Kritische Theorie: Die Alabama Boys der Frankfurter Schule

Nr. 7 –

Nach der gesellschaftskritischen Phase mit Adorno und Horkheimer war die Kritische Theorie zur linksliberalen Politikberatung verkommen. Schafft Christoph Menkes «Theorie der Befreiung» eine Wiederbelebung der radikalen Anfänge des Instituts für Sozialforschung?

Nach dem Tod des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger im November vergangenen Jahres machte sich der schwedische Soziologe Anders Ramsay auf Twitter darüber lustig, dass so viele deutsche Intellektuelle, die in den sechziger Jahren als Gesellschaftskritiker berühmt geworden waren, später im behäbigen Oberbayern landeten. Enzensberger und Filmemacher Alexander Kluge in München, der Philosoph Jürgen Habermas am Starnberger See. Das sei, formulierte Ramsay, als würden sich New Yorker Intellektuelle dazu entscheiden, nach Alabama im US-amerikanischen Süden zu ziehen.

Das Bild war nicht mehr als ein Scherz, beschreibt aber doch ganz gut, wie sich die führenden Repräsentanten der kritischen Intelligenz in Deutschland nach 1968 positionierten: Man distanzierte sich – auch geografisch – von den sozialen und politischen Konflikten seiner Zeit.

Im Zusammenhang mit dem anstehenden 100. Geburtstag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ist diese Beobachtung nicht unwesentlich. Denn auch in dem renommierten sozialwissenschaftlichen Institut, dem die Frankfurter Schule ihren Namen verdankt, war im selben Zeitraum eine Abkehr von radikaler Gesellschaftskritik zu konstatieren.

Den Kämpfen verpflichtet

Dabei war das Institut 1923 von der jüdischen Familie Weil explizit gestiftet worden, um eine den Kämpfen ihrer Zeit verpflichtete Sozialforschung zu ermöglichen. Unter der Leitung des Austromarxisten Carl Grünberg der Arbeiter:innenbewegung zunächst noch eng verbunden, entwickelte das Institut ab 1931 mit Direktor Max Horkheimer und vor allem ab 1933 im Exil ein unabhängigeres Profil. Naheliegenderweise kreisten die Debatten immer wieder um die Frage, welche sozialpsychischen, kulturellen und politischen Strukturen den Aufstieg des Faschismus in Deutschland ermöglicht hatten. Charakteristisch für das Institut für Sozialforschung (IfS) war eine kritisch-marxistische Perspektive, mit der man sich den platt-ökonomischen Herleitungen der kommunistischen Parteien ebenso widersetzte wie der angepassten Staatsgläubigkeit der Sozialdemokratie, die im Januar 1933 kampflos vor den Nazis kapituliert hatte.

Nach der Rückkehr aus dem Exil 1951 knüpfte das Institut an diese Tradition an. Horkheimer und der etwas jüngere Theodor W. Adorno waren für Aktivismus zwar nicht zu begeistern und gerieten mit rebellischen Studierenden heftig aneinander. Doch ihre Gesellschaftskritik lieferte einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der 68er-Bewegung: nicht nur in Deutschland, sondern dank ihres Weggefährten Herbert Marcuse, der im Exil geblieben war, auch in den USA. Die Frankfurter Schule repräsentierte eine Kapitalismuskritik, die den Blick auf Lebensweise, Ästhetik und Ideologie öffnete, aber der marxschen Idee verpflichtet blieb, dass Eigentums- und Klassenverhältnisse Kern bürgerlicher Herrschaft sind. Und sie folgte einem emanzipatorischen Auftrag: Anders als traditionelle Wissenschaft ziele die Kritische Theorie, so Horkheimer, «nirgends bloss auf die Vermehrung des Wissens als solchem ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen».

Politikberatung statt Kritik

Es war genau dieser radikale Anspruch, von dem sich die bekanntesten Repräsentanten der Frankfurter Schule später verabschiedeten. Emblematisch für diese Wende steht Jürgen Habermas, der das Institut für Sozialforschung ironischerweise schon 1959 verlassen musste, weil Horkheimer ihn für einen linken Aktivisten gehalten hatte. Offensichtlich eine Fehleinschätzung: Je intensiver sich Habermas mit Kommunikation, Sprechakten und Diskursen beschäftigte, desto weniger spielten Herrschaftsverhältnisse in seinen Texten eine Rolle. Am Ende war die Kritik der Gesellschaft durch so etwas wie normative Politikberatung ersetzt: In seiner «Theorie des kommunikativen Handelns» beschreibt Habermas, wie rationale Kommunikation funktionieren und gute Deliberation ermöglichen könnte.

Ähnlich veränderte sich auch das Frankfurter IfS. Mit Helmut Dubiel (1989–1997) und Axel Honneth (2001–2018) wurde das Institut über Jahrzehnte von Direktoren geprägt, die bei Habermas gearbeitet beziehungsweise promoviert hatten. Honneth, wichtigster Vertreter der «dritten Generation» der Kritischen Theorie, wandte sich unter dem Stichwort «Anerkennung» den interpersonalen Beziehungen zu. Emanzipation ist bei Honneth eine «normativ gerichtete Veränderung» durch «moralisch motivierte Kämpfe» gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Frankfurter Schule war endgültig auf dem Weg zur Beratungseinrichtung für sozialliberale Reformen.

Selbstverständlich blieb politisch immer umkämpft, wer die Frankfurter Schule überhaupt repräsentierte. Dabei spielten auch bestehende Herrschaftsverhältnisse eine Rolle, wie sich am Fall des Soziologen Alex Demirovic nachzeichnen lässt. Demirovic, 1990 bis 2001 am IfS tätig, wurde Anfang der nuller Jahre an der Universität für eine Soziologieprofessur ausgewählt, dann jedoch von höchster Stelle verhindert. Das hessische Wissenschaftsministerium wollte keine Gesellschaftskritik in der Tradition von Marx, Karl Korsch und Adorno. In einem anderen Kontext würde ein solches Vorgehen vermutlich als Zensur bezeichnet werden.

Weht in Frankfurt neuer Wind?

Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob sich die Erb:innen der Frankfurter Schule heute wieder gesellschaftskritischer verstehen, politisch relevant. Einige Anzeichen dafür lassen sich erkennen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die USA, wo die «Critical Theory», möglicherweise auch aufgrund der Haltung Marcuses, offener gegenüber Bewegungen blieb. Für diese Lesart Kritischer Theorie stehen die Schwarze Rassismuskritikerin Angela Davis, die sozialistische Philosophin Nancy Fraser und die Vordenkerin des Queerfeminismus Judith Butler.

Vor allem Fraser (siehe WOZ Nr. 31/22) war in der deutschsprachigen Kritischen Theorie in den vergangenen Jahren sehr präsent, weil sie Honneths Anliegen, Anerkennungsfragen in den Mittelpunkt zu stellen, scharf widersprochen hat. Feministische und antirassistische Kämpfe sollten sich nicht in der Auseinandersetzung um Sprache und Respekt verlieren, sondern Produktionsweise und Reichtumsverteilung in den Blick nehmen. Eine Verbündete in Deutschland hat Fraser in der Berliner Philosophin Rahel Jaeggi, die klassisch-marxschen Kategorien wie Entfremdung und Warenförmigkeit zentrale Bedeutung beimisst, gleichzeitig allerdings auch dem normativen Ansatz Honneths verbunden ist.

Dafür, dass es auch in der deutschsprachigen Kritischen Theorie eine Rückbesinnung auf eine radikalere Kritik der Verhältnisse geben könnte, spricht möglicherweise die Bestellung von Stephan Lessenich zum neuen Leiter des Frankfurter Instituts. Was Lessenich, zuvor in Jena und München Professor für Soziologie, mit der ersten Generation des IfS verbindet, ist sein aktivistischer Zugang zur Gesellschafts­kritik. Mit seinen antiautoritären Überzeugungen und seiner Neugier für soziale Bewegungen bringt Lessenich zwei Eigenschaften mit, die entscheidend sind, um dem IfS als Ort undogmatisch-widerständiger Theorieproduktion neues Leben einzuhauchen.

Der Befreiungstheoretiker Menke

Die Frage, ob sich die Kritische Theorie heute wieder an ihren herrschaftskritischen Ursprung erinnert, lässt sich aber auch anhand der meistbeachteten aktuellen Publikation aus diesem Zusammenhang diskutieren: Christoph Menkes «Theorie der Befreiung». Das Buch, dessen Titel auffällig an Herbert Marcuses «Versuch über die Befreiung» erinnert, scheint ganz dem emanzipatorischen Auftrag der alten Frankfurter Schule verschrieben.

Das ist schon allein deswegen bemerkenswert, weil sich der 1958 geborene Frankfurter Philosoph Menke den grössten Teil seines Lebens vor allem mit Ästhetik beschäftigt hat. Erst mit «Kritik der Rechte» (2015) intervenierte er mit einem im engeren Sinne politischen Buch, das sich eine marxsche Kritik des Rechts zu eigen machte.

Ähnlich radikal kommt nun auch «Theo­­rie der Befreiung» daher. Schon in den ersten Zeilen skizziert Menke das Problem: «Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen. Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich – früher oder später – ins Gegenteil verkehrt.» Beispiele dafür liefert er gleich mit: Das Zurückdrängen von äusserer Herrschaft habe Regimes der Selbstkontrolle gestärkt, die Befreiung von Bedürfnissen diese der ökonomischen Verwertung unterworfen, und Frauen seien nach ihrer Emanzipation aus patriarchalen Familienverhältnissen in den Abhängigkeitsverhältnissen der Lohnarbeit gelandet.

Das erinnert an die These Foucaults, wonach der Widerstand nie ausserhalb der Macht liegen könne. Doch Menke zieht daraus keine resignativen Schlüsse: Er sieht zwar, dass «Befreiung nicht länger ein Versprechen» sein könne, weil die Knechtschaft der Gegenwart das Resultat gescheiterter Befreiung sei. Aber er verteidigt dennoch die Notwendigkeit von Emanzipationsprojekten. Es gelte, kritisch-hegelianisch zurückzuschauen und zu überlegen, wie es anders gehen könne.

Emanzipation à la Walter White

In einem ersten Schritt beschäftigt sich Menke dann mit der, wie er es nennt, «griechischen» Konzeption der Freiheit, nämlich der Entwicklung des Subjekts. Emanzipation kann in dieser Tradition als Bewusstwerdung und als Ausbruch aus Gewohnheiten verstanden werden. Deswegen ist für Menke der Begriff des Neuanfangens von zentraler Bedeutung – ein Moment der Spontanität, dem die «Erfahrung der Faszination» vorausgeht. Nach dieser ästhetischen Dimension der Befreiung erörtert er in einem zweiten Hauptteil des Buchs die im engeren Sinne politischen Aspekte. Menke identifiziert zwei Ansätze, mit denen in der Vergangenheit nach radikaler Befreiung gestrebt worden sei: kapitalistische Ökonomie und monotheistische Religion.

Mit grosser Begeisterung analysiert Menke zunächst die US-Serie «Breaking Bad» als Lehrstück kapitalistisch-ökonomischer Befreiung. Über hundert Seiten folgt er dem spiessigen Chemielehrer und Familienvater Walter White, der seinen Job nach einer Krebserkrankung hinschmeisst und sich in einen draufgängerischen Drogenunternehmer verwandelt. Menke geht es hier um das neoliberale Narrativ, wonach man erst als Selbstständiger wirklich frei sein könne, und entlarvt diese Erzählung als ­«falsche» Emanzipation: Was im Neoliberalismus als Befreiung erscheint, sei nichts anderes als eine grauenhafte, radikale Ökonomisierung des Subjekts.

Als zweite grosse Emanzipationserzählung macht Menke den Auszug der Juden aus Ägypten aus, der von allen grossen monotheistischen Religionen erinnert wird. Geführt von Moses, flieht das unterdrückte jüdische Volk aus der ägyptischen Knechtschaft und gibt sich am Berg Sinai ein göttliches Regelwerk, das kein Gesetz ist. Wie viele Religionswissenschaftler:innen ist auch Menke der Ansicht, die Exodusgeschichte müsse «antigesetzlich» und «anarchisch» interpretiert werden, weil hier mit einer herrschenden «Sittlichkeit» gebrochen, aber keine neue «Herrschaft durch Repräsentation begründet» wird. Die neue Ordnung steht jenseits weltlicher Herrschaft. Doch auch diese Emanzipation schlägt in ihr Gegenteil um, als das Gebot vergesetzlicht wird.

Beide Ansätze der Befreiung scheitern also: «Die ökonomische Existenz wird seriell, […] die religiöse mystisch.» Menke erklärt das damit, dass beide dieselbe Grundannahme teilen – nämlich, «dass die Befreiung mit der Gewohnheit bricht und daher diesseits oder jenseits des Sozialen liegt». Für Menke sind «die ökonomisch Selbständige und der religiös Hörende» insofern «‹Idioten›», als sie sich ausserhalb der Gesellschaft stellen. Wie der Chemielehrer White in «Breaking Bad» wendet der unternehmerische Mensch seine Emanzipation gegen andere, der «religiös Hörende» verfolgt seine Befreiung jenseits der weltlichen Ordnung. Menkes Schlussfolgerung lautet, Befreiung müsse im Widerspruch dazu «kollektiv geschehen, also politisch».

Individuell und kollektiv

Das ist gewiss nicht falsch, aber auch ein einigermassen irritierendes Fazit. Fast 600 Seiten braucht Menke, bis er mit seiner «Theorie der Befreiung» zur Einsicht kommt, die Linke seit jeher behaupten: Emanzipation ist ein kollektiver Prozess, in dem ein äusseres Zwangsverhältnis niedergerissen und freie Beziehungen zwischen Individuen überhaupt erst ermöglicht werden. Das heisst, es bedarf einer Wechselbeziehung zwischen (Selbst-)Aufklärung, gegenkultureller Praxis und der Organisation politischer Handlungsmacht. Natürlich weiss Menke, dass es diesen anderen Befreiungsbegriff gibt, doch er klammert ihn in seiner Argumentation fast vollständig aus. Auf diese Weise bleibt seine «Theorie der Befreiung» dem, was sie kritisiert, tief verhaftet.

Menkes Emanzipation kreist um das vereinzelte Subjekt: Wie nehmen wir etwas wahr? Wie lösen wir uns aus Gewohnheiten? Wie ­können wir dafür sorgen, dass wir den falschen Freiheitsversprechen nicht länger erliegen? Diese Fragen sind relevant, aber richtig interessant würde es dort, wo es um die Verschränkung individuell erlebter und kollektiver Befreiung und die daraus resultierenden Probleme geht.

In ihren Theaterstücken haben Bertolt Brecht und Heiner Müller über die Widersprüche nachgedacht, die das Individuum in sozialistischen Emanzipationsprozessen zerreissen. Die lateinamerikanische Befreiungspädagogik hat versucht, Methoden bereitzustellen, die es Subalternen – Bauern, Slumbewohnerinnen, Indigenen – erlauben, ihre soziale Lage mit eigenem Kopf und doch gemeinsam zu reflektieren. In den gegenkulturellen Bewegungen seit den sechziger Jahren ging es darum, inwiefern unter den herrschenden Bedingungen ein «Neuanfangen» möglich sei, das nicht nur «spontan» sein, sondern egalitäre und solidarische Beziehungen ermöglichen sollte. Die Befreiungstheorien des 20. Jahrhunderts gingen von einer Freiheit aus, die sich überhaupt erst in der Gemeinsamkeit mit anderen herstellt. All das sucht man bei Menke vergeblich.

Es ist natürlich Unsinn, anzunehmen, dass ein einzelnes Buch Auskunft über einen ganzen Diskussionszusammenhang erteilen könnte. Aber vielleicht lässt sich Menkes «Theorie der Befreiung» – wie die Alabamaanalogie zu Anfang – als Bild begreifen. In der Denktradition, die als Kritische Theorie bezeichnet wird, ist durchaus so etwas wie eine Rückbesinnung auf das radikale Mandat des frühen IfS zu beobachten. Doch die meisten akademischen Stichwortgeber:innen sind von den Emanzipationsbewegungen, mit denen sie sympathisieren, sehr weit weg. Dass überhaupt wieder Fragen gestellt werden, die über linksliberale Politikberatung hinausgehen, ist erfreulich. Aber in Anbetracht der heraufziehenden ökologischen und sozialen Grosskrise ist das alles noch viel zu wenig. Nancy Frasers neues Buch «Der Allesfresser» über den sich selbst kannibalisierenden Kapitalismus gibt Hinweise, wohin die Reise gehen müsste: Die Befreiung von den «versklavenden Verhältnissen» ist zur Überlebensfrage geworden.

Buchcover von «Theorie der Befreiung»

Christoph Menke: «Theorie der Befreiung». Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 720 Seiten. 52 Franken.