Polen: «Die PiS beansprucht ein Monopol auf den Patriotismus»
Der Historiker Pawel Machcewicz verlor wegen der Regierungspartei PiS seine Stelle als Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs. Die zunehmend autoritären Tendenzen im Land, sagt er, machten auch vor dem Verständnis der eigenen Geschichte nicht halt.
WOZ: Herr Machcewicz, am 1. September wurde auf der polnischen Halbinsel Westerplatte bei Danzig des Überfalls durch die Deutschen vor 81 Jahren gedacht. Dieses Jahr richteten aber nicht die lokalen Politiker und Politikerinnen die Veranstaltung aus, sondern die Regierungspartei PiS. In einem Interview mit der liberalen Tageszeitung «Gazeta Wyborcza» sagten Sie, die Partei hätte den Jahrestag für ihre politischen Zwecke missbraucht. Warum?
Pawel Machcewicz: Der im vergangenen Jahr ermordete Bürgermeister Danzigs, Pawel Adamowicz, veranstaltete seit den neunziger Jahren die Gedenkfeier auf Westerplatte, es war eine Tradition. Die PiS hat die Gedenkstätte quasi annektiert und die Feierlichkeiten übernommen, um selber festlegen zu dürfen, wer mit welchen Inhalten zu Wort kommen darf. Präsident Andrzej Duda griff in seiner Rede die Stadt Danzig und die lokalen Politiker an und warf ihnen vor, die Westerplatte sei in einem schändlichen Zustand – was die Übernahme durch die PiS vordergründig rechtfertigt. Alle, die diesen Ort kennen, wissen, dass dies schlichtweg eine Lüge ist.
Die Bürgermeisterin von Danzig, Aleksandra Dulkiewicz, war nicht zu den Feierlichkeiten zugelassen. Was erhofft sich die PiS davon, den Lokalpolitikern und Lokalpolitikerinnen das Wort zu verbieten?
Alle, die nicht der PiS angehören oder diese unterstützen, sollen aus dem nationalen Einheitskörper ausgeschlossen werden. Wer für eine andere Partei stimmt oder dieser angehört, gilt als Bürger zweiter Klasse. Der Übernahme der Westerplatte durch die PiS ging eine breite Kampagne in der parteinahen, rechten Presse voraus. Es kamen zum Beispiel die haltlosen Vorwürfe auf, die lokalen Politiker würden die Stadt Danzig den Deutschen übergeben wollen.
Wäre die Situation eine andere gewesen, wenn Frau Dulkiewicz der PiS oder einer mit der PiS kooperierenden Partei angehören würde und nicht der liberalen PO?
Natürlich, wenn Danzig in der Hand der PiS wäre, würde die Halbinsel den Lokalpolitikern nicht weggenommen werden. Im Gegenteil, man würde in jeder Zeitung lesen können, in welch gutem Zustand die Halbinsel ist.
Büsst die PiS durch den Ausschluss lokaler Politiker und Politikerinnen nicht auch Unterstützung ein?
Ja, aber dieses Risiko geht die PiS bewusst ein, die Partei braucht die Spaltung. Sehen Sie sich die letzten Wahlen an. Präsident Andrzej Duda erhielt im zweiten Wahlgang nur knapp zwei Prozentpunkte mehr als sein Herausforderer, der liberale Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski. Die wichtigste Methode der PiS ist die Mobilisierung ihrer Anhänger gegen die andere Hälfte der Bevölkerung. Was diese andere Hälfte von der Partei denkt, ist ihnen weitgehend egal.
Welche Bedeutung misst die PiS denn der «richtigen» Geschichtsschreibung zu?
Die Geschichte ist für die Polen sehr wichtig, das nationale Bewusstsein stützt sich zu grossen Teilen auf die historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Damit verbundene Emotionen und Symboliken verfehlen auch heute noch ihre Wirkung nicht. Die PiS weiss deren Bedeutung geschickt für die eigenen Zwecke zu nutzen.
Welche Interpretation der Geschichte wünscht sich die PiS denn?
Einer der Hauptpunkte ist es, die Polen als Helden oder Opfer des Zweiten Weltkriegs darzustellen. Offen darüber zu sprechen, dass viele Polen auch Täter waren, gerade was die Judenverfolgung angeht, ist ein Tabu. Ein gutes Beispiel hierfür ist das vom Parlament verabschiedete und von Präsident Duda abgesegnete «Holocaust-Gesetz». Diese Klausel verbietet es, die Polen als Mittäter im Holocaust zu «diffamieren». Dadurch wird auch Forschung, die sich mit der Judenverfolgung innerhalb Polens befasst, massiv erschwert. Die PiS beansprucht ein Monopol auf den Patriotismus und auf die Geschichtsschreibung. Wer die PiS nicht unterstützt und ihren Revisionismus nicht übernimmt, wird öffentlich als Verräter und schlechter Pole diffamiert.
So wie Sie?
Als mich die PiS 2017 als Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig absetzte, warf sie mir öffentlich vor, dass ich ein zu wenig polnisches Museum errichtet hätte und im Auftrag Berlins oder Brüssels handeln würde. Selbst PiS-Parteipräsident Jaroslaw Kaczynski sagte öffentlich, dieses Museum sei ein Stück deutsche Geschichtsschreibung.
Wie kam es zu Ihrer Kündigung?
Als offizieller Grund wurde angegeben, dass das Museum des Zweiten Weltkriegs mit dem Museum Westerplatte zusammengelegt werden sollte, da es keinen Sinn ergebe, zwei Museen mit demselben Inhalt – dem Krieg – in ein und derselben Stadt zu haben. Die zusammengelegten Museen sollten einen neuen Direktor erhalten, der für das Gesamtpaket zuständig ist. Nur so war es möglich, meine Amtszeit als Direktor, die noch auf viele Jahre rechtlich abgesichert war, zu beenden.
Warum, glauben Sie, wollte die PiS Sie auf diesem Posten loswerden?
Es ging der PiS darum, zu verhindern, dass wir, die anderen an der Konzeption beteiligten Historiker und ich, das Museum mit einer dauerhaften Ausstellung eröffnen, die laut PiS zu unpatriotisch sei und ein verzerrtes Geschichtsbild zeige. Es ist im Kern ganz einfach: Menschen, die nicht mit der regierenden Partei verbandelt sind, dürfen nicht das grösste historische Museum Polens eröffnen und führen. Das würde dem Narrativ der PiS widersprechen, wonach sie die einzige Partei sei, die sich um die Geschichte des Landes sorge.
Sie und die anderen drei Historiker, die an der Konzeption des Museums beteiligt waren, haben den neuen Museumsdirektor auf Basis des Urheberrechts angeklagt. Sie wollen, dass die Ausstellung in ihrer ursprünglichen Form unverändert gezeigt wird. Mit welchem Entscheid rechnen sie?
Der Prozess läuft noch, demnächst sollte das erstinstanzliche Urteil fallen. Wir wissen nicht, was uns erwartet, es ist ein Präzedenzfall für die gesamte EU. Die Justiz in Polen steht unter grossem politischem Druck, und ich schliesse nicht aus, dass nicht auch in diesem Fall Druck auf das verantwortliche Gericht ausgeübt wird.
Warum konzentriert sich die PiS nicht mehr auf die Aussenpolitik, die Rolle Polens in der EU und die internationalen Beziehungen, statt auf eine Reinterpretation der Geschichte im eigenen Land zu pochen?
Das ist der springende Punkt: Die PiS betreibt faktisch fast keine Aussenpolitik, alles, was sie tut, ist darauf ausgerichtet, das politische, kulturelle und historische Monopol im Inland zu zementieren und so die nächsten Wahlen zu gewinnen. Dabei hat der Umgang der PiS mit der eigenen Geschichte massgeblich zur Marginalisierung des Landes innerhalb der Europäischen Union beigetragen, etwa die Einführung des bereits erwähnten «Holocaust-Gesetzes». Gegen aussen wird so der Eindruck bestärkt, dass das Land keine mit der eigenen Geschichte verbundene Verantwortung übernehmen möchte.
Trotz oder gerade wegen dieser patriotischen Geschichtsumdeutung geniesst die PiS bei den älteren Wählern und Wählerinnen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration viel Unterstützung. Also bei jenen Menschen, die eigentlich erlebt haben, wie es wirklich war. Wie ergibt das Sinn?
Der demografische Hauptfaktor für die Unterstützung der PiS ist das Alter der Wählenden, was ich an einem grösseren Traditionalismus und der grösseren Affinität zur Kirche und zum Christentum festmache. Gleichzeitig kritisierten und kritisieren etwa viele Veteranen des Warschauer Aufstands die xenophobe und nationalistische Politik der PiS lautstark – und diese Menschen geniessen in der polnischen Öffentlichkeit ein sehr hohes Ansehen. Auch innerhalb der älteren Bevölkerung herrscht eine gesellschaftliche Spaltung vor.
Und die PiS treibt diese Spaltung immer weiter voran?
Die PiS hat einen Prozess angestossen, der das Land von einer liberalen Demokratie zunehmend in einen autoritären Staat verwandelt, in dem es keinen Platz für Andersdenkende gibt. Indem die Partei in die Judikative eingriff und die Richter am obersten Gericht gegen Gefolgsleute austauschte, beschnitt sie das zentrale Kontrollorgan der Demokratie. In der Geschichte und der Erinnerungskultur herrscht eine zunehmende Monopolisierung, hinzu kommt das wachsende Haushaltsdefizit.
Das klingt, als würden Sie dem Land eine düstere Zukunft prophezeien?
Die PiS wird nicht ewig regieren, aber die Partei wird einen Pfad der Verwüstung hinterlassen, sowohl politisch und wirtschaftlich als auch gesellschaftlich und kulturell. Auf die Polen kommt viel Arbeit zu. Wenn die PiS irgendwann abgewählt ist, wird das Land wieder neu zusammenfinden müssen, den Pluralismus wieder aufbauen, die Menschenrechte aller Menschen, ich rede explizit auch von LGBTQI-Personen, wieder stärken und auch einen neuen, stärkeren Platz innerhalb der Europäischen Union reklamieren müssen.
Der Historiker
Pawel Machcewicz (54) ist Geschichtsprofessor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Bis zu seiner Entlassung durch die PiS im April 2017 war er Gründungsdirektor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig.
Machcewicz hat unter anderem zum Massaker von Jedwabne geforscht, einem Pogrom polnischer Bürger gegen die jüdische Bevölkerung in einer Kleinstadt im Nordosten des Landes, bei dem am 10. Juli 1941 mindestens 340 Menschen ermordet wurden.