Erwachet!: Die grosse Entwöhnung

Nr. 36 –

Michelle Steinbeck geht an ein Konzert

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt wieder Live! Und es ist schöner denn je.

Am Wochenende schlich ich mich ans Basler Jugendkulturfestival. Bereits am Einlass flimmerten die Schallwellen auf der Haut, vibrierte die Vorfreude auf mein erstes Konzert seit der neuen Zeitrechnung. Selbst der Junge, der mich bei meinem stolzen Zertifikat-Vorzeigen siezte, konnte die Euphorie nicht dämpfen. Auch nicht die Zoomer, die einen Kreis bildeten und hüpfend «Boomer! Boomer!» schrien.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich das noch einmal erleben würde: ein richtiges Konzert! Mit Bass in der Brust und fremden Armen, die sich beim Tanzen flüchtig berühren. Ja, richtige andere Menschen mit Körpern, die ruchlos durcheinander atmen, schwatzen, schwitzen, Ausschau halten, Passionsfruchtkaugummi kauen, lästern, lachen, Bier verschütten, versonnen die Augen schliessen, denen schlecht wird –

Am nächsten Morgen bringt der Kater die News: Die Intensivstationen füllen sich, Operationen werden auf unbestimmt verschoben, bereits wird wieder über «Triage» geredet: Wer hat die besten Chancen, überhaupt zu überleben? Das vom gewinnorientierten Gesundheitssystem an den Anschlag rationierte Pflegepersonal ist in den letzten Wellen noch geschrumpft: Weil die Arbeit unerträglich wurde, haben viele gekündigt. Die Verbliebenen kriegen zum Dank eine vierte Welle und Beschwerden aufgebrachter BesucherInnen: Es sei eine Frechheit, dass sie «von einem Tag auf den anderen» (gefühlt Tag 3265 der Pandemie) eine Immunitätsbescheinigung für den Krankenhausbesuch brauchen – dafür haben wir nicht geklatscht damals!

An der erst noch kommenden Zertifikatspflicht kann es wiederum nicht liegen, dass sich der Ansturm auf Kulturveranstaltungen seit der Wiedereröffnung in Grenzen hält. Während im Lockdown verzweifelte Schreie nach Livekultur in den sozialen Medien widerhallten, scheint sich das brennende Interesse abgekühlt zu haben. Warum?

Sind die feuchten Träume der Techgiganten wahr geworden? Bewegen wir uns am liebsten nur noch im digitalen Raum? Überfordert uns schon der Gedanke an einen Abend in drei Dimensionen, die nicht von einem rechteckigen Rahmen begrenzt sind? Fürchten wir uns vor geforderten Aufmerksamkeitsspannen, die über die Tiktok-Konditionierung hinausgehen? Was, wenn uns da draussen etwas langweilt – und die Fernbedienung zum Zappen zu Hause liegt? Ein echter Livemoment ist kein Livestream, in echt fehlt der «second screen»!

Schon klar, wir sind es nicht mehr gewohnt. Ein vierstündiger Theaterabend klingt nach eineinhalb Jahren ungezwungenem Sofa-Gammeln nach einem ungeheuren Commitment. Oder liegt es vielmehr am verlorenen Luxus eines ausgedehnten Feierabends? Sind unsere Arbeitszeiten im Homeoffice dermassen ausgefranst, dass uns eine Abendbeschäftigung ausser Haus, bei der das Telefon ausgeschaltet werden muss, fast wahnwitzig hedonistisch erscheint? Sind wir von der ganzen Selbstausbeutung schlicht zu müde?

Ich glaube, die Welt ist düsterer, durch den Bildschirm betrachtet. Das Netz aus sozialen Medien, Kommentarspalten und sonstiger Berieselung umschlingt uns immer enger und flüstert uns ein: Gespaltene Gesellschaft, Katastrophe komplett, bleib sicher in deiner Bubble.

Ich glaube, draussen sieht es auch anders aus.

Michelle Steinbeck ist Autorin in Umgewöhnung.