsprechend gefälscht war, änderte das nichts daran, dass Davis’ Buch «The Serpent and the Rainbow» zu einem Bestseller wurde, auf dessen Grundlage dann Wes Craven 1988 den gleichnamigen Horrorfilm drehte. Darin reist ein US-Wissenschaftler im Auftrag eines Pharmakonzerns nach Haiti, um den Zombiezauber zu erforschen, wird dabei aber selbst Opfer eines schwarzen Magiers.

Auch diese Geschichte zeigt, wie die Furcht vor dem Selbst externalisiert werden kann: Angloamerikanische WissenschaftlerInnen erforschen, wie schwarze Zauberer ihre Mitmenschen versklaven. Damit wird die Ahnung verdrängt, dass der Voodoomythos mit einer viel realeren Erfahrung zu tun haben könnte. Es waren keine Voodoohexer, die die Vorfahren der HaitianerInnen in einen Scheintod versetzten und zu willenlosen Kreaturen, nämlich zu ArbeitssklavInnen auf ihren Plantagen, machten, sondern europäische Geschäftsleute, Vorreiter jener bürgerlichen Moderne, in der sich der Wissenschaftsgeschäftsmann Wade Davis so geschmeidig zu bewegen verstand.

Georg Seesslen schreibt, im Horrorfilmgenre gehe es immer um uns selbst: um das Monströse des Menschen und seiner Gesellschaft. Aber es ist eben auch andersherum: Monster sind immer die anderen. Beim Zombie geht es um Kontrollverlust und absolute Fremdbestimmung: Man lebt und ist doch tot. Die Angst davor ist umso grösser, als Identität in der bürgerlichen Gesellschaft massgeblich auf Autonomie und Selbstkontrolle beruht. Doch unsere Erfahrung des In-der-Welt-Seins stimmt trotz aller Freiheitsrhetorik damit kaum überein. Die Untoten faszinieren, weil uns das Gefühl, maschinenhaft fremdgesteuert zu sein, allzu vertraut ist.

Dass Lohnarbeit an das Dasein von Untoten erinnert, ist kein besonders origineller Gedanke. Jeder, der selbst schon einmal an einem Fliessband oder einer Supermarktkasse gearbeitet hat, kennt das Gefühl, zum Anhängsel einer Maschine zu werden. Fritz Lang hat im Film «Metropolis» dafür das Bild einer die Arbeiterschaft verschlingenden Maschine geschaffen, und auch in der Fabrikliteratur – von Louis-Ferdinand Célines «Reise ans Ende der Nacht» (1932) über Nanni Balestrinis «Wir wollen alles» (1971) bis hin zu Ben Hampers «Rivethead. Tales from the Assembly Line» (1992) – geht es um den Autonomieverlust als Folge entfremdeter Arbeit. Die technische Entwicklung hat zwar auch dafür gesorgt, dass manche stupiden Arbeiten heute von Maschinen erledigt werden. Gleichzeitig jedoch haben sich die Zombietätigkeiten in die Gesellschaft hinein ausgebreitet.

Kaufen, kaufen, kaufen!

Die Spätmoderne ist eine eigenartige Epoche: Auf der einen Seite sind die Selbstbestimmungsdiskurse das Mantra unserer Gesellschaft, und die Leitideologie des Individualismus duldet keine Einwände. Andererseits folgen immer mehr Abläufe in unserem Leben einer Logik, auf die wir keinen Einfluss zu haben scheinen, ja die unseren Interessen diametral widerspricht. So wie sich einst die Fabrik den Arbeiter einverleibte, werden nun auch alle anderen Bereiche unseres Lebens vom ökonomischen System kolonisiert. Wir arbeiten nicht mehr, um leben zu können, sondern leben, um die Produktion zu erhöhen. Wir lernen nicht, um die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sondern um «Humankapital» für die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu bilden. Die Entwicklung der Städte richtet sich nicht in erster Linie nach menschlichen Bedürfnissen, sondern folgt den Gesetzen der Immobilienmärkte. Und selbst der Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltzerstörung hat offenbar nur dann eine Chance, wenn er den involvierten Konzernen neue Geschäftsmodelle eröffnet. Solange es keine Investitionsalternativen gibt, muss sich unsere Gesellschaft weiter an den Interessen von Lufthansa, VW und Bayer orientieren. Im Mittelpunkt unserer Gesellschaft steht nicht das gute Leben, sondern die Wertsteigerung.

Diese Ökonomisierung wird allerorten lamentiert, doch die zugrunde liegende Struktur bleibt immer ein wenig im Opaken, so als dürfte das Problem nicht direkt benannt werden. 2018 gewann Hannes Vollmuth von der «Süddeutschen Zeitung» mit einer Reportage über das Veröden der Schweinfurter Innenstadt den Journalistenpreis der deutschen Wirtschaft. Dort beschreibt er, wie die Errichtung einer «seelenlosen» Shoppingmall Schweinfurt verändert hat, und spricht von einer «zerrissenen Stadt», deren Zentrum so leer sei, «als habe die Apokalypse schon stattgefunden». Bei der Soziologin Eva Illouz lesen wir, wie unsere Liebesbeziehungen durch neue Technologien entleert worden sind. Verwundert beobachten wir, wie unsere Kinder nicht mehr von Märchengestalten, sondern von den Merchandisingfiguren der «Star Wars»-Saga träumen (die sicher nicht schlechter als ein traditionelles Märchen ist, aber eben doch einer anderen Funktionslogik gehorcht, nämlich dem Verkauf von Fanartikeln).

Selbst beim Genuss geht es letztlich nicht mehr um Genuss. Von Slavoj Žižek gibt es die schöne Beobachtung, heute stehe aus Zeitgründen nicht mehr der Konsum, also das Verwenden eines Gegenstands, sondern der Kaufakt im Mittelpunkt des Begehrens. Das illustriert, wie weit die Kolonisierung des Lebens fortgeschritten ist – sie hat die innersten Bereiche unserer Persönlichkeit erfasst. Lust erzeugt, was den Bedürfnissen des Kapitals entspricht. Am besten wäre es, unser Leben würde nur noch aus einer Verkettung von Kaufakten bestehen, bei denen wir uns ausschliesslich symbolische Anerkennung aneignen. Die Grundlagen dafür sind längst gelegt – der Wert eines Turnschuhs, und zwar auch sein Gebrauchswert, besteht zum grössten Teil aus seinem Markenimage. Liessen wir die Schuhe ganz weg, wäre der Prozess sehr viel ökologischer.

Märkte ohne Schranken

Wohin wir auch blicken, erleben wir Situationen, in denen wir auf diese Weise zu Untoten des ökonomischen Prozesses werden. Einer Statistik der Motor Presse Stuttgart zufolge gibt die oder der durchschnittliche Deutsche in ihren beziehungsweise seinen 54 Jahren als AutobesitzerIn 332 000 Euro für ihre beziehungsweise seine Wagen aus – etwa 6000 Euro jährlich. Bei einem durchschnittlichen Nettoeinkommen von 3000 Euro monatlich würde dies bedeuten, dass ein Sechstel des Arbeitstags für den Erwerb und den Unterhalt des eigenen Fahrzeugs aufgewendet wird. Zwei bis drei weitere Stunden täglich arbeitet die oder der BewohnerIn einer deutschen Grossstadt für ihre oder seine Wohnung, die vor allem deshalb in den letzten vierzig Jahren so teuer geworden ist, weil der städtische Boden aus einem öffentlichen Gut in «Anlagekapital» verwandelt wurde. Wenn die Zahlen stimmen, könnten uns der Ausbau eines gut funktionierenden öffentlichen Verkehrssystems, eine andere Stadtplanung und der Schutz des Bodens vor Kapitalverwertung (alles beileibe keine revolutionären Massnahmen) einen beträchtlichen Teil jener drei oder vier Stunden täglich zurückgeben, die wir heute darauf verwenden, Automobilunternehmen, Ölkonzerne und Immobilienfonds am Leben zu erhalten.

Aber warum kommen wir nicht einmal auf die Idee, dass das möglich wäre? Warum verteidigen wir ein Verkehrsmodell, das Freiheit verspricht, aber Lungenkrankheiten produziert? Wieso wird kaum über die Möglichkeit gesprochen, in Anbetracht der Produktivitätszuwächse in der Industrie die Regelarbeitszeit auf 25 Stunden pro Woche zu senken? Weshalb halten wir Mieten von mehr als 1500 oder 2000 Euro im Monat für normal, obwohl wir doch wissen, dass für die Errichtung und Instandhaltung der Gebäude nur ein Bruchteil davon nötig wäre?

Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi würde antworten: Weil wir in Gesellschaften leben, die zu «Anhängseln des Marktes» geworden sind: «Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.» Die Märkte, so könnte man Polanyi resümieren, haben jede gesellschaftliche Schranke niedergerissen. Boden, Arbeit und Geld sind in Waren verwandelt worden, für Polanyi eine absurde Entwicklung, weil sie nicht im eigentlichen Sinn produziert werden und dementsprechend auch nur «fiktive Waren» seien.

Die Erklärung von Karl Marx würde ähnlich ausfallen, aber auf die materiellen Interessen dahinter abzielen: KapitaleigentümerInnen wollen ihren Einsatz vermehren und müssen das auch, wenn sie auf längere Sicht nicht verdrängt werden wollen. Der Akkumulationszwang hat einerseits einen durchaus willkommenen Effekt: Er führt zur steten Steigerung von Produktivität und Produktion, denn nur wer schneller und in grösseren Mengen herstellt, kann mehr verdienen. Andererseits aber beschleunigt dieser Motor auch dann weiter, wenn die Gesellschaft längst nichts mehr davon hat. Dann werden Unternehmen mit Tausenden Beschäftigten zerschlagen, um Kursgewinne an den Börsen zu erzielen, Kosten reduziert, indem man sie der Allgemeinheit aufhalst, neue Produkte designt, deren Bedarf erst aufwendig erzeugt werden muss. Oder man kehrt gleich ganz zu den frühen Formen der Bereicherung zurück: Gemeingüter, die niemandem, sprich allen gehören, werden privatisiert, der Reichtum der Natur wird in die Wüsten der Agrarplantagen verwandelt.

Was ist «sexy» an der Börse?

Und damit sind wir wieder bei den Zombies. Verblödet, ungelenk und fremdgesteuert wie George A. Romeros Untote wandeln wir durch unsere Welt und sorgen dafür, den Absatz von Waren sicherzustellen. Nur jene menschlichen Bedürfnisse, die mit dieser Aufgabe vereinbar sind, können berücksichtigt werden. Und so fühlen wir uns immer häufiger als seelenlose Avatare, als Darsteller eines Films, in dem wir zwar, wie uns ständig beteuert wird, einzigartige Hauptpersonen sind, dessen Drehbuch aber dennoch nicht von uns geschrieben wird.

Über das Untote der bürgerlichen Gesellschaft haben Linke schon früh Kluges geschrieben. In den Zeiten von Karl Marx war allerdings der Vampir populärer als der Zombie: «Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmässig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.» Marx war hier ganz bei den klassischen Ökonomen David Ricardo und Adam Smith, die der Ansicht waren, dass nur Arbeit Wert schaffen kann. Das ist es auch, was für Marx die bürgerliche Gesellschaft so paradox macht. Das Leben sorgt für die Ausbreitung des Untoten, hat es aber auch in der Hand, diesen Zustand zu beenden.

Da es kein Kapital ohne Arbeit gibt, kann Letztere das gesellschaftliche Zwangsverhältnis aufkündigen. Das tote Kapital ist immer nur so mächtig, wie wir, die Lebenden, es zulassen.

Noch besser zum Zombiemotiv passen die Passagen, die Marx über den Fetisch schrieb. Seiner Ansicht nach ist das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu Ware und Geld ganz ähnlich wie das animistischer Gemeinschaften zu ihren Fetischen: Kultobjekten werden Zauberkräfte zugesprochen, Gegenstände erwachen zum Leben, Totes und Untotes tauschen die Stellung. Während wir «Geld für uns arbeiten lassen», Geschäfte «florieren» und die Börse «sexy» ist, sind umgekehrt unsere sozialen Beziehungen verdinglicht: In Liebesbeziehungen muss «investiert» werden, Kinder sind ein «Kostenfaktor».

Ein Zombie namens Sozialismus

Es ist bizarr, dass das ganze bürgerliche Denken um das Eigentum und seine Mehrung kreist, seine politische Dimension jedoch kaum reflektiert: Das Eigentum begründet nicht nur starke partikulare Interessen, sondern ist vor allem eine Machtressource. Wir alle wundern uns, warum im Kampf gegen den Klimawandel so wenig passiert. Dabei liegt die Antwort auf der Hand: Eine grundlegende Konversion des Wirtschaftsmodells berührt die Interessen des Kapitals. Es ist die politische Macht der grossen Vermögen, die verhindert, dass im gesellschaftlichen Interesse gehandelt werden kann.

Und das ist schliesslich der Grund, warum hier über einen anderen Zombie gesprochen werden soll: den Sozialismus. Kaum etwas scheint toter als er, leblos taumeln seine AnhängerInnen, unverständliche Satzfetzen vor sich hinstammelnd, umher. Und noch viel zombiehafter war das untergegangene System. Gesichtslose Massen zogen wie fremdgesteuert unter Tribünen vorüber, auf denen blasse, alte Männer zitternd winkten: «The rule of the living dead».

Warum sollte man einen Begriff verwenden, der so abschreckende Erinnerungen aufruft? Meiner Ansicht nach gibt es zwei sehr gute Gründe dafür. Zum einen birgt die Geschichte der sozialistischen Bewegungen einen enormen Erfahrungsschatz, und die Bezugnahme auf sie zwingt uns dazu, uns mit der Komplexität und der Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Transformation auseinanderzusetzen, die unter anderen Vorzeichen vermutlich ganz ähnliche Probleme verursachen würde.

Zum anderen aber war die sozialistische Bewegung trotz ihrer Irrungen und Verbrechen auch die einzige Kraft, die die Verknüpfung von Eigentum, Macht und politischer Unfreiheit erkannt hat. Wenn es stimmt, dass Geld die Welt regiert, dann ist Gemeineigentum zwar noch keine Lösung, aber eine unverzichtbare Voraussetzung für alle demokratischen Lösungen.

Wir sind die Untoten des Kapitals. Die Eigentumsfrage bleibt der zentrale Hebel, um sich aus dieser Fremdbestimmung zu befreien.

Neues Buch von Raul Zelik

Der Beitrag auf dieser Doppelseite ist ein exklusiver, leicht gekürzter Vorabdruck aus dem neuen Buch von Raul Zelik: «Wir Untoten des Kapitals» erscheint dieser Tage im Suhrkamp-Verlag.

Der langjährige WOZ-Autor skizziert darin, wie sich die Linke heute in einem grossen emanzipatorischen Gegenentwurf neu erfinden könnte – und woher die gesellschaftliche Macht für eine derartige Transformation kommen soll.

Raul Zelik: «Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus». Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 240 Seiten. 26 Franken. Ab 22. Juni 2020 im Buchhandel.