Erwachet: Strassentheater
Michelle Steinbeck schaut gebannt zu
Wenn es einen Skill gibt, den wir derzeit besonders gut brauchen können, ist es Deeskalation. Die zweite Welle des Coronavirus trifft einen freigelegten Nerv. Absagen, Schliessungen, Homeoffice, Angst – das öde Stück vom Frühjahr beginnt von vorn. Falls es damals noch den Reiz des Neuen hatte, an guten Tagen gar verbunden mit einer leisen Hoffnung auf eine utopische Zukunft mit mehr Solidarität, eine Verlangsamung der turbokapitalistischen Maschine; zurück zur Natur, Spaziergang im Wald und der Nachbarin mit WC-Papier aushelfen, so will es heute wirklich niemand mehr sehen.
Schon an der Garderobe gibt es Streit, beim Einlass Prügeleien, die Stimmung ist, gelinde gesagt, gereizt. Die Fronten haben sich verhärtet, so heisst es, ohne Konflikt kommst du durch keine Kurzstreckenfahrt.
Stehen wir zum Beispiel wutschnaubend auf dem Bahnhofsplatz in Basel und sehen dem Tram nach, das wir soeben verpasst haben. Ärgerlich! Zu allem Übel erfasst das nervös zuckende Auge dann noch einen dieser Spinner, natürlich, sind ja fängs überall. Trägt wie zur Tarnung eine Bürouniform mit «Freitag»-Tasche, aber tigert unübersehbar über den Platz und schimpft laut vor sich hin: über die Masken und Menschen mit Masken; «Schafe», sagt er, «schützen sich vor sich selber» und so weiter. Wir unterdrücken die aufsteigende Aggression und atmen so tief, dass die Brillen beschlagen.
Nützt alles nichts – der erwacht-erleuchtete Rebell fühlt sich offenbar nicht nur von der Coronadiktatur diskriminiert, sondern auch von der einbeinigen Bettlerin, die neben dem Billettautomaten mit einem Pappschild auf dem Boden sitzt. Er baut sich breitbeinig vor ihr auf, verwirft die Hände und ruft: «Business, hä, machen Sie Business, schön chillen hier und Big Business.» Eine weitere Frau mit Karton und Becher eilt dazu, geht dazwischen. Der Mann schreit ihr ins Gesicht: «Mafia, Mafia!»
Reflexartig meldet sich die Zivilcourage: Ich sollte eingreifen, sie beschützen, ihn zur Sau machen – jetzt lassen Sie doch diese armen Frauen in Ruhe! Moment, spricht doch eher ein Helferinnensyndrom? Ich zögere. Die beiden diskutieren radebrechend, es scheint sich alles um den Becher in ihrer Hand zu drehen; sie schüttelt ihn, er greift danach, wilde Gesten, Business, Mafia. Schliesslich leert sie den Becher in ihre hohle Hand aus und streckt sie ihm entgegen: Hier, nimm! Er lacht, wehrt ab, ein spärlicher Haufen Kleingeld. Und da scheint sich etwas zu verändern. Er wird ruhiger, plötzlich wirken sie, als ob sie miteinander scherzen – bis sie sich den Schal von Nase und Mund zieht und die Lippen spitzt.
Der ganze Bahnhofsplatz steht still, schaut gebannt zu. Der Mann lächelt perplex, geht dann in die Knie und streckt der Frau seine Wange hin. Sie küsst ihn und beide lachen, umarmen sich. Die Menge flüstert ungläubig.
Der Mann dreht sich abrupt um, macht ein paar Schritte über den Platz, als ihm eine dritte Frau in den Weg tritt und einen Becher unter die Nase hält. Er nimmt sie am Arm, geht mit ihr zurück zur Frau, die er gerade umarmt hat, zückt das Portemonnaie und lässt eine Münze in deren Becher fallen.
Dann schliesst er die Arme um sie, legt den Kopf auf ihre Schulter, sie tätschelt ihm den Rücken, so stehen sie, bis das Tram kommt.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Die Geschichte ist aber für einmal nicht frei erfunden.