Erich Billig-Bannwart (1924–2020): «Si chönd bliibe»
Als Erich Billig am 29. November 1938 in St. Gallen eintraf, hatte er die Grenze schon zweimal überquert. Das erste Mal schickten ihn die Schweizer Grenzwächter zurück. Das zweite Mal fand er bessere Schlepper, die ihn, unter einer Lastwagenplane versteckt, bis in die Kantonshauptstadt brachten. Erich Billig war vierzehnjährig, er stammte aus Wien.
Im März waren die Nazis in Österreich einmarschiert und hatten das Land dem Deutschen Reich «angeschlossen». Erichs Vater hatten sie ins Konzentrationslager gesperrt, er wurde später freigelassen und überlebte. Erichs älterer Bruder konnte sich – dank eines frühzeitig ergatterten Passes – regulär in die Schweiz begeben. Erich jedoch besass keine Papiere und musste illegal über die Grenze, die vom Bundesrat für jüdische Flüchtlinge gesperrt worden war. Die Mutter plante seine Reise, sie selber blieb in Wien, später flohen die Eltern nach Südfrankreich.
Als sich Erich Billig im November 1938 in St. Gallen bei der Jüdischen Flüchtlingshilfe meldete, passierte die folgende Szene: Das vierzehnjährige Kind musste vor einem Gremium erscheinen, das über sein Schicksal entschied. Das Gremium bestand aus drei Männern. In der Mitte sass Paul Grüninger, der kantonale Polizeikommandant, links sass Sidney Dreifuss, der Leiter der Flüchtlingshilfe – seine Tochter wurde später Bundesrätin –, und rechts von Grüninger sass Joseph Guggenheim-Fürst, Präsident der Flüchtlingshilfe. Die EmigrantInnen, die in den vorangegangenen Nächten illegal über die Grenze gekommen waren, traten der Reihe nach vor, um den Grund ihrer Flucht zu erzählen. Hauptmann Grüninger hätte zu diesem Zeitpunkt alle jüdischen Flüchtlinge ausnahmslos zurückschicken müssen, doch er hörte ihnen zu, manchmal beriet er sich kurz mit den BeisitzerInnen, dann sagte er: «Si chönd bliibe!» Das sagte er auch zu Erich Billig.
Viel wäre noch zu erzählen, ein ganzes Leben: Wie der junge Billig in der Schweiz erwachsen wurde. Wie eine christliche Familie ihn aufnahm. Wie er zuerst keine Lehre machen durfte, weil die Fremdenpolizei es verbot: Später wurde er Maschinenmechaniker. Wie die Tochter der Pflegefamilie, Hildegard Bannwart, als sie ihn nach dem Krieg heiratete, für etliche Jahre ihre Staatsbürgerschaft verlor. Wie die beiden in die Westschweiz zogen und bis zu Hildegards Tod 2005 zusammenblieben, stets auch von ihrer Geschichte begleitet. Zu den wichtigsten Erinnerungen gehörte eine Postkarte, die Erichs Mutter 1942 bei Cannes aus dem Deportationszug warf. Es war ihr letztes Lebenszeichen. Jemand fand die Karte am Bahndamm und schickte sie nach St. Gallen.
Am 20. Juni 2020 ist Erich Billig mit 96 Jahren gestorben.