Automobilismus: Die grosse Irrfahrt

Nr. 26 –

In den Städten gerät das Auto in die Defensive, die Coronapandemie beschleunigt den Trend. Überraschend? Erstaunlich ist vielmehr, dass die Vorherrschaft des Automobilismus so lange angehalten hat: ziemlich genau hundert Jahre.

  • Eroberung des Kantons Graubünden: Begleitfahrzeug zur Tour de Suisse bei Davos, frühe fünfziger Jahre. Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Comet Photo AG
  • Privileg der Oberschicht: Ohne körperliche Anstrengung vorankommen. Berner Bubenbergplatz, Mitte der dreissiger Jahre. Foto: Martin Hesse, Burgerbibliothek Bern
  • Fünf Mal stimmten die Bündner gegen das Auto. Bild: ACS, Sektion Graubünden
  • Die Mobilität der Kinder der Automobilität geopfert: Leporello, 1927. Bild: Justiz- und Sicherheitsdepartement Basel-Stadt
  • Von der Freiheit, im Stau zu stehen: Rückreiseverkehr aus dem Engadin am Julierpass. Foto: Arno Balzarini, Keystone

Am 9. Februar schoss der Gewerbeverband in Basel-Stadt ein Eigentor: Mit einer Volksinitiative wollte er mehr freie Fahrt für das Auto im Stadtkanton. Der Kantonsrat stellte dem einen anderen Vorschlag entgegen, der in die umgekehrte Richtung zielte – und an der Urne gewann: Ab 2050 sind im Stadtkanton nur noch «flächeneffiziente, emissionsarme, klima- und ressourcenschonende» Fortbewegungsarten zugelassen.

Am selben Abstimmungssonntag lehnte der Kanton Zürich den Rosengartentunnel ab. Er hätte Zürich Wipkingen von der automobilen Plage auf der Rosengartenstrasse befreien sollen. Doch gerade in Wipkingen war die Ablehnung besonders wuchtig. Der Grund: Mit dem Tunnel wäre die Stadt für den Autoverkehr noch attraktiver geworden.

Die Auswirkungen des motorisierten Individualverkehrs durch den Bau neuer Strassen lindern zu wollen, war jahrzehntelang eine mehrheitsfähige Idee. Jetzt verfängt sie nicht mehr. Auch die Fertigstellung des 1960 beschlossenen Nationalstrassennetzes stösst auf ihren letzten Kilometern auf heftigen Widerstand aus den Städten, die davon «profitieren» sollten – Biel, Luzern, Lausanne (siehe WOZ Nr. 6/2020 ).

Das Auto erfährt derzeit einigen politischen Gegenwind, im Ausland mehr noch als in der Schweiz. Die belgische Stadt Gent hat die Autos ziemlich radikal aus der Stadt verbannt, Birmingham will das System kopieren. Grossstädte wie Barcelona, Kopenhagen, Singapur oder Palermo befreien sich vom Autoverkehr. Im Wahlkampf um die Mairie von Paris versprach Amtsinhaberin Anne Hidalgo Anfang des Jahres, die Zahl der Privatautos halbieren zu wollen, und wenn ihre Konkurrentinnen auch nicht so weit gingen, stellte doch keine Hidalgos bisherige Verkehrspolitik infrage.

Die Coronapandemie beschleunigt nun diesen Trend. Die Mailänder Stadtregierung wollte ihre Stadt sowieso vom Auto befreien, im Lockdown hat sie nun kurzfristig 35 Kilometer Autofahrbahnen den Velofahrerinnen und Fussgängern umgewidmet. New York tat dasselbe auf 160 Kilometern. Viele deutsche Städte, aber beispielsweise auch Bogotá, markieren kurzfristig neue Velospuren, in Vilnius dürfen die Restaurants ihre Tische auf die Fahrbahnen stellen. In Italien zahlt der Staat bis 500 Euro an den Kauf eines Velos, und sogar die britische Regierung will Fussverkehr, Fahrräder und Busse auf Kosten der Privatautos fördern. Die Schweiz folgt zögerlich – Genf und Lausanne haben «Pop-up Bike Lanes» erstellt, der Kanton Waadt will neu 100 Kilometer Strassen mit Radwegen versehen, und die Städtekonferenz Mobilität schreibt, man müsse den «Schub, den die platzsparenden, gesundheitsfördernden und leisen Fortbewegungsarten in der Coronakrise erfahren haben», nutzen, «um ihnen dauerhaft ein grösseres Gewicht zu geben». Es ist ein Paradigmenwechsel: Jahrzehntelang dominierte in der Verkehrspolitik die Logik «Das Auto braucht viel Platz, also bekommt es viel Platz». Nun, wo alle Distanz halten sollten, geht es darum, das am meisten Platz fressende aller Verkehrsmittel zurückzudrängen.

Erleben wir eine Welle der Autofeindlichkeit, wie AutolobbyistInnen klagen, einen «Krieg ‹Velo gegen Auto›», wie der Aargauer FDP-Ständerat Thierry Burkart twitterte? Oder sollte man eher darüber staunen, dass die Epoche der Autofreundlichkeit so lange gedauert hat?

Spielzeuge der Reichen

Nämlich hundert Jahre: Was nun in den 2020er Jahren zu Ende gehen könnte, hat sich in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts durchgesetzt. Ende der 1920er Jahre «verschwand der Widerstand gegen das Automobil (…) und machte einer breiten Akzeptanz Platz», schreibt der Autohistoriker Christoph Maria Merki. Noch 1920 war keineswegs gewiss, dass es so kommen würde.

Zum Massenverkehrsmittel wurde das Auto zwar erst ab den 1950er Jahren. Die Politik ging zunehmend von dem Ideal aus, dass jeder Haushalt ein Auto besitzen sollte. 1950 waren 31, 1960 schon 96 und 1970 224 Autos pro tausend EinwohnerInnen zugelassen (heute sind es 540). Die Grundlage für das Auto als Massenverkehrsmittel wurde aber vor dem Krieg gelegt.

Das technische Gerät Automobil stammt aus dem 19. Jahrhundert: Autos mit Elektro- und Verbrennungsmotor wurden in den 1880ern erfunden (zuvor schon gab es mit Dampfmaschinen angetriebene Fahrzeuge). Aber diese Geräte waren (wie übrigens auch die ersten Velos) nicht viel mehr als Spielzeuge einiger Reicher. Im Ersten Weltkrieg wurden Lastwagen zu einem militärisch wichtigen Verkehrsmittel; viele Wehrmänner fuhren nun erstmals in einem Motorfahrzeug mit. Auch die Post stieg allmählich von Kutschen auf Busse um und ermöglichte so einer breiten Bevölkerung Fahrten mit einem Motorfahrzeug. Um aber das Leben und die Umwelt radikal umgestalten zu können, musste das Auto zum Teil eines Systems werden: Fahrzeuge, Infrastrukturen, Mentalitäten, Gesetze und Rechtspraxis entwickelten sich gemeinsam und beeinflussten sich wechselseitig. Erst dieses System brachte das hervor, woran man heute beim Wort «Auto» denkt.

Dieses System bildete sich wesentlich in den 1920er Jahren heraus. Zu dieser Zeit hatte sich auch die Sozialgeschichte des Autos von der des Velos abgespalten. Als Sportgerät hatte das Velo den jungen reichen Männern gefallen; als Verkehrsmittel setzte man lieber auf das Auto, war es doch seit jeher das Privileg der Oberschicht, ohne körperliche Anstrengung voranzukommen.

Graubündens langer Widerstand

Die grosse Mehrheit war zunächst keineswegs geneigt, einer kleinen Minderheit für dieses Privileg die öffentlichen Strassen zu überlassen. Am spektakulärsten leistete die Mehrheit in Graubünden Widerstand. Hier war das Auto ein Vierteljahrhundert lang verboten.

1897 kauft sich der Regierungsratspräsident als erster Bündner ein Auto. Er gibt es schon bald wieder zurück: Für die Bergstrassen der Landschaft Davos, wo er wohnt, taugt es nicht. Drei Jahre später wird auf den Bündner Strassen ein rotes Auto gesichtet. Die Zeitungen berichten; in Scuol fährt eine Kutsche in den Strassengraben, weil die Pferde scheuen. Ein Fahrgast droht mit einer Schadenersatzklage. Die Regierung handelt sofort und verbietet Autos. Als das Parlament das Verbot 1907 ein wenig lockern will, scheitert es an der Urne grandios. 1911 wird eine Volksinitiative mit grosser Mehrheit angenommen, die ein totales Autoverbot in die Kantonsverfassung schreibt.

Damals ist Graubünden schon eine international renommierte Reisedestination. Die Hoteliers wollen vom Auto nichts wissen: Ihre Gäste suchen Ruhe und reisen mit der Rhätischen Bahn an, der man, für viel Geld gebaut, nun keine Konkurrenz zumuten will.

Der Krieg bringt zwangsweise eine Lockerung des Verbots für Lastwagen der Armee und damit eine grosse finanzielle Belastung für die Gemeinden, die die Strassen und Brücken lastwagentauglich ausbauen müssen. Im letzten Kriegsjahr lässt die Bündner Regierung vierzehn Lastwagen zur Versorgung zu, weil das Futter für Kutschenpferde zu knapp ist; ab 1919 fährt ein Postauto von Chur auf die Lenzerheide. Am liebsten würde die Regierung das Verbot aufheben, zumal nun auch die Hoteliers die Seite gewechselt haben. Von 1919 bis 1925 müssen die Bündner siebenmal an der Urne über die Autofrage befinden. Fünfmal fällt das Verdikt gegen das Auto aus. 1923 stimmen die Bündner «autofreundlich», indem sie probeweise drei Strecken dem Autoverkehr freigeben, nur um im Januar 1925 zum totalen Verbot von 1911 zurückzukehren. Nicht einmal Krankenautos sind erlaubt. Doch nur fünf Monate später fällt das Autoverbot. Zwar ist die Zahl der Befürworter nicht grösser als im Januar, aber den Gegnern fehlen jetzt 2000 Bauern, die auf den Maiensässen und Alpen sind. Die Niederlage ist definitiv: Es gibt keine weiteren Volksabstimmungen über die Zulassung von Autos.

Man nennt den Autoverkehr «Privatverkehr», aber das private Fahrzeug taugt nichts ohne geeignete Strassen, wie schon der Bündner Regierungsratspräsident 1897 erfahren musste. Darüber, wer dieses öffentliche Gut beanspruchen darf, stritt Graubünden. «Bündner Volk, wach auf!», verkündete ein Abstimmungsplakat 1920: «Vor neun Jahren hast du dich mit gewaltiger Wucht geweigert, dein freies Alpenland zum Tummelplatz des Autos erniedrigen zu lassen (…). Im nächsten Sommer soll das Auto auf deinen Strassen fahren. Willst du das?» 1925 hiess es in einem Zeitungsinserat: «Bündnervolk! Du hast vor Jahrhunderten nicht zuletzt für die Freiheit der Strassen die Zwingherrenburgen gebrochen, dass heute diese modernen Strassenzwingherren nicht aufkommen. (…) Bachab mit dem Auto!»

Das totale Autoverbot in Graubünden war ein Spezialfall, aber in vielen Bergkantonen waren Autos nur auf ausgewählten Strassen zugelassen. Autoverbote gab es in zahlreichen Ländern, auch in den USA verboten einige Countys das Auto. Man wollte die Strasse nicht kampflos dem viel stärkeren Auto überlassen, das einen zunehmenden Blutzoll forderte. 1928 töteten Autos in der Schweiz 384 Menschen. Bei einem Bestand von gut 100 000 Fahrzeugen hiess das: Einer von 250 Autofahrern tötete einen Menschen.

Eine gespenstische Disziplinierung

Sogar in den USA, wo das Auto schon auf dem Weg zum Massenverkehrsmittel war, fürchtete die Autolobby angesichts der vielen getöteten Kinder noch in den 1920er Jahren, die Stimmung könnte sich gegen das Auto richten. Sie hatte eine Strategie, wie das abzuwenden sei: Die Opfer mussten zu Schuldigen gemacht werden. Automobilverbände führten gemeinsam mit den Polizeien Kampagnen zur Verkehrserziehung, deren unterschwellige Botschaft lautete: Wenn du nicht aufpasst, bist du selber schuld, wenn ein Auto dich überfährt.

«Nicht spielen auf der Strasse!», verkündete die Kantonspolizei Basel-Stadt den Kindern 1927 in einem Leporello. Was jahrhundertelang selbstverständlich gewesen war, wurde nun verboten, die Mobilität der Kinder wurde der Automobilität geopfert. Der ACS liess 1934 eine Serie von Schulwandbildern drucken. Das Bild «Der geordnete Strassenverkehr in der Stadt» zeigt eine gespenstisch disziplinierte Gesellschaft, in der von einem Polizisten zurechtgewiesen oder von der Kinderfrau zurückgehalten wird, wer aus der Reihe tanzen will.

Zur Disziplinierung gehörten auch die Fussgängerstreifen, die kurz vor 1920 erstmals auftauchten. Fussgängerstreifen mögen heute als etwas Fussgängerfreundliches erscheinen, sagen sie doch: «Hier hast du Vortritt.» Damals aber sagten sie vor allem: «Überall sonst hast du nichts zu suchen.» Auch hier wurde ein jahrhundertealtes Recht der Gehenden zurückgestutzt. Das widersprach nicht nur dem Rechtsempfinden der meisten Leute, auch die Gerichte akzeptierten diese Einschränkung vorerst nicht. 1922 hält das Aargauer Obergericht klipp und klar fest, «dass ein Fussgänger auf der Strasse völlig frei ist, wo er gehen will, dass ferner auch schwerhörige Personen, ja sogar Taubstumme und Leute mit schweren Holzschuhen die Strasse betreten dürfen. Denn die Fussgänger gefährden andere nicht; das Gefahrenmoment aber schafft das Automobil.»

Die Logik des Urteils ist heute nicht weniger richtig als damals, nur käme man damit vor Gericht längst nicht mehr durch. Hätte sich die Gerichtspraxis nicht geändert, wäre der Automobilismus, wie es ihn heute gibt, unmöglich geblieben.

Aber auch die AutolenkerInnen mussten diszipliniert werden. Strassenverkehrsgesetze waren Sache der Kantone, die durch interkantonale Konkordate etwas Einheit herzustellen versuchten. Nicht alle Kantone beteiligten sich.

Das Konkordat von 1914 erlaubte Autos, innerorts so schnell «wie ein trabendes Pferd» (achtzehn Stundenkilometer) und ausserorts vierzig Stundenkilometer zu fahren. Durchsetzbar waren diese Limits nur schwer, gab es doch keine brauchbaren Geschwindigkeitsmesser. Eine frühe Form eines Tachometers war ein Speichenrad mit Gewichten an den Speichen, die ab einem gewissen Tempo durch die Fliehkraft nach aussen getrieben wurden. Wollte die Polizei die Geschwindigkeit messen, steckte sie eine Strecke ab und mass, wie lange ein Fahrzeug brauchte, um sie zu durchfahren.

1921 erhielt der Bund durch einen neuen Verfassungsartikel die Kompetenz, den Strassenverkehr zu regeln. Bis das erste Strassenverkehrsgesetz erlassen wurde, dauerte es allerdings noch elf Jahre. Für das Problem der Höchstgeschwindigkeit wählte man in diesem Bundesgesetz eine einfache Lösung: Es gab keine mehr. «Mit einengenden Geschwindigkeitsvorschriften an Orten, wo ein zwingender Grund fehlt», so argumentierte der Bundesrat in seiner Botschaft, «ist noch nie der Versuchung nach Steigerung des Fahrtempos oder gar einem rücksichtslosen Geschwindigkeitskoller Einhalt geboten worden. Deshalb erscheint es uns viel richtiger, wenn der Fahrzeugführer ganz allgemein dazu verhalten wird, so zu fahren, dass er sein Fahrzeug jederzeit beherrscht.» Eigenverantwortung statt Vorschriften: Das Mantra kennt man bis heute. Die Unterordnung der FussgängerInnen unter den Motorverkehr war nun Gesetz: «Der Fussgänger hat sich auf unübersichtlichen Strassenstrecken an die Strassenseite zu halten; ebenso, wenn Motorfahrzeuge herannahen. Beim Vorhandensein von Trottoirs und besonders Fussgängerstreifen hat er diese zu benützen.»

Erst 1958 führte das Parlament wieder Tempolimits ein, gegen den Willen des Bundesrats, der sich 1955 – im Jahr, als die Zahl der Verkehrsunfalltoten erstmals das Tausend überschritt – noch dagegen ausgesprochen hatte.

Das falsche Freiheitsversprechen

Hätte man um 1900 geweissagt, das Auto werde eine Million Menschen töten, es wäre wohl überall verboten worden. Heute aber tötet das Auto weltweit weit mehr als eine Million Menschen pro Jahr – nur in Unfällen, die vorzeitigen Todesfälle wegen Umweltfolgen des Autos nicht mitgezählt. Und während also die Kosten des Automobils alles übersteigen, was der schlimmste Pessimist erwartet hätte, erweist es sich als dysfunktional, was seinen Nutzen angeht: Es verspricht Mobilität, aber nirgends ist man immobiler als im Autositz, festgezurrt mit Sicherheitsgurten, und die mit Bewegungsmangel einhergehenden Krankheiten nehmen stetig zu. Es verspricht, Menschen zusammenzuführen, aber nirgends ist der Mensch asozialer als eingekapselt in eine Blechkiste und ausgestattet mit 150 und mehr Pferdestärken. Vor allem verspricht es Freiheit – dabei ist kaum ein Lebensbereich durch Vorschriften so streng geregelt wie der Strassenraum.

Je schlimmer aber das Auto wütete und je weniger es seine Versprechen erfüllte, desto mehr schien es unentbehrlich. Das technische System des Automobilismus hatte seine Zwänge und Pfadabhängigkeiten geschaffen. Die Elemente des Systems – Fahrzeuge, Strassen, Raumstrukturen, Institutionen, Gesetze, Mentalitäten – haben sich über hundert Jahre miteinander entwickelt, bedingen und stützen sich gegenseitig. Dass man den Kindern das kindliche Verhalten im öffentlichen Raum zu deren Schutz abtrainieren muss, fällt den Eltern, die selber schon so aufgewachsen sind, schon gar nicht mehr auf. Besonders augenfällig wird die Gewöhnung, wenn man sieht, wie Wörter ihre Bedeutungen verändert haben. Das erste Strassenverkehrsgesetz der Welt, der britische «Locomotive on Highways Act» von 1861, hatte zum Zweck, den «Verkehr» vor den Fahrzeugen zu schützen. Mit «traffic» waren die Menschen gemeint, die eine Strasse bevölkern. Heute nennt man Innenstädte, in denen ein Fahrverbot gilt, «verkehrsfrei» – auch wenn es darin von Menschen wimmelt.

Heute aber sind die FürsprecherInnen des automobilen Systems zumindest in den Städten in der Defensive. Ihr Hauptargument, mit dem sie ihr Lieblingsgerät verteidigen, lautet, dass es halt Leute gebe, die auf das Auto angewiesen seien: Sie argumentieren nicht mehr mit einer Freiheit, die es zu ermöglichen, sondern mit einem Zwang, dem es stattzugeben gelte. Aber wenn die Diskrepanz zwischen Freiheitsversprechen und Systemzwängen zu offensichtlich wird, beginnt das System zu kollabieren. Es sieht so aus, als hätte uns die Pandemie diesen Moment etwas näher gebracht.

Man kann diese Entwicklung nun als «autofeindlich» beklagen, und einem eingefleischten Autofreund oder einer eingefleischten Autofreundin wird dieser Text ein Beleg solcher Autofeindlichkeit sein. Ihnen sei ein kleines, dreckiges Geheimnis verraten: Die meisten Autowerbungen zeigen das zu bewerbende Auto in einer ansonsten autofreien Landschaft. Und als vor zwei Jahren erstmals seit langem ein Autorennen in der Schweiz stattfand – die Formel E in Zürich –, schaltete der Hauptsponsor, eine Bank, ganzseitige Zeitungsinserate, in denen sie ihre Vision der Mobilität der Zukunft darstellte. Ein Bild zeigte die Zürcher Bahnhofstrasse mit Schwebebahn (so stellte sich schon Fritz Lang 1927 seine Zukunftsstadt Metropolis vor), einem ufoartigen Aufbau auf dem Bahnhofsgebäude (so sehen Zukunftsvisionen seit den 1950er Jahren aus), einem Velo, FussgängerInnen, kleinen Roboterfahrzeugen – aber ohne Autos, lediglich ganz im Hintergrund waren ein paar entfernt autoähnliche Fahrzeuge zu sehen.

Auch potenzielle Autokäufer sowie Autorennsponsorinnen stellen sich die ideale Welt heute autofrei vor.

Stadtklima-Initiativen

1992 gründeten verkehrspolitisch Interessierte den Verein «umverkehR», um der Verkehrsentwicklung in der Schweiz eine andere Richtung zu geben. Ihre Volksinitiative verlangte, den motorisierten Individualverkehr innert zehn Jahren zu halbieren. 2000 wurde sie mit nur 21 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.

2008 lancierte der Verein in sechs Städten «Städte-Initiativen», die verlangten, die Strassenkapazität zu begrenzen und den öffentlichen Verkehr zu fördern. Zürich, Genf und St. Gallen nahmen die Initiative an, Basel, Luzern und Winterthur einen Gegenvorschlag. In Biel und Thun sind Städteinitiativen hängig.

Ende 2019 beschloss «umverkehR» seinen jüngsten Streich: In mehreren Städten – voraussichtlich St. Gallen, Basel, Bern, Zürich, Genf und Winterthur – sollen «Stadtklima-Initiativen» lanciert werden. Die Initiativen verlangen, dass zehn Jahre lang jedes Jahr ein halbes Prozent des Strassenraums in Grünfläche und ein weiteres halbes in Fuss- und Velowege, Bus- und Tramspuren umgewandelt werden.