Konzernverantwortung: Die Wirklichkeit in Chhattisgarh

Nr. 46 –

Der Baustoffmulti Lafarge-Holcim stellt sich gern als nachhaltig und sozial dar. Wie das in der Realität der LeiharbeiterInnen und der vertriebenen Landbevölkerung in Indien aussieht, zeigt Karin Scheideggers grosser Fotoessay.

  • Verfolgt: Die Gewerkschaftsaktivisten Thanu Ram Patel und Audesh Kuma flohen aus Rawan, weil sie aufgrund fingierter Anklagen ins Gefängnis hätten gehen müssen.
  • Seit Lala Ram Dhruv wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten im Gefängnis war und sich drei Jahre verstecken musste, sind seine Frau und seine Schwester auf die Solidarität der Dorfgemeinschaft in Rawan angewiesen.
  • Panch Ram und seine Familie sind traditionelle Wurzelsammlerinnen und Naturheilpraktiker. Die vertriebenen Adivasi leben nun in der Nähe von Bhilai.
  • Statue zu Ehren von Shankar Guha Niyogi in Jamul. Der Gründer der Basisbewegung CMM wurde 1991 von Auftragskillern im Dienst der lokalen Industrie ermordet.
  • Gedenkmarsch von CMM-AktivistInnen in Bhilai anlässlich des Todestages von Bhagat Singh (1907–1931), der sich gegen die britische Kolonialherrschaft auflehnte.
  • Arbeiterinnen beim Jamul Expansion Project: Die neue Fabrikanlage von Lafarge-Holcim soll mit weniger Arbeitskräften noch mehr produzieren.
  • Seit Vater Lakhan im Gefängnis ist, ist die Familie Sahu auseinandergerissen: Tochter Pragati Sahu lebt nun bei einer Tante am Rand der Stadt Bilaspur.

«Ich wollte die Lücken füllen, die diese Ausstellung nicht aufgezeigt hat», sagt Karin Scheidegger zu ihrem 190 Seiten dicken Reportagemagazin «Rich Lands of Poor People» über LeiharbeiterInnen im indischen Bundesstaat Chhattisgarh. Die Fotografin meint damit die Hundert-Jahr-Jubiläumsausstellung des Schweizer Baustoffmultis Holcim im Berner Kunstmuseum im Jahr 2012. Der damalige Versuch des Weltkonzerns, sich mit kunstvollen Fotoporträts von Angestellten ein soziales Gesicht und dem Publikum einen «Einblick in die Tatsächlichkeit der heutigen Arbeitswelt» zu geben, löste heftige Debatten über die Wirklichkeit in den Zementwerken in Indien aus.

Dass die damals 37-jährige Scheidegger im April 2013 nach Chhattisgarh reiste, hatte zunächst einen anderen Grund: Ein Ethnologe hatte sie damit beauftragt, Aufnahmen der Holcim-Fabrik in Rawan zu machen. Dort wird sie am 17. April 2013, dem letzten Tag ihrer ersten Chhattisgarh-Reise, abrupt mit der Realität konfrontiert: Eigentlich will Scheidegger nur die Morgenstimmung beim Schichtwechsel vor der Fabrik einfangen und sich später vom Bauernführer Bhagwati Sahu die Auswirkungen der Industrie auf die Landwirtschaft zeigen lassen. Doch schon das ist zu viel. Ein bewaffneter Sicherheitsbeamter hält sie und ihren Begleiter, den Dokumentarfilmer Ajay T. G., auf. Wenig später wird T. G. von vier Männern mit Schlägen traktiert. «Ab diesem tätlichen Angriff auf meinen Begleiter, wegen Fotos, die ich geschossen hatte», so Scheidegger, «wurde die Geschichte persönlich.»

Es war der Tag, ab dem Scheideggers Vorhaben, den Menschen, die Holcim in seiner Ausstellung vergessen hatte, in Texten und Bildern ein Gesicht zu geben, noch dringlicher wurde. So reiste sie 2014 erneut nach Chhattisgarh. Heute, kurz vor der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative, versteht Scheidegger ihr Magazin, an dem sie sieben Jahre gearbeitet hat, auch als Beitrag zur Frage rund um Konzernverantwortung.

Ein Konflikt, der weit zurückreicht

Die Landbevölkerung in Chhattisgarh besteht zum grössten Teil aus Angehörigen tiefer Kasten, Adivasi und kastenlosen Dalits, die seit Jahrhunderten diskriminiert werden. Derweil die Händler-, Krieger- und Priesterklassen bis heute die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Industrie besetzen, sind es vor allem landlose KleinbäuerInnen, Dalits und Adivasi, die als LeiharbeiterInnen in den Werken arbeiten.

2005, als sich Holcim mit der Übernahme der Aktienmehrheit bei Ambuja Cements Ltd. und Associated Cement Companies (ACC) in den boomenden indischen Markt einkaufte, war der Konzern (wie auch die französische Lafarge-Gruppe, mit der Holcim 2015 fusionierte) längst führend im weltweiten Zementmarkt. Mit dem Einkauf hat sich Holcim in ein altes Konfliktfeld begeben: Beim Aufbau des modernen Indien ab den fünfziger Jahren fielen viele ländliche Regionen der industriellen Erschliessung zum Opfer. Bis heute kämpfen NachfahrInnen jener, deren Land durch den Bau der ursprünglichen Fabriken enteignet wurde, ohne dass sie angemessen entschädigt wurden, um Anerkennung.

Anfang der neunziger Jahre erreichte die Streikbewegung, in der sich Bäuerinnen, Adivasi, Dalits und Leiharbeiter unter dem Banner der Chhattisgarh Mukti Morcha (CMM) zusammengetan hatten, ihren ersten Höhepunkt. Aus dieser Bewegung entstand 1989 auch die PCSS, die Gewerkschaft der ZementarbeiterInnen. 2012 reichte diese beim schweizerischen Staatssekretariat für Wirtschaft eine Beschwerde gegen Holcim wegen Verletzung der OECD-Leitsätze ein, die sich zudem auf indische Gesetze sowie ein Abkommen in der Zementindustrie stützte: Demnach ist der hohe Anteil an LeiharbeiterInnen illegal und Leiharbeit nur für Verladearbeiten während Spitzenzeiten und über kurze Zeit zulässig. Tatsächlich jedoch arbeiten viele LeiharbeiterInnen seit Jahrzehnten für Holcim; über Drittpersonen angestellt, erhalten sie keine soziale Absicherung und nur etwa ein Drittel des Lohns der Festangestellten.

Holcim war zwar nicht Urheber dieser ausbeuterisch-diskriminierenden Praxis; offensichtlich jedoch reproduzierte der Konzern das hier verankerte Unrechtssystem – und auch Lafarge-Holcim bedient sich dessen bis heute. Die Verhältnisse in den zehn weiteren Zementwerken der Region, mit denen Lafarge-Holcim nichts zu tun hat, sind zwar oft gar noch schlimmer – die «fairen Arbeitsbedingungen» jedoch, mit denen sich der Konzern heute schmückt, betreffen nur Festangestellte.

Das zeigt sich auch in Rawan, wo viele Nachkommen der lokalen Bevölkerung, der das Land von den Holcim-Vorgängern weggenommen wurde, unter prekärsten Bedingungen und ungenügenden Sicherheitsvorkehrungen arbeiten (allein 2019 starben in Lafarge-Holcim-Werken weltweit neunzehn Menschen – fünfzehn davon waren LeiharbeiterInnen). In Rawan führt der enorme Wasserverbrauch der Fabrik zudem dazu, dass die BäuerInnen ihre Felder kaum mehr bewässern können.

Systematische Kriminalisierung

Auch in Jamul, dem zweiten Lafarge-Holcim-Standort in Chhattisgarh, kämpft die PCSS gegen die Leiharbeit. Doch obwohl der Betrieb 2011 in zweiter Instanz verurteilt wurde, weil er LeiharbeiterInnen nur ein Drittel des Lohns von Festangestellten und keine Sozialleistungen zahlte, weigerten sich die Verantwortlichen, den Entscheid des Gerichts umzusetzen. Inzwischen wurde auf ehemaligem Dorfgrund gar eine zweite Fabrik gebaut, in der mit weniger Arbeitskräften noch mehr produziert werden soll.

Ab 2014 führte die PCSS in der Schweiz Gespräche mit dem Konzern im Rahmen eines Mediationsverfahrens. Im Januar 2016 kam es zu einem Vergleich: Demnach hätten mehr als die Hälfte der 932 LeiharbeiterInnen in Jamul, die PCSS in diesem Fall vertrat, Festanstellungen und der Rest Abgangsentschädigungen erhalten sollen (siehe WOZ Nr. 9/2018 ). Tatsächlich wurden schliesslich aber nur 72 dieser LeiharbeiterInnen direkt bei Lafarge-Holcim fest angestellt. Heute sind es gar nur 48 LeiharbeiterInnen, die Volllöhne erhalten. Der grosse Rest der Leute, die die PCSS vertrat, steckt immer noch bei fünfzig oder siebzig Prozent der Volllöhne fest. Trotzdem, für die PCSS war das ein Teilerfolg: Zum einen konnten sie sich in der Schweiz Gehör verschaffen – zum andern findet seither ein Dialog zwischen dem lokalen Management und den LeiharbeiterInnen statt.

Die grundlegenden Probleme – Vertreibung, Leiharbeit, Repression und Kriminalisierung – bleiben jedoch bestehen. Seit Januar 2018 wurden, basierend auf einem «Antiterrorgesetz», zahlreiche Gewerkschafterinnen, Anwälte, Intellektuelle und Künstlerinnen inhaftiert, die sich für marginalisierte Gruppen einsetzen und sich der Politik der rechtsnationalistisch-hinduistischen Regierung widersetzen. Seit bald zwei Jahren sitzt auch die PCSS-Anwältin Sudha Bharadwaj im Gefängnis. Mittlerweile wurde sie ins Byculla-Gefängnis nach Mumbai überführt: ohne Recht auf Kaution und Berufung – und ohne dass die ermittelnde Behörde etwaige Beweise vorgelegt hätte.

Inzwischen befinden sich unzählige Oppositionelle aufgrund fingierter Anklagen in Haft. Obwohl die meisten Gefängnisse überfüllt sind und das Land stark von der Coronapandemie betroffen ist, wurden alle Anträge auf Hausarrest abgelehnt. Jüngstes Opfer dieser Kriminalisierung wurde im Oktober der 83-jährige Jesuitenpater Stan Swamy.

Vor einem Monat musste gar Amnesty International seine Aktivitäten in Indien einstellen. Auch für JournalistInnen gilt Chhattisgarh als eine der gefährlichsten Regionen der Welt. Seit 2016 wird Scheidegger die Einreise nach Indien verwehrt. Über die Gründe schweigen die Behörden. Der Beamte im Visabüro meinte nur: «Diese Person braucht keine Erklärung – sie wird schon wissen, warum.»

«Rich Lands of Poor People. Reiches Land armer Leute. Das Szenario von Chhattisgarh. Eine Reportage von Karin Scheidegger. Klick – Reportage Magazin 1». 190 Seiten. September 2020. 64 Franken. Erhältlich unter www.karinscheidegger.ch/klick.