Schweizer Literaturpreis: Vom Glück warmer Milch
Warum gibt es in diesem Roman keine Grossbuchstaben? Warum haben die Figuren kein Geschlecht? Was sollen ihre Fantasienamen – ananke, eden, cato, vienna, vaska, egg oder ash? Weshalb berichtet die Erzählperson statt aus der Ich-Perspektive im «du», als schaute sie dabei in den Spiegel? Und warum ist dieser Spiegel in Papierform eine Art Splitscreen, auf dem sich links in schwarzer Schrift die Gegenwart ausbreitet, während rechts in Grau Erinnerungen auftauchen? Manchmal steht da nur ein Satz auf einer Seite. Dann wieder zieht sich eine Passage in Grau über mehrere Seiten.
Es ist ein faszinierendes Experiment, das Anna Stern in ihrem neuen Buch «das alles hier, jetzt» wagt – und für das sie jetzt mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet worden ist: Wie lässt sich Trauer literarisch verarbeiten und darstellen? ananke ist tot. Und mit ihrem Tod fallen ihre Freunde ins Bodenlose, fallen aus Raum und Zeit, drohen selber zu zerfallen. Deshalb die geradezu manisch heraufbeschworenen Kindheits- und Jugenderinnerungen der Erzählfigur ichor: sich wieder klein machen, sich einspinnen in den Erinnerungen wie in wohlig-warmer Watte, miteinander verschmelzen, ineinander aufgehen – und so ananke bewahren. Vieles davon wirkt romantisch verklärt und überhöht. Man ist gemeinsam draussen in der Natur, im Wald, am See, um das Lagerfeuer, holt im Hühnerstall ein Ei oder melkt eine Kuh. Sinnlich beschriebene Erfahrungen sind das alles, die sich mitunter auch ins Erotische weiten, wenn die Erzählfigur etwa nach dem Melken zurück zu ananke ins Zelt kriecht: «als du mit der zungenspitze die schaumreste von deiner fingerkuppe leckst, schmeckst du noch einmal heu, du legst deinen finger auf anankes lippen und verschaffst dir zutritt zu anankes träumen.»
Natürlich gelingt es nicht immer, die Illusion aufrechtzuerhalten. Da sind, mit beginnender Adoleszenz, auch Verletzung, Zurückweisung, Unsicherheit. Und, über die letzten knapp fünfzig Buchseiten hinweg, der ganz in gegenwärtigem Schwarz gehaltene Versuch von Auf- und Ausbruch. Was bleibt, ist die Frage: Hat hier eine junge Autorin mit ihren zukunftsverzagten Figuren gerade die emotionale Verfasstheit ihrer Generation auf den Punkt gebracht?
Anna Stern: das alles hier, jetzt. Elster & Salis. Zürich 2020. 248 Seiten. 24 Franken