Frankfurter Schule: Weit mehr als nur der Schattenmann
Im Buch «Grand Hotel Abgrund» bleibt er einmal mehr eine blosse Randfigur der Frankfurter Schule: Der Ökonom Friedrich Pollock gilt bis heute als blosser Verwaltungschef des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Eine Biografie würdigt ihn jetzt als dessen zentrale Figur.
Eine wahrhaft kritische Theorie des gegenwärtigen Zeitalters täte heute not, gerade in dieser Krise, in der alles ins Rutschen kommt – vom Alltagsleben bis zur hoch fragilen Weltordnung. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule gilt bis heute vielen als unerreichtes Vorbild für ein solches Unternehmen. In der englischsprachigen Welt ist sie nach wie vor wenig bekannt.
Der britische Journalist Stuart Jeffries hätte also mehr als eine Lücke füllen können mit «Grand Hotel Abgrund», seinem Buch über die Frankfurter Schule. Das tut er aber nicht. Wohl wartet Jeffries mit einigen weniger bekannten Einzelheiten aus der Emigrationsgeschichte des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt auf. Aber insgesamt richtet er die Geschichte des Instituts und seines Personals auf eine Interpretation zu, die heute an britischen und US-Universitäten ankommt. Die Anfänge des Instituts wie auch die wichtigsten Forschungsarbeiten werden im Buch zwar erwähnt, aber nicht recht ernst genommen.
Rendezvous der grossen Geister
Für Jeffries beginnt die wahre Geschichte des Instituts erst 1930, mit dem Antritt Max Horkheimers als Direktor. Aus dessen Plänen und Entwürfen, aus den Beiträgen von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno macht Jeffries eine regelrechte Wendung nicht nur zur Sozialphilosophie, sondern zu einer Art postmodernem Postmarxismus avant la lettre. Also zu einem Gebräu, wie es heutzutage in den angelsächsischen Geisteswissenschaften so gerade noch goutiert wird.
Deshalb befasst sich Jeffries in «Grand Hotel Abgrund» ausführlicher nur mit drei Grosstheoretikern: Bei ihm dreht sich alles um Adorno, Horkheimer und Benjamin. Alle anderen sind Statisten, blosse Randfiguren. Immerhin verlässt er gelegentlich die Bahnen der Hagiografie der grossen Geister und berichtet vom Zusammenprall akademischer Kulturen, etwa zwischen der empirischen Sozialforschung, repräsentiert durch den Austromarxisten Paul Lazarsfeld, und der hegelianischen Sozial- und Kulturphilosophie eines Theodor Adorno. Auf die knackige Kurzformel Lazarsfelds gebracht: Dialektik als Vorwand, sich diszipliniertem Denken entziehen zu dürfen.
Gegen das dominante Zerrbild
Anders Philipp Lenhard, der mit seiner Biografie über Friedrich Pollock (1894–1970) wirklich eine Forschungslücke schliesst. Denn Pollock galt und gilt als blosser Verwaltungschef des Frankfurter Instituts: als Organisator im Hintergrund, als der Mann für die Finanzen – und so, als Schattenmann und Gehilfe Horkheimers, wird er auch von Jeffries behandelt. Dabei war Pollock, wie Lenhard in seinem Buch zeigt, eine zentrale Figur der später so genannten Frankfurter Schule. Ohne ihn hätte es das Institut kaum gegeben, ohne ihn hätte es als Forschungs- und Ausbildungsstätte kaum funktionieren können. Seine wissenschaftliche Lebensarbeit steht in scharfem Kontrast zum bis heute dominanten Zerrbild des Frankfurter Instituts als eines reinen Philosophenklubs, der den sogenannten westlichen Marxismus weg von der politischen Ökonomie und hin zur Sozialphilosophie geführt habe.
Lenhard verfolgt Pollocks Lebensweg detailreich und über viele Stationen. Ausführlich beschreibt er die Freundschaft zwischen Pollock und Horkheimer: Beide sind sie Fabrikantensöhne, beide entstammten sie dem gleichen gutbürgerlich-jüdischen Milieu, beide wurden sie von ihren Vätern zur kaufmännischen Ausbildung verdonnert. Gemeinsam absolvierten sie 1913 und 1915 Volontariate in Brüssel, Manchester und London. Aber anders als Horkheimer studierte Pollock Ökonomie und Soziologie, daneben auch Philosophie. Er war der eigentliche Marxismusexperte, seine Dissertation über die marxsche Geldtheorie war eine Pionierarbeit, die leider unveröffentlicht blieb.
Pollock arbeitete von Anfang an am 1923 gegründeten Institut in Frankfurt, zuerst als rechte Hand von dessen erstem Direktor Carl Grünberg. Er stand für die Kooperation mit dem Moskauer Marx-Engels-Institut, er war der Erste, der sich wissenschaftlich mit den Anfängen der Planwirtschaft in der Sowjetunion befasste. Durch ihn kam sein Jugendfreund Horkheimer als Nachfolger des Austromarxisten Grünberg ans Institut. Wie Grünberg stand Pollock für die empirische und historische Ausrichtung der interdisziplinären Forschungsarbeiten des Instituts. Er war es, der die neuen Formen des staatlich gelenkten und regulierten Kapitalismus untersuchte. Horkheimer und Adorno waren von seiner Theorie des «Staatskapitalismus» tief beeindruckt und übernahmen sie als Grundlage ihrer eigenen Arbeiten.
Pollock seinerseits blieb auf Distanz zu Adorno, ebenso zu Benjamin. Nur mit seinem lebenslangen Freund Horkheimer sprach er offen, und Lenhard kann dank seiner intensiven Archivarbeit viel Neues über den lebenslangen Gedankenaustausch zwischen den beiden berichten. Mit Horkheimer und wohl nur mit ihm scheint Pollock auch über seine wachsenden Zweifel an der Stimmigkeit der marxschen ökonomischen Theorie gesprochen zu haben. In den vierziger und fünfziger Jahren hat er diese Zweifel in mehreren Manuskripten niedergeschrieben. Auch diese blieben leider unveröffentlicht. Lenhard, der auch der Herausgeber der Pollock-Werkausgabe ist, zitiert daraus: Mit den marxschen Begriffen stimme etwas nicht, so Pollock. Aber was da nicht stimme, müsse man erst herausfinden. Der Zweck dieser Kritik war nicht, Marx’ Theorien zu verwerfen, sondern im Gegenteil, sie auszubauen.
Im Konflikt mit den Jungen
Als er 1950 aus seinem New Yorker Exil nach Frankfurt zurückkehrte, übernahm Pollock nach der Wiedereröffnung des Instituts im Jahr darauf keine administrativen Funktionen mehr, sondern agierte als Forschungsdirektor. So leitete er die erste grosse empirische Untersuchung des Instituts über die politischen Einstellungen in Deutschland, bis heute ein Meilenstein der empirischen Sozialforschung. 1956 legte er sein wissenschaftliches Hauptwerk über die «Automation» vor, sein erfolgreichstes Buch, mehrfach wieder aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Darin analysierte Pollock die Auswirkungen der Automation auf die Betriebe und die gesamte Sozialstruktur. Seine Analysen der sozialen Folgen der nächsten industriellen Revolution ergaben ein durchaus düsteres Bild einer Gesellschaft mit Massenarbeitslosigkeit und neuen Hierarchien von Berufen und Sektoren. Horkheimer, Adorno und Herbert Marcuse verlängerten Pollocks Dystopie des kommenden Zeitalters der Automation in kulturkritischer Absicht.
Seit 1951 lehrte Pollock auch wieder an der Frankfurter Universität, 1959 wurde er dort zum ordentlichen Professor für Volkswirtschaftslehre und Soziologie ernannt. In seinen letzten Jahren geriet er, der mit Abstand kompetenteste Marx-Kenner des Instituts, in heftige Konflikte mit den rebellierenden linken StudentInnen, denen er zu Recht eine «geschichtsblinde Marx-Lektüre» vorwarf. Ein Übel, das bis heute nachwirkt.
Stuart Jeffries: Grand Hotel A bgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2019. 509 Seiten. 43 Franken
Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 382 Seiten. 47 Franken