Theater: Von der Klubschule in den Pfauen
Zürich tanzt: Das Schauspielhaus eröffnete die neue Saison mit Arbeiten von Trajal Harrell, in der Gessnerallee startete das neue Leitungstrio mit der Choreografin Dragana Bulut. Warum das kein Zufall ist.
Was setzt Körper so unter Strom, dass sie tanzen müssen? Höfische Rituale zum Beispiel, die die Lust der Macht in eine beherrschbare Form giessen. Drogen. Oder auch der Stress eines überregulierten Lebens, dem auf dem Dancefloor in den Arsch getreten wird. Ist das der Grund, warum im Theater so viel getanzt wird? Der Körper spricht, weil die Worte vor den gegenwärtigen Kräften versagen?
Der Volksmund kennt eine treffende Phrase dafür und spricht vom Tanz auf dem Vulkan. Oft meint er die seismografische Reaktion auf gesellschaftlichen Druck – der Tanz weist auf den Vulkan hin, aber er lindert auch die Angst davor. Tanz ist, wenn er gut ist, immer beides: Flirt mit dem Feuer und Besänftigung zugleich. Und er handelt von der Berührung. Tanz ist, was uns fehlt, so dachte man wieder mal als Theaterhase, wenn man leicht benommen aus dem Schauspielhaus Zürich stolperte. Der queere schwarze Tänzer und Choreograf Trajal Harrell zeigte eine kleine Werkschau und mit dem «Köln Concert» eine neue Arbeit. Doch Harrell tanzt nicht stellvertretend für uns Ekstase, sondern sucht die Nähe in Dingen, die weit voneinander weg liegen. Er zeigt Berührungen über die Distanz.
Keith Jarrett auf dem Laufsteg
Wenn jemand wie Harrell sich sein halbes Leben mit der afroamerikanischen und hispanischen Tradition des Vogueing beschäftigt und dann zu Joni Mitchell und Keith Jarrett tanzt, krümmt er Zeit und Raum. Im ersten Teil der 45 Minuten bewegen sich Harrell und seine sechs TänzerInnen zu vier getragenen Songs von Mitchell aus den Jahren 1969 bis 1971 – den 69er Hit «Both Sides Now» hören wir in einer Orchesteraufnahme von 2000. Mitchell besingt die heterosexuellen Beziehungen der Mittelklasse. Danach folgt der Titel der Arbeit, Keith Jarretts Welterfolg, «The Köln Concert». Kaum jemand hat den Rückzug der Linken in die Innerlichkeit so gut vertont wie dieses Album von 1975. Meistens leichte Harmonien, aber von Selbstverwirklichung beseelt. Und steht jemand stärker für weissen Geniekult im populären Jazz als Jarrett? Hier Romantik und Privilegien, da, im Vogueing, körperliche Hyperexpressivität und eine Kunst der Minderheiten.
Wer es nicht in den Einführungen und Saisonvorschauen schon erfahren hat: Vogueing war eine in Spanish Harlem, New York City, beheimatete Praxis meist schwuler Männer of Color, die sich in sogenannten Balls die Posen der internationalen Models auf den Laufstegen aneigneten. Der Dokumentarfilm «Paris Is Burning» (1990) zeigte diese Subkultur den Pop- und Filmconnaisseurs, Madonna machte den Begriff mit dem Hit «Vogue» im gleichen Jahr global berühmt. Vogueing gibt es mittlerweile auch im Tanzbereich der Migros-Klubschule. Die Kultur hat also bereits einen langen Weg hinter sich, bevor das Schauspielhaus Zürich mit einem Künstler wie Trajal Harrell die Spielzeit eröffnet. Die etwas humorlose Ehrfurcht, ja Ergriffenheit im Publikum ist vermutlich dieser späten Ankunft von Diversität und kulturellem Transfer im alten Pfauentheater geschuldet.
Weisse Augen, nackter Hintern
Diese Überlagerungen zwischen dieser Musik und dem subkulturellen Tanz sowie anderen Traditionen sind so lustig, weil sie das soziale Verhältnis auch als Komödie aufführen. Wenn der übermüdete Keith Jarrett mal sinnlos präludiert und einen Akkord banal ausschmückt, dreht einer der TänzerInnen mit dem Finger Locken in die Luft, Harrell selbst gerät nun doch ins ekstatische Torkeln und zeigt das Weisse in den Augen. Wenn die Truppe am Schluss dieser interkulturellen Messe doch noch einen Reigen tanzt und sogar ein paar Vogueing-Posen zeigt, hält nur der Ernst der Ausführung vom Gelächter ab. Und wenn die «Sieben Muskeltierchen» nicht ernst wie antike Statuen auf ihren Schemeln sitzen, sondern kurz grinsen, dann zeigt einer dem Publikum kurz den nackten Hintern.
Doch die zarte Andacht im Saal ist auch nicht ganz verkehrt. Harrell schwingt das Publikum zu Beginn der kurzen Show buchstäblich ein. Seine Arme rudern parallel hin und her, während er auf einem der sieben Klavierschemel sitzt. Erst alleine, dann mit Ondrej Vidlar, der schon lange mit ihm arbeitet. Später sehen wir Spuren von sehr unterschiedlichen Tanzstilen – etwas Spitzentanz, etwas Modern Dance, etwas Vogueing, etwas Butoh. Aber die langen pendelnden Schwingbewegungen initiieren den Beginn eines Rituals, wie eine Hypnose für die gemeinsame Erfahrung. Auch Harrells Solo «The Return of La Argentina» von 2015 beginnt mit einem Ritual: mit Essen.
So kritisch und witzig das alles auch gemeint ist, Harrell inszeniert nicht eine kabarettistische Aneignung, das wäre schlechte Comedy. Joni Mitchell ist eine wunderbare Sängerin, der Snobismus gegen Keith Jarretts «The Köln Concert» ist auch längst langweilig. Kritik und soziale Projektionen schliessen den Genuss dieser Musiken nicht aus.
Ist das nicht sogar der Kern guter Comedy, dass sie sich dem Gegenstand ihrer Parodie oder ihrer Kritik auch empathisch nähern muss? Wie das nicht geht, zeigte die in Berlin lebende bosnische Choreografin Dragana Bulut am Eröffnungswochenende der neuen Leitung in der Gessnerallee Zürich. Ihr Stück «Happyology» inszeniert neunzig Minuten eine Parodie auf Diskurse der Selbstoptimierung – von esoterischem Sprech, der ins Autoritäre kippt, über Human-Resources-Prosa bis zu Smoothies für alle. Neben Talks, Walks und Installationen beim Leitungsstart von Michelle Akanji, Rabea Grand und Juliane Hahn stand damit auch «Tanz» auf dem Programm. Tanz?
Als gäbe es kein Virus
Bei aller Liebe zu flüssigen Formen: Bulut und ihre zwei PerformerInnen zeigten eine recht gewöhnliche Theaterperformance. Oder war es Tanz in dem Sinn, dass «Happyology» die Sehnsüchte des Publikums körperlich aufführt? Denn die 2018 in Berlin produzierte und viel gereiste Arbeit hat auch für die Eröffnung in der Gessnerallee so gut wie nichts den pandemischen Bedingungen angepasst.
Das Publikum wurde aufgefordert, tief ein- und wieder auszuatmen, aufzustehen, laut und im Chor Motivationsparolen zu schreien, als gäbe es kein Virus. Immerhin, die Masken blieben dabei auf. Ausser beim Schokoladeessen und Smoothieschlürfen natürlich. Wo ist hier der Unterschied zwischen Theaterschaffenden und CoronaskeptikerInnen, die zu kollektivem Kaffee- und Gipfelikonsum im öffentlichen Verkehr aufrufen? Vielleicht war das aber auch der mitfühlende Kern der Performance. Zumal es den einen wie den andern egal zu sein scheint, ob die Öffnung der Theaterhäuser so wieder aufs Spiel gesetzt wird.