Kost und Logis: Nur ein kleiner Knochen
Wie Karin Hoffsten ihren Daumen schätzen lernte
Haben Sie sich schon mal den Daumen gebrochen? Nein? Dann möge Ihnen das auch in Zukunft erspart bleiben – wie andere Unbilden natürlich auch.
Mir ist es kürzlich passiert. Völlig nüchtern und munter bin ich – zack! – am helllichten Tag und ohne speziellen Anlass gestolpert. Dass es im Aargau geschah, dient auch nicht als Begründung. Seither habe ich mehr über Bedeutung und Funktion dieses sonst relativ unbeachteten Gliedes an der oberen Extremität des Menschen gelernt als je zuvor. Ohne gebrauchsfähigen Daumen wird die Bewältigung des Alltags zur Herausforderung, vor allem wenn das geschädigte Knöchelchen – die Phalanx proximalis – auch noch zur bevorzugten Hand gehört, in meinem Fall zur rechten.
Plötzlich klären sich Sachverhalte, von denen man bisher nur eine verschwommene Ahnung hatte. Zum Beispiel dass die prioritäre Rolle des Menschen in der Evolution damit zu tun hat, dass dieser im Vergleich zu anderen Wirbeltieren an seiner Pfote, Klaue, Tatze oder wie man es nennen will, einen Daumen herausgebildet hat, der länger ist als bei anderen Primaten und so die Hand erst zum präzisen Greifwerkzeug macht. Und dass erst die Fähigkeit, zu greifen und Werkzeug zu benutzen, die Entwicklung eines grösseren Gehirns ermöglichte.
Ich hingegen entwickle gerade erst klare Vorstellungen davon, welche Lebensmittel leicht zu bewältigen sind und welche nicht. Gurken und Tomaten gehen. Die sind so weich, dass sie auch ein Messer schneidet, das nur zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt ist. Es ist überhaupt äusserst erstaunlich, wie schnell sich bei Bedarf die Funktionen dieser beiden Finger ändern können. Mit etwas Übung werden auch sie zum Greifwerkzeug.
Salatblätter sind ebenfalls leicht zu zupfen, doch völlig unbeherrschbar bleibt die Zwiebel. Um sie zu schälen, ist ein Daumen unabdingbar; aber meine Bemühungen mit der linken Hand werden täglich gewandter. Unerwartet an meine Grenzen brachten mich Eier, weil ich glaubte, vor dem Kochen ein Loch hineinpiksen zu müssen. Doch eine kurze Recherche brachte ans Licht: Das Ei kocht auch ohne Loch einwandfrei. Auf Schwierigkeiten stosse ich aber beim Versuch, ein Spiegelei unverletzt in die Pfanne zu bringen. Probieren Sies selbst – es braucht zwingend zwei Daumen dazu.
Auf die Notwendigkeit, auch Handgriffe der täglichen Hygiene anpassen zu müssen, will ich hier nicht näher eingehen. Handschriftliche Notizen gehen gar nicht, doch die Computermaus kann ich schon ganz gut mit links bedienen. Die ungewohnte Hand zu benützen, soll ja neue Synapsen im Hirn schaffen – das motiviert beim ungelenken Üben.
Wie schon erwähnt, geschah das Malheur im Aargau. Wieso der Hinweg zum Notfall im rund elf Kilometer weit entfernten Regionalspital mit dem einen Taxi sechzig, der Rückweg mit einem anderen jedoch nur fünfzig Franken kostete, bleibt das Geheimnis des Kantons.
Karin Hoffsten meint, dass es angesichts der Verunsicherungen bezüglich Covid-19 sicher erholsam ist, wieder mal etwas über ein wissenschaftlich gesichertes Leiden zu lesen.