Demokratie 2.0: «Trump ist eine Wetterfahne für die Zukunft der Demokratie»

Nr. 44 –

Die kenianische Autorin Nanjala Nyabola sorgt sich um die demokratische Entwicklung in Afrika, Europa und besonders in den USA. Ein Gespräch über Wahlmanipulation, den Einfluss der Techkonzerne – und die positiven Auswirkungen von Social Media.

Die Voraussetzungen für «digitalen Kolonialismus» schaffen: Werbeoffensive einer chinesischen Handymarke in Ouagadougou, Burkina Faso. Foto: Alamy

WOZ: Frau Nyabola, der amtierende US-Präsident sagte mehrfach, er wisse noch nicht, ob er das offizielle Resultat der kommenden Wahl anerkennen werde. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Nanjala Nyabola: Ich musste lachen. Für mich ist eine solche Erklärung nichts Ungewöhnliches. Ich kannte das aber bisher nur von autoritär regierten Ländern – und nicht von den USA.

Tatsächlich diente das Demokratiemodell der USA vielen afrikanischen Ländern nach ihrer Unabhängigkeit als Vorbild. Offenbart das Präsidialsystem seine Schwächen nun auch am Ursprungsort?
Ja, sicherlich. In einem Präsidialsystem hat der Präsident eindeutig zu viel Macht, wenn er auch noch die Mehrheit im Parlament hinter sich weiss. In dieser Position haben schon so einige Regierungen unbesonnen gehandelt, inklusive jene von Barack Obama und der Demokratischen Partei, als diese in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit stellte. Während Obamas ersten Amtsjahren wurde etwa der Überwachungsstaat stark ausgebaut. Die Demokraten hätten sich fragen müssen: Will ich «meinem» Präsidenten eine so grosse Machtfülle geben, die der nächste für ganz andere Zwecke nutzen könnte? Die Antwort darauf kann eigentlich nur ein Nein sein. Auf Suaheli gibt es das Sprichwort «Wenn du jemandem ein Grab gräbst, dann grabe gleich ein zweites, denn du wirst bald auch eins benötigen».

Also ist nicht nur die von Donald Trump dominierte Republikanische Partei an der jetzigen politischen Krise schuld?
Es ist eine Dynamik, die schon vor längerer Zeit von beiden Parteien in Gang gesetzt wurde und nur noch schwer zu stoppen ist. Seit über 200 Jahren betreiben sie Gerrymandering, sie verändern also die Grenzen von Wahlbezirken, um ihre Mehrheiten in den Bundesstaaten und im Repräsentantenhaus zu zementieren. Dank detaillierterer Karten und leistungsfähiger Computer ist diese Art der Manipulation in den letzten zehn Jahren noch effektiver geworden.

Die Politiker, die in einem bestimmten Bundesstaat an der Macht sind, haben naturgemäss kein Interesse daran, eine solche Praxis zu ändern, weil sie sich oder ihrer Partei diese Macht sichern wollen. Ähnlich ist es mit dem Wahlmännersystem bei Präsidentschaftswahlen, mit der lebenslangen Ernennung von Bundesrichtern oder mit den Wahlmaschinen, die nachweislich sehr leicht zu manipulieren sind … Solche Systemfehler können kurzfristig beiden Parteien nützen, langfristig können sie aber die Demokratie zerstören.

Könnten die USA aus den Erfahrungen in afrikanischen Ländern lernen?
In Afrika konnten wir die Institutionen noch nie als selbstverständlich betrachten oder davon ausgehen, dass sie genau dafür sorgen, wofür sie einmal errichtet wurden. Auch in etablierten Demokratien muss man spätestens jetzt wieder lernen, dass Institutionen immer wieder neu belebt und geformt werden müssen. Zudem bedeutet Demokratie harte Arbeit, sie muss erkämpft und verteidigt werden; es gibt keine Garantie, dass das System gegen einen Demagogen gewappnet ist. Vielleicht denken im Westen nun nicht mehr ganz so viele, dass «die Afrikaner» einfach nicht genug getan hätten, um sich eine funktionstüchtige Demokratie zu schaffen, oder dass sie absichtlich schlechte Regierungen wählen.

Welchen Einfluss hat das Trump-Regime in Afrika?
Also zuerst muss ich schon noch sagen: Auf der Karriereleiter des Autoritarismus ist Trump gerade mal im Kindergarten. An einen Paul Biya in Kamerun zum Beispiel kommt er noch lange nicht heran. Aber Trump ist eine Art Wetterfahne für die Zukunft der Demokratie in der Welt. Er legitimiert viele politische Praktiken, die antidemokratisch sind: die Art, wie er über Minderheiten und Frauen spricht, vor allem aber die Art, wie er seine Rolle als Präsident interpretiert. Wir hatten die Hoffnung, dass das Konzept eines allmächtigen imperialen Präsidenten, wie es in vielen Entwicklungsländern verbreitet ist, langsam, aber sicher delegitimiert sei und aussterben würde. Die zivilgesellschaftlichen Akteure sind in ihrem Kampf, Strukturen von Regierungsverantwortung aufzubauen, allerdings um drei oder vier Jahrzehnte zurückgeworfen worden.

Bedroht wird die Demokratie auch noch von neueren digitalen Entwicklungen – nicht nur durch die Manipulation von Wahlmaschinen, sondern auch durch die Manipulation der öffentlichen Meinung in den sozialen Medien.
Dieses Phänomen habe ich in meinem Buch «Digital Democracy, Analogue Politics» für Kenia untersucht. Europäische Länder und die USA sind davon aber noch stärker betroffen – und zwar aus dem einfachen Grund, dass afrikanische Länder sowohl in der Digitalisierung der Wahlen als auch in der gesellschaftlichen Durchdringung mit digitalen Medien noch deutlich zurückliegen. Das ändert sich nach und nach, und deshalb müssen wir auch aus den Entwicklungen anderswo lernen.

Was zum Beispiel?
Ich meine, was sich gerade in den USA aufgrund von systematisch und auch vom Präsidenten verbreiteten Verschwörungsmythen abzeichnet, war bisher völlig unvorstellbar: dass Menschen, die jeglichen Realitätssinn verloren haben, sich in Milizen zusammenschliessen und schwer bewaffnet vor den Wahllokalen aufkreuzen würden.

Aber Gewalt vor und nach Wahlen wurde etwa in Kenia auch schon lange geschürt, einfach eher mittels politischer Propaganda und traditioneller Massenmedien …
Das stimmt, aber Social Media haben ein viel grösseres Potenzial, was Wirkung und Manipulation angeht. Das sieht man auch im Zusammenhang mit der Coronapandemie. In Afrika machten anfangs einige Falschinformationen die Runde. Diese verschwanden aber rasch, vielleicht deshalb, weil viele Menschen die Gefahren früherer Epidemien selbst erfahren hatten, zum Beispiel der HIV-Pandemie. Diese Erfahrungen führten dazu, dass heute zuverlässige lokale Quellen zu Gesundheitsinformationen zur Verfügung stehen, denen die Leute vertrauen. In Europa und den USA geht der Trend in die andere Richtung: Der Einfluss von Social Media nimmt laufend zu, je länger die Pandemie andauert – und damit auch die Masse jener, die an Verschwörungsmythen glauben und sie weiterverbreiten.

Obwohl digitale Medien in Kenia noch relativ unbedeutend sind, haben im letzten Wahlkampf westliche Politikberatungsunternehmen in diesem Bereich kräftig mitgemischt.
Ja, aber mit begrenzter Wirkung. Für die Wahl von 2017 hatte Präsident Uhuru Kenyatta die Firma Cambridge Analytica beauftragt, die politische Wahrnehmung der Kenianer zu analysieren und darauf basierend eine Kampagne für seine neue Partei zu schaffen. Die US-Kommunikationsagentur Harris Media setzte einen Teil der digitalen Kampagne um. Heute kann man sagen: Das war alles viel heisse Luft – eine oberflächliche Analyse und eine eher wirkungslose Strategie.

Warum?
Facebook und andere wichtige Apps und deren Algorithmen sind auf den nordamerikanischen und europäischen Markt ausgerichtet und können glücklicherweise in den meisten nichtwestlichen Ländern nur wenig Schaden anrichten. Das politische Targeting geschieht über persönliche Informationen wie soziale Klasse, Religion, Ethnie oder politische Gesinnung. Wenn solche Abgrenzungen identifiziert werden können und die politische Spaltung eines Landes mit diesen zusammenfällt, dann können Social-Media-Kampagnen zu politischer Gewalt führen. Das ist etwa in den USA oder auch in Myanmar der Fall. In Kenia zum Beispiel fällt zwar die politische mit der ethnischen Spaltung zusammen – doch kaum jemand gibt auf Facebook seine ethnische Zugehörigkeit oder seine Partei an. Das macht es schwieriger, diese Informationen für Kampagnen auszubeuten.

Also ist alles halb so schlimm?
Leider nein. Nigeria kommt zum Beispiel weniger glimpflich davon, da fallen religiöse stark mit politischen Zugehörigkeiten zusammen. Und in Myanmar kam es zu einem Genozid, der von digitalen Kampagnen befeuert wurde. Zudem: Was etwa in Indien längst passiert ist, geschieht zunehmend auch in Ländern wie Kenia oder Nigeria: Techunternehmen und Politberatungsfirmen stellen vor Ort junge Programmierer an, um den lokalen Kontext zu erfassen. Und schliesslich darf man nicht vergessen, dass selbst schlecht gemachte Analysen und Kampagnen schädlich für Demokratie und Gesellschaft sein können. Man stelle sich nur vor, was in Kenia tatsächlich passiert ist: Der Präsident zahlt viel Geld, das wahrscheinlich nicht sein eigenes ist, an ein ausländisches privates Unternehmen, das unter anderem die persönlichen Daten der Bürger stiehlt …

Ist es das, was Sie «digitalen Kolonialismus» nennen?
Ja, digitaler Kolonialismus liegt vor, wenn ausländisches Privatkapital mit technologischen Mitteln in Entwicklungsländern in politische Prozesse eingreift, um Profit zu machen. Das ist ein zunehmend wichtiger Teil von Neokolonialismus. Denn nach dem Ende des politischen Kolonialismus zogen die europäischen Kolonialmächte nicht einfach ab; sie kontrollierten weiterhin die Produktivkraft. Heute haben europäische, US-amerikanische und chinesische Unternehmen viel Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent, insbesondere im digitalen Raum. Diese Unternehmen stehen unter dem Schutz des Mutterlandes; selbst das höchste Gericht Kenias hätte keine Chance, auf deren Server zuzugreifen und sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Nanjala Nyabola, Politologin

In Ihrem Buch setzen Sie aber auch Hoffnungen in eine «digitale Demokratie».
Absolut. Social Media haben zum Beispiel klar positive Auswirkungen in repressiven Gesellschaften – in Ländern, wo es keine freien Medien gibt, keine Versammlungsfreiheit et cetera. Digitale Kanäle erlauben Menschen, sich effektiv gegen die Staatsgewalt zu organisieren, wie etwa im Sudan im vergangenen Jahr. Auch die Möglichkeit, Basisbewegungen durch Crowdfunding zu finanzieren, gehört zu den positiven Aspekten, die wir fördern müssen. Aber die Risiken digitaler Technologie, vor allem wenn sie im politischen und sozialen Raum zum Einsatz kommt, sind sehr hoch. Ein Unternehmen, das Überwachungssoftware verkauft, sollte niemals einfach nur die Technologie herstellen, ohne sich über die möglichen negativen Konsequenzen klar zu sein. Und dasselbe sollte jede Gesellschaft tun. Wir schlafwandeln sonst ins Desaster.

Nanjala Nyabola

Die kenianische Politexpertin, Autorin und Aktivistin Nanjala Nyabola lebt in Nairobi. Sie studierte in den USA und Grossbritannien Rechts- und Politikwissenschaft. Ihr Buch «Digital Democracy, Analogue Politics: How the Internet Era is Transforming Politics in Kenya» (Zed Books, 2018) gilt als Meilenstein in der Erforschung des Einflusses digitaler Technologien auf die Politik. Im November erscheint ihre Essaysammlung «Travelling While Black» (Hurst, 2020).