Justiz in Kolumbien: Doch noch ein Stolperstein
Noch ist unklar, ob Álvaro Uribe jemals im Gefängnis landen wird. Doch der Haftbefehl gegen den mächtigen ehemaligen Präsidenten zeigt, dass die Einheit der kolumbianischen Elite brüchig geworden ist.
Er galt als unantastbar. Mehr als fünfzig Ermittlungsverfahren sind gegen Kolumbiens ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe hängig, die Liste der Tatbestände reicht von Stimmenkauf bis hin zu Mord. Unter anderem ist er der Verantwortliche für die mindestens 2248 sogenannten «falsos positivos», junge Leute aus Armenvierteln, die von der Armee ermordet und dann als in der Schlacht gefallene Guerilleros ausgegeben wurden. 97 Prozent dieser Morde wurden zwischen 2002 und 2010 begangen, in der Regierungszeit von Uribe. Ob er sie selbst angeordnet oder zumindest gebilligt hat, ist juristisch genauso wenig geklärt wie alle anderen Vorwürfe. Verfahren gegen ihn blieben bislang verlässlich in den Mühlen einer korrupten Justiz stecken. Jetzt hat es ihn doch erwischt. Am Dienstag vergangener Woche wurde er verhaftet. Nie zuvor ist dies einem ehemaligen Präsidenten widerfahren. Seither befindet sich Uribe auf seinem Landgut El Ubérrimo im Norden Kolumbiens unter Hausarrest. Es ist vergleichsweise eine Lappalie, die dazu geführt hat.
Politische Vetternwirtschaft
Diese Lappalie hat eine lange Geschichte. Sie nahm im Mai 2012 ihren Anfang, als der linke Abgeordnete Iván Cepeda im Parlament Fotos und Zeugenaussagen präsentierte, gemäss denen in den neunziger Jahren auf Uribes Finca Guacharacas im Departement Antioquia die paramilitärische Gruppe «Los 12 Apostolos» gegründet wurde und dort ihr Operationszentrum hatte. Sie beging in den Jahren darauf Massaker an ZivilistInnen und vertrieb BäuerInnen von ihren Ländereien. Uribe war damals Gouverneur von Antioquia, und Cepeda forderte eine Untersuchung, in der dessen Verantwortung für diese Verbrechen geklärt werden sollte.
Uribe schlug zurück. Er verklagte Cepeda und behauptete, der linke Parlamentarier habe seine Zeugen bestochen und unter Druck gesetzt. Der oberste Gerichtshof, der als einzige juristische Instanz gegen ParlamentarierInnen vorgehen darf, nahm Ermittlungen auf. 2018 kam dann die Wende. Die Richter erklärten, es gebe keinerlei Hinweise, die ein Vorgehen gegen Cepeda rechtfertigen würden. Im Gegenteil: Aufgrund von Dutzenden abgehörten Telefongesprächen und mitgeschnittenen Unterredungen zwischen einem Anwalt Uribes und einem von Cepeda präsentierten Zeugen habe man Beweise, dass der ehemalige Präsident seinerseits ZeugInnen bestochen und massiv unter Druck gesetzt habe, damit diese ihre Aussagen widerriefen. Zwei Jahre später kam dann der Haftbefehl wegen «Bestechung und Behinderung der Justiz». Die Begründung: Wer einmal versucht habe, ZeugInnen zu manipulieren, könne dies auch wieder tun. Das gelte es zu verhindern.
Was juristisch gesehen wie eine bare Selbstverständlichkeit erscheint, ist in Kolumbien eine Sensation. Das Land wurde mit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert als Elitestaat konzipiert, in dem eine kleine Gruppe sich gegenseitig alle wesentlichen Posten in der Regierung, in Parlamenten und in der Justiz zuschiebt und keiner dem anderen wehtut. So ist das bis heute. Uribe selbst ist ein Beispiel dafür: Der heute 68-jährige Spross einer reichen Viehzüchterfamilie war erst Gouverneur, dann Präsident und ist heute – weil mehr als zwei Amtszeiten nicht möglich sind – einflussreicher Senator. Als solcher hat er seinen politischen Ziehsohn Iván Duque vor zwei Jahren ins höchste Staatsamt bugsiert.
Keine Einheit mehr
Es gab nur wenige Ausnahmen von dieser politischen Vetternwirtschaft. Die prominenteste ist Iván Velásquez, ein Staatsanwalt, der zwischen 2007 und 2009 über sechzig ParlamentarierInnen wegen ihrer Zusammenarbeit mit ultrarechten Paramilitärs ins Gefängnis brachte. Als er sich aber an die ganz Grossen wagte, wurde er von Uribe verklagt und floh ins Exil. César Reyes, der als Richter die aktuellen Ermittlungen gegen Uribe koordiniert, ist nicht vom gleichen Kaliber. Nach Auskunft seiner KollegInnen gilt er schlicht als professioneller Jurist, der seine Arbeit macht und nicht korrupt ist.
Dass es Reyes gelungen ist, seiner Kammer einen Haftbefehl gegen Uribe abzuringen, ist das Ergebnis eines langen politischen Prozesses. Vergeblich hatte Uribe während seiner Amtszeit versucht, den Krieg gegen die linke Farc-Guerilla mit einem militärischen Vernichtungszug zu beenden. Sein Nachfolger Juan Manuel Santos setzte auf Verhandlungen und erreichte damit Ende 2016 einen Friedensvertrag. Uribe hat stets dagegen opponiert, und fast hätte er mit einer Hetzkampagne den Vertrag auch zu Fall gebracht. Die beiden repräsentieren unterschiedliche Teile der Elite: Santos ist Vertreter des aufgeklärten Kapitals, für das ein Ende des Bürgerkriegs ein besseres Geschäftsklima bedeutet. Uribe steht für die ultrarechten IdeologInnen, die weiterhin alles, was links ist, vernichten wollen.
Früher hätten die Mächtigen ihre Probleme abseits der Öffentlichkeit unter sich geregelt, sagt León Valencia, der Vorsitzende der kolumbianischen Stiftung für Frieden und Versöhnung. «Aber der Friedensprozess mit der Guerilla hat die Einheit der Elite aufgesprengt», so der Politologe und einstige Guerillero. Diese Bruchlinie geht auch quer durch die kolumbianische Justiz – und nun hat sie den Haftbefehl gegen Uribe ermöglicht. Das Verfahren wird sich zwar noch lange hinziehen, und es ist nicht auszuschliessen, dass Uribe bald wieder freikommt. Aber ein Signal ist gesetzt: Selbst er ist nicht mehr unantastbar.