40 Texte aus 40 Jahren: 1993: Er macht sich verdächtig durch Nichtstun, rapportierten die Beschatter
Paul Grüninger ist fristlos entlassen. Das Untersuchungsverfahren läuft noch. Während er arbeitslos in der Stadt herumgeht und am Stammtisch sitzt, gerät er in den Verdacht, ein Nazi geworden zu sein.
Als Paul Grüninger zum ersten Mal beschattet wurde, verliess er seine Wohnung in der Moosbruggstrasse um neun Uhr morgens. Er wandte sich nach links Richtung Linsenbühlquartier und begegnete nach wenigen Schritten dem Anzeigenverkäufer Isidor Sochaczewski, der in den Augen der Beschatter zu seinen intimen Freunden zählte. Sochaczewski war Mitglied im Fussballclub Brühl. Er arbeitete für die sozialdemokratische «Volksstimme», gelegentlich schrieb er auch Sportreportagen. Sochaczewski war jüdischer Herkunft und stammte aus Polen. Paul Grüninger unterhielt sich mit Isidor Sochaczewski ungefähr zehn Minuten auf der Strasse, dann suchten die beiden ein Restaurant auf. Als sie sich trennten, war es 10.20 Uhr. – Grüninger ging nun in nord-westlicher Richtung quer durch die Altstadt von St. Gallen. Er verschwand dabei für kurze Zeit in den Häusern Spisergasse Nr. 20, Neugasse Nr. 40 und Unterer Graben Nr. 1, bevor er um 11.20 Uhr eine Telefonzelle am Marktplatz betrat. Sofort avisierten die Beschatter die Kreistelegraphendirektion und verlangten ein Abhörprotokoll. Nach den Akten zu schliessen telefonierte Paul Grüninger mit einer Frau, die er offenbar gerne besuchen wollte. Der Anruf dauerte zwölf Minuten; die Frau lehnte eine Verabredung ab. – Während Grüninger noch in der Kabine stand, kam über den Marktplatz der ehemalige städtische Polizei-Inspektor Carl Kappeler daher. Durch Klopfen an die Glastüre machte sich Grüninger bemerkbar und setzte, als er fertig war, zusammen mit Kappeler den Weg in die Bahnhofstrasse fort. Inspektor Kappeler hatte sein Amt vor gut einem halben Jahr verloren; den Beschattern war er als Rechtsradikaler bekannt. Im Herbst 1938 war Kappeler vom St. Galler Stadtrat vorzeitig pensioniert worden, nachdem er am Nürnberger Parteitag der NSDAP teilgenommen hatte. – Die Ermittlungen der Beschatter ergaben nun, dass Grüninger und Kappeler um 11.50 Uhr den Bahnhofplatz erreichten, dass Grüninger in den nächsten fünf Minuten beim militärischen Sektionschef im Rathaus vorsprach und anschliessend im Bahnhofbuffet wieder auf Kappeler stiess. Sie trennten sich um 12.35 Uhr. Grüninger kehrte über die Kornhausstrasse, die Merkurstrasse und die St. Leonhardstrasse in die Altstadt zurück. Er kaufte ein Dessert in der Konditorei Kuhn an der Multergasse; um 12.50 Uhr war er zu Hause.
Schon zwanzig Minuten später verliess Paul Grüninger erneut seine Wohnung. Jetzt wandte er sich auf dem direkten Weg zum Hotel «Hirschen» am Marktplatz, wo er die folgenden viereinhalb Stunden mit Jassen verbrachte. Als die Beschatter gegen 18 Uhr die Überwachung einstellten, weil sie den Inhalt des abgehörten Telefonates erfuhren, jasste Paul Grüninger immer noch im «Hirschen». Dies geschah am Samstag, dem 1. Juli 1939, sieben Wochen nach seiner Entlassung.
Am Freitag, dem 30. Juni, hatte sich der gestürzte Polizeihauptmann mit zwei Funktionären der deutschen Gestapo getroffen.
Von Dr. iur. Walter Härtsch wird erzählt, er sei vor dem Krieg ein tüchtiger freisinniger Advokat gewesen und nach dem Krieg ein besonders hartleibiger Staatsanwalt. Er habe vor allem die Kleinen verfolgt, wird behauptet, aber im Fall Grüninger trifft das wohl nicht ganz zu. Dr. Härtsch ist vermutlich schon lange gestorben. Seine Tätigkeit als ausserordentlicher Untersuchungsrichter gegen Emigrantenschlepper, Ehrabschneider und fehlgeleitete Polizeifunktionäre ist im Staatsarchiv St. Gallen schlecht dokumentiert. Seine Originalakten wurden grösstenteils vernichtet – erhalten geblieben sind lückenhafte Abschriften und Korrespondenzen, die das Polizeidepartement eher zufällig aufbewahrt hat. Das Gerichtsurteil gegen Paul Grüninger liegt jedoch vor, die Anklagebegründung ebenfalls, so lässt sich vielleicht auch die Arbeit von Dr. Härtsch rekonstruieren.
Gleich nach der Suspendierung des Hauptmanns hatte Walter Härtsch eine Reihe von Schlampereien im Polizeikorps entdeckt, die mit der Flüchtlingsfrage in keinem erkennbaren Zusammenhang standen. Im Zentralposten stimmten die Bücher nicht, einige Spesen waren doppelt berechnet worden, und es gab schwarze Kassen. Grüninger selber hatte innerhalb von fünf Jahren insgesamt 154 Franken zweifach bezogen. Bei den Einnahmen des Korps fehlten ausserdem 396 Franken, für deren Verwendung der Hauptmann weder Belege noch Zeugen vorweisen konnte. – Dr. Härtsch enthüllte ferner, dass Grüninger als Prokurist einer Firma für Konservengläser im Handelsregister verzeichnet war, doch der Eintrag erwies sich bald als relativ belanglos. Der Besitzer dieser Firma gehörte zu Grüningers Fussballfreunden, er war in finanzielle Schwierigkeiten geraten, Grüninger hatte ihm helfen wollen – falsch war zumindest die Erklärung Valentin Keels, der Hauptmann habe dort täglich gearbeitet und dabei Geld verdient. Später entdeckte Dr. Härtsch noch, dass Grüninger einem Landjäger für eine private Reise von St. Gallen nach Bern eine Dienstfahrkarte ausgestellt hatte. Von allen bis hierher aufgezählten Vorwürfen war das der einzige, der am Ende zu einer Verurteilung führte.
Was die Flüchtlinge betraf, konnte Dr. Härtsch neben der bekannten Missachtung eidgenössischer Erlasse, der heimlichen «Bereinigung» von Einreisezahlen und der unrechtmässigen Abgabe von Identitätspapieren inzwischen auch belegen, dass Grüninger einmal zugunsten eines Emigranten eine Anfrage deutscher Behörden falsch beantwortet hatte und dass er für einen anderen Emigranten während der Dienstzeit nach Zürich gefahren war, um eine Briefmarkensammlung sicherzustellen – im ersten Fall hatte er in illegaler Weise eine Auslieferung zu verhindern versucht, im zweiten Fall hatte er sich auf unzulässige Art in fremde Privathändel eingemischt.
Die Ermittlungen wegen Devisenschmuggel waren hingegen in eine Sackgasse geraten, und für den Verdacht, Grüninger sei bestochen worden, fand sich auch nach langer Suche nur eine einzige Zeugin, der niemand so recht glaubte: Über eine Bestechung des Hauptmanns wird in St. Gallen bis heute gemunkelt. Hohe und höchste Summen werden genannt. Sicher ist, dass die meisten Emigranten zur Bezahlung von Bestechungsgeldern gar nicht imstande gewesen wären. Von den heute noch lebenden Flüchtlingen beteuern alle, Hauptmann Grüninger habe nie etwas von ihnen verlangt, und weder sie noch ihre Bekannten oder Verwandten hätten ihn jemals geschmiert. – Ohne weiteres gab Grüninger aber seinerzeit zu, dass eine seiner Töchter einen Puppenwagen und ein Trottinett, er selber einen Blumenstrauss aus jüdischer Hand erhalten hatte.
Die Untersuchung von Dr. Härtsch war also nicht sehr weit vorangeschritten im Sommer 1939. Die zusätzlich entdeckten Straftatbestände häuften sich keineswegs in der erwarteten Weise. Das Verfahren stagnierte auch noch Anfang 1940, als plötzlich ein neues Delikt auftauchte: Es meldete sich der Verband der Kantonspolizei und klagte 5000 Franken ein. Paul Grüninger hatte diesen Betrag drei Jahre früher von einem alten Polizisten geerbt. Das Testament war verschollen. – Er dürfe über die Erbschaft frei verfügen, meinte Grüninger, und er werde damit nach eigenem Ermessen vielleicht notleidende Landjäger unterstützen. Er müsse auf jeden Fall notleidende Landjäger damit unterstützen, meinte der Verband der Kantonspolizei, und über die Ausgaben sei er rechenschaftspflichtig. Der Verband forderte Grüninger schliesslich auf, das ganze Erbe herauszurücken. Grüninger weigerte sich ein paar Wochen lang, dann einigte man sich auf einen Vergleich, und der ehemalige Hauptmann lieferte 2500 Franken ab. Die Rechtslage war unklar. Die Strafverfolgung wurde wegen Verjährung eingestellt. Doch der Geruch der Unterschlagung blieb hängen wie jener der Bestechung.
Nichts zu tun hatte Dr. Härtsch mit Paul Grüningers Beschattung.
Das Ansehen des Hauptmanns war jedenfalls ruiniert. Solange das Untersuchungsverfahren offenblieb, fand Grüninger auch keine neue Stelle. Im August 1939 lehnten die Behörden sein Gesuch ab, in St. Gallen eine private Pfandleihanstalt zu gründen. Ende 1939 plante er, sich als Textilienhändler selbständig zu machen, aber der Einstieg misslang. Anfang 1940 verwahrte sich die Kantonsregierung dagegen, dass er zum Polizeioffizier bei einem Territorialkommando ernannt wurde und in den Aktivdienst einrücken konnte. Paul Grüninger lebte von den Ersparnissen seiner Mutter, von Wertschriften seiner Schwiegermutter, von gelegentlichen Almosen. Manche in der Stadt zogen sich jetzt von ihm zurück. In diversen Zeitungen hatten die widersprüchlichsten Andeutungen über seine Geschichte gestanden.
Nur bei den Flüchtlingen war der Ruf des Kommandanten unbeschädigt. – Aus einem Brief, der zu jener Zeit eintraf:
«Sehr geehrter Herr Hauptmann Grüninger. Im Namen aller meiner Lagerkollegen, welche alles Gute, was Sie für uns getan haben, nie vergessen werden, wünsche ich Ihnen und Ihrer werten Familie ein recht frohes Weihnachtsfest und ein glückliches Neujahr. Ich habe Ihnen weiters recht herzliche Empfehlungen auszurichten von allen, denen Sie einmal geholfen haben oder denen Sie in schwerster Lage Trost zugesprochen haben.
Ihr dankbarer Felix Bauer, für alle Lagerinsassen.
Diepoldsau, 23.12.1939»
Die Flüchtlinge spürten rasch, was sie an Grüninger verloren hatten. Der neue Chef der Kantonalen Fremdenpolizei, Dr. Gustav Studer, machte es sich zum Ehrgeiz, ihnen nach den Vorstellungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements systematisch «den Verleider» beizubringen.
An die Methoden Dr. Studers erinnern sich zum Beispiel Rose und Joseph Rudis-Schkolnik noch gut, die heute in Tucson, Arizona, leben. Die beiden waren damals nach ihren eigenen Massstäben ein Ehepaar, sie waren in der Synagoge getraut, aber zivilrechtlich durften sie nicht heiraten. Im Herbst 1939 wurde Rosa Rudis schwanger. – Ein Brief vom 27. Oktober 1939:
«An die Kanzlei des Polizeidepartementes des Kantons St. Gallen.
(...) Ihrer Weisung gemäss habe ich Rudis Josef & Schkolnik Rosa betr. Unzucht einvernommen. Im weitern verweise ich auf beiliegende Einvernahmen. – Rudis wurde schon von mir aus dem Schlafzimmer der Schkolnik verwiesen. Er gab dann zur Antwort, sie seien doch verheiratet & hätte er deshalb ein Recht bei seiner Frau zu sein. Beide konnten nie bei der Tat erwischt werden, obschon ich vielmals Kontrolle machte. Die Sache kam erst aus, als die Schkolnik sich schwanger fühlte.
J. Staub, Ldjgr.»
Ein Brief von Dr. Studer an die Israelitische Flüchtlingshilfe, 30. Oktober 1939:
«In Beantwortung Ihrer Anfrage vom 23. Oktober, mit welcher Sie das Gesuch stellen, es
möchte den im Emigrantenlager in Diepoldsau sich aufhaltenden Flüchtlingen Rudis Josef und Schkolnik Rosa gestattet werden, sich im Kanton Graubünden trauen zu lassen, teilen wir Ihnen nach Fühlungnahme mit dem Departement des Innern und weiterer Abklärung des Falles mit, dass wir die beiden genannten Personen keinesfalls mehr im Kanton St. Gallen übernehmen würden. – Der Fall ist besonders krass, da nach den übereinstimmenden Angaben der aussereheliche Geschlechtsverkehr im Lager selbst stattgefunden hat, was von einer Scham- und Rücksichtslosigkeit sondergleichen zeugt. Leider werden wir dadurch in unserer Auffassung bestärkt, dass es eine erhebliche Zahl von Emigranten gibt, die weder gegenüber sich selbst noch viel weniger gegenüber dem Gastland irgendwelches Verantwortlichkeits- und Pflichtgefühl kennen. Dieses Vorkommnis veranlasst uns zu durchgreifenden Massnahmen. Wir stellen hiemit das Begehren, dass alle weiblichen Insassen innert kürzester Frist an einen andern Ort disloziert werden. Wir gewärtigen Ihre diesbezgl. Vorschläge.»
Aus der Antwort von Sidney Dreifuss, Leiter der Flüchtlingshilfe, 31. Oktober 1939:
«Wir müssen Ihnen von vorneherein mitteilen, dass wir uns mit einer derart negativen Behandlung dieses Falles unter keinen Umständen einverstanden erklären können. Die Kantonale Fremdenpolizei scheint der Meinung zu sein, dass unsere Flüchtlinge Sträflinge sind, mit denen man nach Willkür verfahren kann. (...) Es geht nicht an, den Leuten einerseits zivilrechtliche Trauung zu verweigern, obwohl sie religiös getraut sind, und sie auf der anderen Seite mit Vorwürfen und polizeilichen Einvernahmen zu quälen. Ihre in Ihrem Brief geäusserte Auffassung ist zumindest in diesem Falle falsch, denn nicht die Emigranten haben kein Pflicht- und Verantwortungsgefühl gegen sich (denn sie sind ja religiös getraut und wollten schon lange zivilrechtlich heiraten), sondern der Staat hat ihnen die gesetzliche Sanktion verweigert.»
So schrieb Sidney Dreifuss, den die Flüchtlinge eigentlich nicht mochten und der Paul Grüninger verraten hatte. – Nachdem Dreifuss noch drohte, die Zusammenarbeit mit der Fremdenpolizei abzubrechen, wenn die Emigranten weiterhin derart schlecht behandelt würden, musste Dr. Studer die Heirat ausnahmsweise bewilligen.
Es kam übrigens vor, dass Flüchtlinge wegen «Unzucht» sogar ausgewiesen wurden. Zum Beispiel der achtzehnjährige Wiener Kellner Hans Stricker: Er musste im Juni 1939 die Schweiz verlassen, weil er eine zweiundzwanzigjährige St. Gallerin geschwängert hatte. Die Mutter von Hans Stricker wurde gleichzeitig abgeschoben, beide gingen nach Frankreich und kamen in deutschen Konzentrationslagern um.
Der Prozess fand im Oktober 1940 statt, das Urteil wurde am 14. März 1941 zugestellt. Das Bezirksgericht St. Gallen erkannte auf Amtspflichtverletzung bei der Fragebogen-Fälschung, bei der Mitteilung falscher Einreisedaten an Valentin Keel, bei der Abgabe falscher Auskünfte an die deutschen Behörden. Nicht bestraft wurde die blosse Duldung illegaler Einreisen. Über den Angeklagten steht in der Urteilsbegründung:
«Zugute kommen soll ihm, dass er bei diesen Handlungen (ausser mit dem Vertuschungsbericht an den Departementsvorsteher) keinerlei persönlichen Vorteil für sich beabsichtigte noch sonst erhielt. Und auch das darf berücksichtigt werden, dass diese Handlungen ihren letzten, allerdings entfernten Untergrund in dem objektiv rechtswidrigen, aber subjektiv menschlich verständlichen und entschuldbaren Einreisenlassen Flüchtiger haben, wobei Grüninger bis zu einem gewissen Mass sehr wohl durch die Auffassung seines Chefs sich gedeckt erachten konnte. Er hat nicht verstanden in den Grenzen zu bleiben und ist Schritt um Schritt weiter zum eigentlichen Vergehen gekommen.»
Die Verurteilung wegen Urkundenfälschung geschah aufgrund eines einzigen «formell echten, inhaltlich unwahren» Ausweises, mit dem Grüninger dem Emigranten Markus Löffel die Möglichkeit verschafft hatte, ins Ausland zu reisen und von dort aus Flüchtlingstransporte nach Palästina zu organisieren.
Das unrechtmässig bewilligte Bahnbillett nach Bern wurde als Amtspflichtverletzung betrachtet. Die übrigen bürokratischen Unregelmässigkeiten im Kommando, meinte die Staatsanwaltschaft, seien mit der Entlassung genügend bestraft, und für sich allein hätten sie wohl weder zur Kündigung noch zu einem Strafverfahren geführt.
Die Geldstrafe betrug 300 Franken, an Kosten wurden Fr. 1013.05 berechnet. Grüningers Verteidiger hiess Willi Hartmann, er war Vorstandsmitglied im «Vaterländischen Verband». Seine Strategie bestand vor allem darin, auf ähnliche Vergehen Valentin Keels hinzuweisen. Ein Tribunal gegen die herzlose eidgenössische Flüchtlingspolitik wurde daraus nicht.
Paul Grüninger legte keine Berufung ein.
Als Paul Grüninger ein weiteres Mal beschattet wurde, sass er im Hotel «Hirschen» am mittleren Tisch. Er unterhielt sich, für die Beschatter nicht hörbar, mit vier Personen, unter ihnen befanden sich der Fussballtrainer Willi Wolf und der lokale Frontistenführer Mario Karrer. Nachdem Karrer sich verabschiedet hatte, zog Grüninger plötzlich ein Schriftstück aus der Tasche und zeigte es den verbliebenen drei Personen. Es war der 19. März 1941, Grüninger reichte wahrscheinlich sein eben eingetroffenes Gerichtsurteil herum. Doch die Beschatter merkten das nicht. Sie registrierten auch nicht, dass der mittlere Tisch im «Hirschen» der Stammtisch des FC Brühl war. Sie hielten alles für sehr verdächtig. – In einem Rapport der Beschatter vom Januar 1941 hatte es geheissen:
«Wir werden fortlaufend aufmerksam gemacht auf Grüninger, Paul, (...) alt Landjägerhauptmann (...). Grüninger macht sich besonders verdächtig durch sein Nichtstun seit seiner Entlassung aus dem Staatsdienst und seine oftmals zweifelhaften Beziehungen. (...) Was uns persönlich an der ganzen Sache nicht gefällt, das sind die sehr undurchsichtigen finanziellen Verhältnisse des Grüninger. Sowohl die BA [Bundesanwaltschaft] als auch die SPAB [Spionageabwehrdienst der Armee] sind im Besitze von Akten, die Letztere hatte auch einmal die Postkontrolle verhängt. Eine solche wird aber zweifelsohne auch heute nichts einbringen, denn Grüninger ist klug genug, eine Deckadresse zu benützen.»
Auch die Bundesanwaltschaft hatte die Briefpost und den privaten Telefonanschluss des entlassenen Hauptmanns einige Zeit kontrolliert. Die Dossiers der Beschatter waren dick geworden seit dem 30. Juni 1939, als jenes sonderbare Nachspiel zum Fall Grüninger begonnen hatte.
Damals waren der Chef des Gestapo-Grenzkommissariates in Bregenz, Joseph Schreieder, und sein Fahrer Ernst May mit dem Zug aus Bregenz nach St. Gallen gekommen. Grüninger hatte sie am Bahnsteig abgeholt. Im Bahnhofbuffet hatten sie etwa zwanzig Minuten im Flüsterton mit ihm gesprochen, dann waren sie ohne Grüninger zu einem kurzen Besuch ins deutsche Konsulat aufgebrochen und hatten drei Stunden später die Schweiz schon wieder verlassen. Sie waren observiert worden, weil man sie an der Grenze kannte. Die Begegnung Paul Grüningers mit dem Nazifreund Carl Kappeler am nächsten Tag bestärkte die Beschatter in ihren schlimmsten Vermutungen, Grüningers Begegnung mit dem Juden Sochaczewski entkräftete nichts. Seine Kontakte mit dem Frontisten Karrer im «Hirschen» allerdings kamen dazu.
Eineinhalb Jahre später war zumindest ein Teil der Beschatter überzeugt, dass Grüninger mit der vom Bundesrat verbotenen «Nationalen Bewegung der Schweiz» (NBS) sympathisierte oder dass er sogar Mitglied dieser frontistischen Organisation war. In einigen Listen, die unter den Beschattern kursierten, war der ehemalige Polizeihauptmann als Mitglied verzeichnet, in andern Listen fehlte sein Name. Aus welchen Quellen sie die unterschiedliche Erkenntnis jeweils schöpften, ist unklar. – Im Dezember 1942 schrieb ein Beschatter über den dergestalt «rubrizierten» Grüninger:
«Rubrikat gilt (...) als dubioses Element und ist der PA als sattsamer Nazi bekannt. Eine gegen ihn durchgeführte PK [Postkontrolle] zeigte aber keine Anhaltspunkte einer illegalen Tätigkeit. (...) G. ist mir persönlich bekannt, man sieht ihn öfters in zweifelhafter Frauenbegleitung und scheint in finanziell prekären Verhältnissen zu stehen.»
Im Juli 1943 wurde Grüninger erstmals zum inzwischen vier Jahre zurückliegenden Treffen mit den Gestapo-Funktionären einvernommen. Das Verhör führte ein militärischer Untersuchungsrichter, der gegen Landesverräter und Spione ermittelte. Paul Grüninger gab an, der Gestapo-Kommissar Schreieder sei «ein alter Bekannter» aus seiner Polizistenzeit. Schreieder habe ihn einfach wieder einmal sehen wollen. Auch Kontakte mit anderen Deutschen, die in St. Gallen verkehrten, und ein abgehörtes Telefonat mit Mario Karrer konnte Grüninger so glaubhaft erklären, dass die Bundespolizei ihre Überwachung nun abbrach. Aber der Spionageabwehrdienst machte weiter. – Im Dezember 1944 schilderte ein Beschatter namens Vbr sein schwieriges Tagwerk:
«Ich bestieg den Leichtschnellzug St. Gallen ab 0810. Um mich zu vergewissern, ob sich Grüninger im Zuge befindet, musste ich durch den ganzen Zug hindurch, und dabei hat er mich erblickt und fing sofort mit mir ein Gespräch an. Ich liess ihn im Glauben, ich fahre ausserdienstlich nach Zürich. In Winterthur verliess ich ihn dann, um in Zürich seine Verfolgung aufzunehmen. Längere Zeit blieb er in der Bahnhofhalle unschlüssig stehen, um dann das Buffet II. Kl. zu betreten. Kurz nach ihm betrat auch ich dasselbe, sah ihn aber schon nirgends mehr. Daraufhin betrat ich das Lokal von der anderen Seite, und kaum war ich dort, kam G. mir aus einer Telefonkabine entgegen. Wir verabschiedeten uns nochmals. Er durchquerte dann die Bahnhofhalle und betrat die Küchliwirtschaft. Da ich ihn von aussen nirgends sehen konnte, war auch ich gezwungen einzutreten, und dann stellte ich ihn allein an einem Tisch fest, bereits einen Kaffee vor sich. Durch die Hintertüre verliess ich das Lokal und versuchte sofort Unterstützung von der Gruppe Zürich zu erhalten. (...)»
Die Beschatter waren fast ausnahmslos Polizisten. Paul Grüninger kannte sie alle.
Dass Grüninger ein Nazi gewesen sein soll, einer, der sogar im Winter 1944/45 «gegenüber Bekannten» äusserte, «Deutschland werde aber doch noch gewinnen und dann würden auch für ihn bessere Zeiten kommen», wie ein Beschatter vom Hörensagen rapportierte, halten all jene Leute für unmöglich, die Grüninger während der Kriegszeit kannten.
1942 etwa, als die Beschatter ihn als «sattsamen Nazi» schilderten, hatte ihm der jüdische St. Galler Industrielle Elias Sternbuch einen Regenmantelladen in Basel eingerichtet, aus Dankbarkeit: Natürlich sei Grüninger nie ein Nazi-Sympathisant gewesen, sagt Sternbuch heute, sonst hätte er ihn doch nicht unterstützt. – Im Dezember 1944, als die Beschatter notierten: «Grüninger verbirgt seine positive nationalsozialistisch gesinnte Einstellung nicht», stellte der St. Galler Rabbiner Lothar Rothschild eine Empfehlung für den Flüchtlingshelfer aus, der sein Glück unterdessen als Vertreter der Basler Lebensversicherung (Unfall und Haftpflicht) versuchte.
Alte Linke, die über jeden einheimischen Nazi informiert waren, legen für Grüninger die Hand ins Feuer. Der Kommunist Albert A. zum Beispiel sagt, es sei halt so üblich gewesen, dass Sozialisten, Juden, Freisinnige und Nazis oft zusammensassen, sich ein wenig stritten, aber nicht zu sehr, wenn es um Fussball ging. Den Stammtisch des FC Brühl frequentierten die frontistischen Brüder Mario und Henry Karrer ebenso wie der sozialdemokratische Untersuchungsrichter Bernhard Roth oder Isidor Sochaczewski.
Mario Karrer taucht in den Grüninger-Dossiers der Beschatter ständig auf. Karrer ist auch heute noch ein Rechtsextremist, wie er gerne zugibt, und ein Antisemit. – Mario Karrer sagt, er habe Grüninger sehr gut gekannt. Grüninger sei ein «integrer Mann» gewesen, aber «politisch neutral»: «Er ist nicht bei uns gewesen», sagt Karrer, nicht bei der NBS und bei keiner anderen Bewegung. Er müsste das sonst wissen.
Veronika Schreieder, die Witwe des Bregenzer Grenzpolizeikommissars und SS-Mannes Joseph Schreieder, sagt heute: Ihr Mann sei 1940 nach Holland versetzt worden, und 1945 bei der Befreiung seien sechs baumstarke holländische Asoziale auf ihrem Mann herumgetrampelt, so dass sich sein Rückgrat um zehn Zentimenter verkürzt und er Zeit seines Lebens darunter gelitten habe. – Aber Paul Grüninger, sagt sie, sei ja auch sehr gemein behandelt worden, und ihr Mann habe ihn sicher nicht als Spitzel benützt. Grüninger sei ein Ehrenmann gewesen, ihr Mann habe lange Jahre amtlich mit ihm zu tun gehabt. Sie hätte es erfahren, wenn nachher etwas Unsauberes zwischen den beiden gelaufen wäre.
Für das Treffen von Schreieder mit Grüninger, das die ganzen Beschattungen ausgelöst hat, gibt es möglicherweise eine andere Erklärung. Sie liegt im Nachlass Paul Grüningers; es ist ein Telegramm, von dem niemand mehr weiss, wie es in Grüningers Besitz gelangte. – Am 5. Juni 1939 hatte die Zollfahndungsstelle München an die Gestapo in Bregenz telegrafiert:
«Ich bitte um baldmöglichste Mitteilung, ob gegen den Polizeihauptmann Paul Grüninger aus St. Gallen dort Festnahmeersuchen oder das Ersuchen um Vernehmung bei Betreten des Reichsgebietes an irgendeine Stelle ergangen ist.»
Auf der Rückseite des Telegramms steht in Grüningers Handschrift: «Angelegenheit Schmuckbeschlagnahme Bregenz». – Dreissig Jahre später sagte Paul Grüninger einem Journalisten, worum es bei diesem Telegramm ging. Im Herbst 1938 war in Vorarlberg eine Anlaufstelle aufgeflogen, bei der Emigranten ihre Wertsachen deponiert hatten, damit sie über die Grenze geschmuggelt werden konnten. In den Akten des Landgerichts Feldkirch soll Grüninger als Drahtzieher genannt worden sein.
Drei Wochen nach der Anfrage aus München fuhr Gestapo-Chef Joseph Schreieder zu Grüninger nach St. Gallen. Sie redeten leise im Bahnhofbuffet. Vielleicht hat Schreieder den alten Kollegen ja bloss vor einer Reise ins Deutsche Reich gewarnt. Die beiden trafen sich nie mehr.
Alt-Polizeihauptmann Paul Grüninger lebte seine letzten Jahrzehnte von Gelegenheitsjobs. Er war Handelsvertreter in fast jeder Branche, verkaufte Versicherungen, Bretter, Schweinefutter, Stoffe, Teppiche, Inserate und gab auch Fahrstunden. Oft wurde er in etwas schäbiger Kleidung gesehen, aber immer mit schnurgeradem Mittelscheitel. Strafbar machte er sich nach seiner Verurteilung noch ein einziges Mal, laut den Akten, als man ihn 1941 wegen illegalem Pokerspiel mit achtzig Franken büsste. Mit seiner Familie zog er ins Rheintal nach Au, wo sie im Haus der Schwiegermutter unterkamen. In den fünfziger Jahren durfte er wieder als Primarlehrer arbeiten, aber nur für Stellvertretungen. 1953 überwies ihm der Jüdische Weltkongress eine Spende von dreihundert Franken. Seine Geschichte erzählte er zu dieser Zeit selten, und wenn er sie erzählte, dann berichtete er immer von entlastenden Dokumenten, von Gesprächsnotizen mit Regierungsrat Keel, die nach der Suspendierung aus seinem Polizeihauptmanns-Pult verschwunden seien. 1954 verfasste er einen Lebenslauf, darin steht, dass er «über 2000 Flüchtlinge» ins Land gelassen habe; später sprach er von 3000, bloss etwa ein Drittel sei überhaupt bei der Flüchtlingshilfe registriert worden. 1962 gab er als Einundsiebzigjähriger den Lehrerberuf auf. Im Dorf Au kam er einigen wie «ein herrenloser Hund» vor, andere sahen in ihm einen «ganz geselligen Menschen». Im Männerchor sang er einen schönen Tenor. Er gründete den Club «Kameraden über 70», an Beerdigungen hielt er eindrucksvolle Reden. Nicht zuletzt um den FC Au machte er sich sehr verdient. 1968, vier Jahre vor seinem Tod, begannen plötzlich die Ehrungen, für die er sich stets in einer sehr weichen Kinderschrift bedankte. Wie viele Flüchtlinge er tatsächlich gerettet hat, ist nicht feststellbar. Rehabilitiert wurde Paul Grüninger nie.
Die Arbeit an dieser Serie wurde vom Verein «Gerechtigkeit für Paul Grüninger» in St. Gallen (PC 90-10301-0) ermöglicht, der Recherchierfonds des Fördervereins ProWoZ (PC 80-22251-0) hat sie mitgetragen. Beide Institutionen finanzieren sich aus Spenden.
Neben Interviews und Korrespondenzen sind die wichtigsten Quellen für die elfte Folge: Im Staatsarchiv St. Gallen die Bestände A 42 (Paul Grüninger), W 28 (Nachlass Grüninger). Bei der Fremdenpolizei St. Gallen die Akten Rudis. Im Bundesarchiv Bern die Bestände 4320 (B) 1971/78, Bd. 10 und E 27/2626 (Paul Grüninger). Die Vorgeschichte des Telegramms erwähnte Franz Felix Lehni in seinem Artikel «Als Menschlichkeit bestraft wurde», «Tages-Anzeiger» vom 20.12.1969. Die früheren Teile der Serie können nachbezogen werden: WoZ, Doku, Postfach, 8059 Zürich.
Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 4 vom 29. Januar 1993 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.