Pop: Wer bin ich, wenn ich dich begehre?

Nr. 13 –

Die Liebe und der Popsong, ein abgelöschtes Paar? Mitnichten, auf ihren neuen Alben singen Fever Ray und Caroline Polachek sehr aufregend über futuristische Romantik und kopflose Begierde.

Portraitfoto von Fever Ray aka Karin Dreijer
Landläufige Romantik ist doch nur eine Nebelpetarde: Fever Ray. Foto: Nina Andersson

Zacharias – man kann sich den verwöhnten Bengel schon vorstellen. Auch sonst hindert einen hier nichts daran, einfach einzutauchen in diese Rache-, gar Gewaltfantasie gegenüber einem Kind. Zacharias ist nämlich ein Bully, und nun soll er dafür bezahlen: «Wir wissen, wo du wohnst / Vielleicht kommen wir eines Tages zu dir», singt da jemand mit schaurig lustvoller Stimme aus Elternperspektive. Auch das Video dazu entschärft die abgründige Fantasie nicht, im Gegenteil: Eine Frau mit rot verschmierten Lippen spreizt und wölbt Körperteile in die Kamera, hackt Karotten, dann rote Randen, hebt im Garten ein Loch aus, uriniert hinein.

«Even It Out» heisst der Song, und ausgerechnet dieser ist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch der geradlinigste auf «Radical Romantics», dem neuen Album von Fever Ray. Das gilt zumindest für das solide rhythmische Fundament, eine Art Industrial-Motorik-Beat, mitproduziert von Trent Reznor und Atticus Ross. Karin Dreijer, die Person hinter Fever Ray, begründete die Zusammenarbeit mit den beiden Düsterlingen von Nine Inch Nails auch damit, dass Reznor selber Vater ist. Die Wut auf Zacharias hat einen biografischen Ursprung, Dreijers eigene Tochter wurde in der Schule von einem Jungen geplagt; immerhin dessen richtiger Name ist nicht im Stück geblieben.

Diese Direktheit ist bemerkenswert, waren Maskeraden und Rollenspiele in Dreijers Werk doch von Anfang an zentral, schon damals als Teil des radikalpolitischen Elektropopduos The Knife zusammen mit dem Bruder Olof. «Ich will nicht heiraten, ich will ficken!», sagte Fever Ray dann 2017 zum «Guardian» und zog auf dem freudig versexten Album «Plunge» eine queere Orgie gegen heteronormative Zwänge auf. Auf der Bühne und in den Videoclips trat ein kleiner Reigen von Figuren auf, die uneindeutige Geschlechtlichkeit feierten.

Bonbons von Fremden

Jetzt also, mit 47, neue Eindeutigkeit? Aber nein, natürlich wird dem armen Zacharias niemand etwas antun. Die Irritation erinnert aber daran, dass Popsongs Fantasien sind, Ausgeburten von Begehren, ob euphorisch oder dunkel. Dessen ist sich dieses ausgefuchste Album sehr bewusst. Um Fantasien geht es nun weniger in einem pornografischen Sinn wie noch auf «Plunge» (damals spielte Fever Ray fürs BDSM-Rollenspiel in einem der Videos zum Beispiel den Tisch an einem Kaffeekränzchen). «Radical Romantics» sei ein Album über die Liebe, sagt Fever Ray, doch ein Liebeslied im engeren Sinn findet man darauf nicht.

Wie eng die Vorstellung des Lovesongs im Pop oft ist, konnte man kürzlich von Miley Cyrus lernen. Auf der Hauptstrasse des Pop braucht es weniger, um hergebrachte Bilder zu ritzen, wohl auch deshalb wurde ihr Song «Flowers» zum Publikumsliebling des frühen Popjahrs. Im Kern ist das ein Break-up-Song, aber Miley Cyrus macht daraus eine trotzig-beschwingte Hymne auf die Selbstliebe: «Ich kann mich besser lieben, als du es kannst.»

Auch bei Fever Ray spielt die romantische Beziehung nur am Rand eine Rolle, «Radical Romantics» geht die Sache grundsätzlicher an. Die Songs handeln davon, aus der Haut zu fahren, den Kopf zu verlieren oder sich ihn verdrehen zu lassen. Liebe also eher vom begehrenden Subjekt her gedacht. Eine nachhallende Zeile in «Tapping Fingers» sagt es so: «Who am I while wanting you?», wer bin ich, wenn ich dich begehre? Oder frei nach bell hooks, deren populärer politischer Liebesratgeber, «all about love», das Album mit inspiriert habe: Für den Wunsch nach erfüllter Liebe wirkt die landläufige Romantik vor allem als Nebelpetarde.

Portraitfoto von Fever Ray aka Karin Dreijer
Foto: Nina Andersson

Eine fürs neue Album geschaffene Figur heisst tatsächlich Romance, Fever Ray spielt sie im Video zum Song «Kandy». Romance verspricht weniger Erfüllung als ambivalente Verführung. Die Jukebox blinkt wie loderndes Feuer, während Romance auf einer kleinen Bühne einen grotesken erotischen Tanz vorführt. Der Song könnte lasziver kaum klingen: Alles hüpft und biegt sich, Bass und Melodie verrenken sich umeinander. Dazwischen ein anzüglicher Pfiff, eine Steeldrum erinnert an Strand und an The Knife von früher. Romance windet sich im roten Licht, kriecht von der Bühne und einem zweiten, sitzenden Wesen, das mit naiver Geilheit aus seinem Anzug blickt, zum Lapdance direkt auf den Schoss.

Fever Ray singt von einem Abweg, ausgemachtes Fremdgehen vermutlich: «Heute Nacht gehen wir mit jemand anderem», denn: «All girls want Kandy.» Sollte man nicht die Finger davon lassen, wenn Fremde Bonbons anbieten? Fever Ray singt das jedenfalls so, dass es unter die Haut geht wie ein wohliger Schauer. Erst hinterher denkt man an die Verfremdung; seit jeher sucht Dreijer in der technischen Bearbeitung nach immer neuen Stimmen, auch zur Verwirrung der Wahrnehmung von Geschlechtern. So wie die Stimme in «Kandy» klingt darüber hinaus vielleicht die Art von Aufregung, die nicht weniger interessant ist, weil ein bisschen Angst darin mitschwingt.

Sexy mysteriös

Vor kurzem ist ein weiteres herausragendes Popalbum erschienen, das sich kopfüber in den Sturm des Begehrens stürzt. Caroline Polachek hat die Fantasie, mit dem eigenen Begehren zu verschmelzen, für ihr Album sogar als Titel gesetzt: «Desire, I Want to Turn into You». Auf dem Cover kriecht sie uns mit besessen wirkendem Blick, zerzauster Mähne und auf allen vieren durch den Mittelgang eines Zugwagens entgegen.

Auch hier schwingen Ambivalenzen mit – in diesen Songs werden alle möglichen Dinge und Boys angeschmachtet, ungeachtet der Kollateralschäden –, aber Polachek übersetzt diese in ihren viel direkter produzierten Songs nicht auch in musikalische. «Bunny Is a Rider» handelt von der Sexyness eines gemeinhin wenig geschätzten Charakterzugs: abzutauchen, nicht verfügbar, glitschig und mysteriös zu sein. Nicht nur der gar nicht glitschige Funkbass und der überpräsente Gesang signalisieren Zustimmung, auch das Babylachen (schon wieder eine eigene Tochter).

Polachek wurde Ende der nuller Jahre als Teil des Indiepopduos Chairlift bekannt, bevor sie beim Londoner Label PC Music Teil von Hyperpop wurde. Auf ihren Soloalben fehlt zwar die avantgardistische Übersteuerung und Drastik von Hyperpop, gut spürbar aber ist das solide Vertrauen in kommerziell geprägte Gesten und Sounds – die Kunst liegt in deren Inszenierung und Montage. «Desire» macht auch darum Freude, weil es manchmal sehr lässig an möglichen Peinlichkeiten vorbeirauscht.

Rap könnte für eine wie sie auch schiefgehen. In «Welcome to My Island», dem ersten Song, landet Polachek nach einem emphatischen Refrain bei einer gesprochenen Passage, in der sie eine Art Begehrensökonomie dieses Albums formuliert. Ausgerechnet ihren Vater zitiert sie hier: «Pass auf dein Ego auf, Mädchen.» In einem Interview erklärte Polachek, der Vater, Professor für chinesische Geschichte an einer Eliteuni, sei nie an ihre Konzerte gekommen, weil ihm ihre Musik zu kommerziell und zu wenig aufrührerisch sei. Popaffirmation als symbolischer Vatermord.

Die Lust daran scheint sie hier in einem zügellosen Maximalismus auszuleben. In «Fly to You» schmelzen die Gaststars Dido und Grimes über einem Breakbeat Popgenerationen ein, im umwerfenden «Sunset» steigert sich der Flamenco zur Ekstase in digital zugespitztem Trällern, und in «Blood and Butter» vermag nicht mal ein Dudelsack noch jemanden zu erschrecken. In den ausgeklügelten Sound des Albums fügen sich solcherlei Spielereien einfach so ein.

«Radical Romantics» verfolgt derweil tatsächlich aufrührerische Absichten, Fever Rays Musik ist ständige Verwandlung. In «Looking for a Ghost» klingt die Stimme mehrmals wie neu geboren: «Uns gibt es nicht mit Gebrauchsanleitung.» In «New Utensils» wird Magie mobilisiert, ein Ritual, Kohle und Zunder in einem Erdloch. Oder doch Tinder, wie damals bei «Plunge»? Jedenfalls: «Vielleicht komme ich am Montag zurück.» Alles verdichtet sich in «Carbon Dioxide», einem grandiosen, futuristisch blubbernden Discokracher. Da verschiebt sich etwas im harmonischen Gefüge, gleich vor dem Refrain, dann ein bodenloses Bild: «Mein Herz festhalten / Während ich falle».

Album-Cover «Radical Romantics» von Fever Ray.

Fever Ray: «Radical Romantics». Pias / Rabid Records / Rough Trade. 2023.

Album-Cover «Desire, I Want to Turn into You» von Caroline Polachek

Caroline Polachek: «Desire, I Want to Turn into You». Perpetual Novice / Membran. 2023.