Wichtig zu wissen: Eingegraben essen

Nr. 36 –

Ruedi Widmer über den Röhrenaal, den Pfau und Berlin

Bei einem neuerlichen Besuch im Zoo Zürich habe ich weitere Lieblingstierarten für mich entdeckt. Diesmal Röhrenaale. Kleine, schlanke, schlauch- oder eben röhrenförmige Fische, die wie Gräser aus dem Meeresboden zu wachsen scheinen und in der Strömung hin und her wippen. Sie graben ihren Schwanz in den Boden ein und stabilisieren den Sand um sich herum mithilfe eines Sekrets. Sie sind die einzigen Wirbeltiere, die eine, wie Wikipedia anmerkt, sessile, festsitzende Lebensweise haben. Sie fressen einfach das Plankton, das an ihnen vorübergleitet.

Diese Art Ernährung kennen viele Menschen aus dem Schlaraffenland. Da kann man sessil am Boden liegen, und der gewünschte Braten fliegt fertig zubereitet in den Mund. Doch leben immer weniger Menschen im Schlaraffenland. Das schlaraffenländische BIP stagniert, die Bevölkerung ist überaltert, die Anzahl der Jungen, die keinen Fressplatz mehr finden, nimmt zu. Die Politik könnte und müsste handeln.

Einige der SchlaraffenländerInnen, die zwar immer noch genug Braten bekommen, aber denen es einfach langweilig geworden ist, gehen in die Hauptstadt und demonstrieren. Sie wollen endlich anderes Essen. Welches, wissen sie selber nicht. Sie wollen auf der Stelle einen anderen Teller, ein anderes Programm! Mutti muss nun herausfinden, welches. Das ist sehr mühsam, denn die aufmüpfigen SchlaraffenländerInnen hauen mit Löffeln auf ihre Teller und stampfen auf den Boden, machen einen Riesenlärm und wollen endlich eine bessere Mutti. Im Schatten der Löffel und Teller bewegt sich weiteres Gewürm, das geistig ausgesprochen sessil ist, aber doch beweglich genug, die Reichstagstreppe hochzustürmen.

Das zweite neue Lieblingstier ist eine Pfauenfrau, die sich mit ihren zwei Jungen im Affenhaus unter die ZuschauerInnen mischte und mitschaute. Die Pfauen gingen also quasi auch mal in den Zoo wie die Menschen. Letzte Woche las ich, ein 23-jähriger Wohnungsmieter habe im deutschen Harburg einen Pfau namens «Pfaui» erschossen, der ihn «geärgert» habe. Der Vogel sei seit Jahren im Dorf herumstolziert und bei der Bevölkerung beliebt gewesen. Er habe sich oft selber in einem spiegelnden Fenster im Nachbarhaus ausgiebig betrachtet. Das habe den Mieter so aufgebracht.

Ich kann mir gut vorstellen, dass es einen Mann ärgern kann, wenn sich ein Pfauenmännchen schön findet. Vielleicht hat der Mann selber Probleme mit seinem Aussehen oder ist nicht sonderlich beliebt bei den Frauen – wir wissen es nicht. Geflügel hat ja optisch gesehen die Tendenz, wahnsinnig wichtig zu wirken, bei gleichzeitig eher eingeschränkter Hirnleistung. Das lässt auf eine zweite Möglichkeit schliessen: Der Mann hat sich an den Präsidenten Amerikas erinnert gefühlt oder an die verrückten Vögel an der Hygieneparade in der Hauptstadt des Schlaraffenlands. Aber selbst dann: Es gibt keine Gründe, auf jemanden zu schiessen, und gerade im gelassenen Umgang mit provozierendem Federvieh kann man viel lernen für den anspruchsvollen zivilisatorischen Umgang mit Narzissten, Wichtigtuerinnen oder SchwätzerInnen. Das muss ich mir selber auch wieder sagen, wenn ich beginne, mich über die paar Tausend («Milliarden») freakigen Corona-, Impf- und AbtreibungsdemonstrantInnen zu ärgern.

Die wirkliche Gefahr sind nicht Pfauen wie Attila «Avocadolf» Hildmann, die Anti-Merkel-Proleten oder diejenigen, die Kaiser Wilhelm zurückwollen, sondern die PolitikerInnen von NPD und AfD, sogar AfD-Verfassungsrichter, die vor dem Reichstag in der zweiten Reihe hinter den martialischen Neonazis und den angeblichen FriedensdemonstrantInnen stehen und jene die Drecksarbeit machen lassen, um dann in die erste Reihe vorzurücken. Björn Höcke kann sich einfach sessil in den märkischen Sand eingraben und sich vom Zorn der gelangweilten WutbürgerInnen ernähren, die nicht wissen, was sie wollen.

Ruedi Widmer ist sessil in Winterthur.