Am Ende des Ozeans Die Falklandinseln waren ein Ort wie aus der Zeit gefallen – dann kam der Wandel und stellte alles auf den Kopf.
Es ist ein Ort, an den man sich während einer Seuche zurückziehen kann. Ausserhalb der Stadt gibt es nur wenige Strassen, das leere Land erstreckt sich kilometerweit. Nichts als Gras, dunkle Sträucher, die nah am Boden wachsen, und Felsen. Nur niedrige Berge und kaum Bäume: nichts, was den Wind abhalten könnte, der fast pausenlos vom Meer her bläst. Es ist sehr still hier, jedenfalls wenn der Wind sich kurz legt. Für einige ist diese Stille und Leere kaum auszuhalten. 1982, vor dem Krieg, beschäftigten die grössten Höfe Dutzende ArbeiterInnen, und es gab Siedlungen mit vierzig oder fünfzig BewohnerInnen. Aber die meisten von ihnen haben die Inseln unterdessen verlassen, sind weggezogen oder ausgewandert. Heute gibt es hier gerade mal einen Menschen auf dreissig Quadratkilometer, einige der alten Häuser sind leer und verlottert, andere wurden abgebaut und aus den Siedlungen abtransportiert, zurück blieb nicht mal ein Kiesweg, weil die Menschen, die dort wohnten, sich auf Pferden fortbewegten.
Um die beiden grossen Inseln Ostfalkland und Westfalkland gruppieren sich über 700 kleinere Inseln, einige sind menschenleer, andere werden von einer oder zwei Familien bewohnt: ein paar Häuser, ein paar Stromgeneratoren, eine Landebahn. Dazu eine Kanalisation und Internet. Mit einer genügend grossen Tiefkühltruhe könnte man hier monatelang ohne menschlichen Kontakt überleben. Länger noch, wenn man weiss, wie die Menschen hier bis vor kurzem lebten: Sie töteten und zerlegten ihre eigenen Schafe, melkten Kühe, sammelten die Eier von Meeresvögeln und rote Krähenbeeren und stachen Torf fürs Feuer. Während des Kriegs mit Argentinien, als die Menschen aus der Stadt flohen und an die Türen der Bauernhöfe klopften, gab es genügend Essen für sie und auch für die britischen Soldaten, die in Hühnerställen und Schafscherschuppen Unterschlupf fanden. Die Bauernfamilien besassen Gemüsegärten, zahllose Schafe, Mehl und Zucker in Fünfzigkilosäcken.
Während der 150 Jahre, in denen die Falklandinseln ein ferner Aussenposten des britischen Weltreichs waren, kamen viele vom schottischen Hochland her, um hier als SchafhirtInnen zu arbeiten. Die Inseln haben mit ihrer kahlen, felsigen Landschaft, den wasserfallartigen Regenfällen, der Meeresnähe eine auffallende Ähnlichkeit mit den Shetlandinseln oder der Isle of Skye: als ob ein abgebrochenes Stück Schottland 13 000 Kilometer Richtung Süden über den Atlantik getrieben wäre, an Irland vorbei, dann an Portugal und Marokko, Mauretanien und Senegal, die Küste von Brasilien und Uruguay entlang, um dann ein paar Hundert Meilen vor der Antarktis zum Stillstand zu kommen.
Aber wenn die Luft schneidend und klar wird, wissen die Menschen hier, dass ein Eisberg ganz in der Nähe vorbeischwimmt. Und es gibt Pinguine am Ufer: einen Meter grosse Königspinguine mit eiweissfarbigen Lätzchen; leicht untersetzte Felsenpinguine mit spitzen schwarzen Kopffedern, die aussehen wie eine Gelfrisur; Eselspinguine mit ihren exzentrischen Hüten. Im März, als die Seuche die Inseln umkreiste, hatten die Pinguine nichts zu tun. Sie waren in der Mauser, konnten weder schwimmen noch fressen. Die Mauser sei ermüdend und ungemütlich, sagten die Leute. Die Pinguine standen in Gruppen nahe bei der Brandung, mit dem Rücken zum Wind, und warteten darauf, ihre Federn zu verlieren.
Sollte die Seuche tatsächlich kommen, könnte es allerdings sein, dass es keinen Fluchtweg gibt. Jede Woche verlassen zwei Linienflüge die Inseln: samstags einer nach Punta Arenas im südlichen Chile, jeden Mittwoch einer nach São Paulo. Sogar in normalen Zeiten werden diese Flüge wegen starker Winde am Flughafen oft annulliert, und jetzt wurden sie ganz eingestellt. Normalerweise gibt es Militärflüge nach Grossbritannien, aber diese müssen Zwischenhalte zum Tanken einlegen, und viele Länder haben ihre Grenzen geschlossen, sodass es während mehrerer Wochen gar keinen Flugverkehr mehr gab und die Inseln komplett von der Aussenwelt abgeschnitten waren. Früher kam ein Schiff aus Montevideo, das einmal im Monat Früchte, Vorratswaren und Post vorbeibrachte und bei allen Siedlungen anlegte, aber das ist lange her. Die Menschen, die auf den entlegeneren Höfen leben, wurden gewarnt, dass niemand sie holen könnte, falls sie krank werden sollten. Deshalb sind die am meisten Gefährdeten in die einzige Stadt gezogen, nach Stanley auf Ostfalkland – wenn sie denn konnten.
Bis vor kurzem waren die Falklandinseln quasi eine feudale Kolonie, auf der ein arkadisches Britannien als Mikrokosmos konserviert war – mit 1800 EinwohnerInnen und einer Fläche etwas grösser als Jamaika. Die FalkländerInnen waren fast ausschliesslich britischer Abstammung, assen britisches Essen und pflegten ihre britischen Gärten mit üppigen Blumenbeeten und Gartenzwergen. Auf ihren Autos und Gewächshäusern wehten Union-Jack-Fähnchen. Ihren Patriotismus trugen sie sehr viel offensiver zur Schau als die Menschen im Mutterland: Sie feierten den Geburtstag der Queen und sangen jeden Sonntag in der Kathedrale die Nationalhymne. Wenn die älteren InselbewohnerInnen über Grossbritannien redeten, nannten sie es «die Heimat» – auch wenn sie selber gar nie dort gewesen waren und ihre Familien teils seit fünf Generationen auf den Falklandinseln lebten.
John Fowler kam 1971 mit dem Postschiff. Nach mehreren schrecklichen Tagen auf hoher See wachte er um vier oder fünf Uhr morgens auf. Das Schiff stand still. Im Schlafanzug ging er aufs Deck und sah, dass sie am Landungssteg in Stanley angelegt hatten: Die Hauptstadt der Falklandinseln besteht aus ein paar Strassenzügen am steilen Hang oberhalb des Hafens, kleine weisse Häuser mit farbigen Dächern, die Luft roch nach verbranntem Torf. Für Fowler sah es aus, als hätte sich fast die gesamte Stadtbevölkerung am Ufer versammelt, um das Schiff in Empfang zu nehmen. Gerade aufgewacht und etwas verwirrt in seinem Schlafanzug vor aller Augen, wähnte er sich in einer traumähnlichen Szene – wie in einem England von vor 25 Jahren: die Männer mit Krawatten und Regenmänteln, die Frauen mit Kleidern, wie sie seine Mutter getragen hatte, als er ein kleiner Junge war.
Zu dieser Zeit waren die Falklandinseln verarmt und umkämpft, die Bevölkerung drohte auszusterben, weil so viele auswanderten. Niemand ahnte, dass den Inseln eine erstaunliche Transformation bevorstand, dass sie nur eine Generation später nicht mehr wiederzuerkennen wären: ihr politisches System fundamental verändert, ihre Bevölkerung doppelt so gross und vielfältiger, ihre Identität verwandelt. Die Inseln sind wie eine Fruchtfliege: ein winziger Organismus, der eine Metamorphose von Jahrhunderten in nur zwanzig Jahren durchlebt.
Die Entscheidung von General Leopoldo Galtieri, dem damaligen argentinischen Präsidenten, im April 1982 auf den Falklandinseln einzumarschieren, setzte eine Kettenreaktion in Gang, die alles veränderte. Argentinien hatte schon lange Besitzansprüche auf die Inselgruppe angemeldet, die 500 Kilometer vor seiner Küste liegt. Trotz der Niederlage in diesem Krieg macht Argentinien seine Forderungen weiter geltend. Die offizielle Version lautet, die Falklandinseln seien eine illegale Kolonie, bevölkert von aus London gesandten Implantierten, und das britische Militär auf der Insel sei da, um die InselbewohnerInnen davon abzuhalten, nach Argentinien zu fliehen.
In einem Referendum stimmten 2013 mit Ausnahme von drei AbweichlerInnen alle auf der Insel dafür, autonomes britisches Hoheitsgebiet zu bleiben, und doch sind die Falklandinseln nicht mehr so britisch wie einst. Sie sind zu einem Ort geworden, wo Menschen aus der ganzen Welt landen, aus vielen unterschiedlichen Gründen: heimatlose WeltenbummlerInnen, WanderarbeiterInnen, politische Flüchtlinge. Im Februar kam etwa eine Gruppe von HongkongchinesInnen, die sich wegen Peking Sorgen machten. Aber auch mehrere weisse SüdafrikanerInnen tauchten plötzlich auf, und Anfang März besichtigte irgendein geschiedener Bauunternehmer aus Kapstadt, der gerade eine zehnjährige Haftstrafe in Kuwait abgesessen hatte, mit einem Stapel Visitenkarten in der Hand einige Büros in Stanley. Aber der konstante Druck, den der argentinische Besitzanspruch ausübt, zwingt die InselbewohnerInnen, der Welt zu beweisen, dass sie mehr sind als ein zufällig zusammengeworfener Haufen SiedlerInnen, die nichts gemeinsam haben ausser dem geteilten Boden.
Bis vor 300 Jahren waren die Falklandinseln unbewohnt, es lebten hier nur Wölfe, Robben und Inselvögel: Pinguine, Kormorane, Raubmöwen, Maskentyrannen mit ihren dunklen Gesichtern. 1690 ist die erste Landung verbürgt, aber der britische Kapitän John Strong blieb nicht lange. In den 1760er Jahren wurde eine französische Siedlung aufgebaut, die bald in spanische Hände überging. In der gleichen Periode unterhielten die Briten während ein paar Jahren einen Aussenposten auf der Insel Saunders in der Nähe von Westfalkland. Aber nach Zusammenstössen mit den Spaniern beschlossen sie, dass dieser das Geld nicht wert war, und segelten nach Hause zurück. Sie hinterliessen eine Bleiplakette mit der Aufschrift, es handle sich hier um britisches Hoheitsgebiet. Die Spanier wiederum unterhielten seit Ende des 18. Jahrhunderts und bis in die 1820er Jahre während vierzig Jahren eine Garnison auf Ostfalkland. Mit Bewilligung aus Buenos Aires heuerte ein Hamburger Hugenotte und Viehhändler ein paar Gauchos vom Festland an und gründete eine Siedlung, die ein paar Jahre standhielt, bis sie von einem US-Kanonenboot zerstört wurde. 1833 meldeten die Briten erneut ihren Besitzanspruch an, aber erst in den 1840er Jahren wurde bei Stanley eine Stadt gebaut.
Später kamen Menschen auf Booten von überallher: Schafzüchter aus England, Fischer aus Skandinavien, Robbenjäger aus Connecticut, Walfänger, Piraten. Beinahe ein Jahrhundert lang war der Hafen von Stanley übersät mit verlassenen Schiffen, die auf der gefährlichen Fahrt ums Kap Horn demoliert worden waren – auf der Route, die europäische Goldgräber auf ihrem Weg nach Kalifornien gewöhnlich nahmen. Viele Seeleute desertierten, traumatisiert von der Begegnung mit dem Tod oder einfach grausam seekrank nach der Überfahrt von Montevideo. Sie versteckten sich im Camp – ein Anglizismus aus dem spanischen «campo», Landschaft, mit dem auf den Falklandinseln alles bezeichnet wird, was keine Ortschaft ist –, bis ihre Schiffe wieder abgelegt hatten. Später kamen Menschen auf ihren privaten Jachten, sie machten einen Zwischenhalt im Hafen von Stanley und beschlossen zu bleiben – ein Paar aus Australien, eine Familie aus Frankreich.
Erst kamen die Kanonenboote, Piraten und Walfänger. Dann tauchten desertierende Seeleute unter. Schliesslich legten private Jachten an.
Ein Mann, der viele Jahre lang auf einer der Ausseninseln gelebt hatte, sagte immer, es gebe zwei Sorten Menschen auf den Inseln: die fleissigen und ehrlichen LandbewohnerInnen, Nachfahren der Farmer, die man während der Grossen Räumung im 19. Jahrhundert aus den schottischen Highlands vertrieben hatte; und dann gebe es noch die BewohnerInnen von Stanley, die von den Menschen abstammten, die wegen schlechten Benehmens von den Schiffen geflogen seien und denen man nicht trauen könne. Aber natürlich gab es im Camp alle möglichen Menschen. Als Lionel Blake – bekannt als Tim – in den 1960er Jahren den Hof Hill Cove auf Westfalkland leitete, arbeiteten dort straffällig gewordene Jugendliche, einer von ihnen kam direkt aus dem Jugendgefängnis. Es war nicht einfach, Menschen dazu zu bewegen, 13 000 Kilometer für schlecht bezahlte Akkordarbeit auf sich zu nehmen, man konnte also kaum wählerisch sein. Tim suchte per Annonce im «Farmers Weekly» Schafhirten – und es kamen ein Stahlarbeiter, ein Gärtner und ein Filmvorführer.
Auf diesem Weg landeten viele Leute hier: Sie reagierten auf eine Anzeige. Die meisten Menschen hätten sonst nie daran gedacht, auf die Falklandinseln zu ziehen; viele wussten kaum, dass sie existierten, man musste also erst mal ihre Aufmerksamkeit erregen. Früher platzierten die Farmmanager Annoncen in britischen Zeitungen. Später deponierten die Arbeitsuchenden selbst ihre Lebensläufe auf Stellenplattformen fürs Gastgewerbe wie Catererglobal, oder sie googelten nach «Jobs in Übersee». Die meisten von ihnen liessen in ihrer alten Heimat nicht viel zurück. Auch Tim war gekommen, weil für ihn als dritten Sohn auf dem Hof seines Vaters in Somerset kein Platz gewesen war.
Tim gehört quasi zum Landadel der Falklandinseln. Sein Grossvater Robert Blake hatte in den 1870er Jahren einen halben Anteil an Hill Cove gekauft. Er lebte 27 Jahre lang auf der Farm und hatte acht Kinder. Kurz vor der Jahrhundertwende kehrte er nach England zurück, sein Körper zerschunden von Arthritis und Reitunfällen. Aber sein Anteil an Hill Cove blieb in der Familie. Ein verbreitetes Muster: Die frühen BesitzerInnen lebten noch selbst auf ihrem Land, aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten die meisten Höfe abwesenden britischen Grundstücksbesitzern – oder der Falkland Islands Company: einem Pendant der East India Company, also eine Mischform aus Handel und Verwaltung. In der Regierung sassen Expats, die mit den Einheimischen nichts zu tun haben wollten. Die einheimischen InselbewohnerInnen waren koloniale UntertanInnen und wurden entsprechend behandelt. Beim alljährlichen Maiball tanzte man einen halben Abend lang Walzer und Foxtrott, dann traten alle zur Seite, damit der Gouverneur und seine Gattin durch den Saal paradieren konnten, und die Band spielte «God Save the Queen».
Tim hatte vorgehabt, vier Jahre lang auf Hill Cove zu arbeiten und so genug Geld zu sparen, um dann irgendwo in England Land zu kaufen. Aber kurz nach seiner Ankunft auf der Insel lernte er Sally Clement kennen, die Tochter von Wick Clement, einem anderen Farmmanager. Sally war auf Westfalkland aufgewachsen, hatte aber ab dem zwölften Lebensjahr ein englisches Internat besucht. Als sie die Schule abgeschlossen hatte, waren ihr die Eltern fremd geworden, und sie wollte nicht mehr auf die Falklandinseln zurück. Eigentlich wollte sie Geschichte studieren, aber sie traute sich nicht, ihre Eltern zu fragen, ob sie das bezahlen würden – und überhaupt, was hätte sie als diplomierte Historikerin später machen sollen? Kurz nachdem sie auf die Falklandinseln zurückgekehrt war, lernte sie an einer Weihnachtsfeier Tim kennen. Zum Glück mochten sich die beiden, denn es gab sonst fast niemanden auf den Inseln, den oder die Tim und Sally hätten heiraten können.
Während der ersten sechs Monate auf Hill Cove wurde Tim fast wahnsinnig, weil das Tempo hier so viel gemächlicher war als auf einem englischen Hof. Es gab Zehntausende Schafe, aber kein ackerbares Land auf den Falklandinseln, nur Felsen und Torfmoor. Deshalb hatten sie viel weniger zu tun: keine Feldarbeit, nichts zu pflügen, zu säen oder zu ernten. Die Landarbeiter auf Hill Cove sagten ihm immer, er solle sich nicht stressen lassen, man könne die Arbeit morgen genauso gut erledigen wie heute: Man habe schliesslich ein Jahr Zeit, um die Arbeit eines Jahres zu schaffen, und dieser Zyklus sei unveränderbar. Irgendwann sah er ein, dass das stimmte, und lernte, die Langsamkeit zu lieben, den meditativen Rhythmus der vorbeiziehenden Monate:
Tim: Hinter einer Schafherde herreiten oder -gehen …
Sally: Man kann sie einfach nicht aus der Ruhe bringen.
Tim: Man kann sie nicht aus der Ruhe bringen. Und man hatte dann Zeit um … um seine Gedanken wandern zu lassen. Es war ein absolut fantastisches Leben.
Als er hinter den Schafen herlief, beobachtete er sie ständig. Machte eines von ihnen vielleicht eine falsche Bewegung?
Tim: Wenn du ein Schaf aufscheuchst, verliert es den Kopf. Wenn du aber ein kleines Loch im Zaun lässt, wird eines den Fluchtweg finden, und die ganze Herde wird ihm nachrennen.
Sally: Wenn du Mist baust, laufen sie in alle Himmelsrichtungen davon.
Tim: Es wird immer Unruhestifter geben. Wenn du sie zusammentreibst, erkennst du immer das eine eigenwillige Tier, das nicht in den Stall kommen will, und dieses Schaf musst du im Auge behalten. Wenn du es in einem seiner Schlupflöcher aufstöberst, hat es noch lange nicht aufgegeben. Um aber eine Ausbreitung der Schafläuse zu stoppen, muss man rücksichtslos sein: Wenn du ein Schaf sein lässt, das Schafläuse hat, dann wird es die Läuse an jedes weitere Schaf weitergeben, das in seine Nähe kommt. Es gab eine Regel auf der Farm, die man mir sofort einbläute, als ich dort ankam: Wenn ein Schaf zurückbleibt, musst du es töten.
Auch auf andere Dinge musste man achtgeben. Im Frühling attackierten Möwen und Truthahngeier die Lämmer; sie pickten so lange auf der Unterseite des Kiefers herum, bis sie seine Zunge rausgehackt hatten. Man sah dann Mutterschafe mit Blutflecken auf dem Bauch, dort, wo die Lämmer versucht hatten zu saugen, was ohne Zunge natürlich nicht ging. Damals schlachtete man keine Schafe wegen des Fleisches – ausser den paar wenigen Tieren, die man selber ass –, weil es auf den Inseln keinen Schlachthof gab und keine Möglichkeit, das Fleisch zu verkaufen. Wenn also ein Schaf zu alt war, um gute Wolle abzugeben, tötete man das Tier einfach und warf es auf den Strand.
Während der ersten zwanzig Jahre, die Tim Blake auf Hill Cove verbrachte, von den späten 1950ern bis in die späten Siebziger, wurde der Hof wie alle anderen Höfe auf den Inseln nach einem Tauschsystem geführt, das in Grossbritannien über die Jahrhunderte schrittweise verboten worden war: nach den Truck Acts, die bis ins 15. Jahrhundert zurückgingen. Die Landarbeiter hatten kaum Bargeld zur Verfügung. Sie wurden mit Berechtigungsscheinen entlohnt und konnten im Hofladen ihrer Siedlung anschreiben lassen. Am Ende des Jahres sagte ihnen der Farmmanager, wie viel Geld nach Abzug all ihrer Einkäufe noch übrig blieb. Er bezahlte auch ihre Steuern und hinterlegte den Rest des Verdiensts auf einem staatlichen Sparkonto oder half ihnen beim Anlegen des Geldes. Dieser Farmmanager war womöglich die einzige einheimische Autoritätsperson: Er vollzog Trauungen und verhängte Strafen. Es heisst, dass noch kurz vor Tim Blakes Ankunft auf Hill Cove ein Mann dort wegen Pfeifens gefeuert worden war. Und weil der Alkohol speziell im Winter, wenn es nicht viel zu tun gab, zum Problem werden konnte, wurde im Hofladen der Alkoholverkauf rationiert. Wenn einer zu alt wurde für die Landarbeit, musste er sich zur Ruhe setzen, was bedeutete, dass er sein Haus auf dem Hof verlassen und nach Stanley ziehen musste. Dort gab es aber ausser Pubbesuchen für diese Männer fast nichts zu tun. Sie starben oft kurz nach der Pensionierung.
Der Farmmanager und seine Familie lebten im «grossen Haus», mit einem Dienstmädchen, einem Koch und einem Gärtner. Die verheirateten Männer lebten entweder in kleinen Häusern in der Hauptsiedlung oder in «Aussenhäusern», isoliert in abgelegenen Teilen der Farm, wo sie sich um die Herden kümmern konnten, die in ihrer Nähe lebten. Gemäss Vertrag wurden die Familien beherbergt und erhielten Hammelfleisch zum Essen und Kühe zum Melken. Zur Abwechslung assen sie Pinguineier, die rund und gross wie Tennisbälle waren; sie schmeckten nach Seetang und ihr Eigelb war rot. Das Bildungswesen auf den Inseln war lückenhaft. Einige der grösseren Siedlungen mit zehn oder fünfzehn Kindern hatten ein Schulhaus; viele der anderen Kinder hatten einen reisenden Lehrer, der alle zwei oder drei Monate zwei Wochen lang bei ihnen lebte. Unter der älteren Generation von Farmmanagern hielten es manche für unbesonnen, die Bauernkinder zu gut zu bilden.
Ledige Landarbeiter lebten in einer Baracke mit einem Koch. Mit Ausnahme des Dienstmädchens im grossen Haus gab es möglicherweise nirgendwo in der Nähe eine alleinstehende Frau. Um die Zeit der Volkszählung von 1973 lebten in ganz Westfalkland eine unverheiratete Frau und 51 unverheiratete Männer. Viele Frauen hatten britische Soldaten geheiratet – es gab eine kleine Garnison der Royal Marines auf Ostfalkland – und verliessen die Inseln. Selbst wenn ein Mann jemanden zum Heiraten fand, war die Scheidungsrate aussergewöhnlich hoch. Wenn sich ein Mann verletzte, war es wahrscheinlich die Frau des Farmmanagers, die sich um ihn kümmerte. Als Tony Smiths Hand unter dem Antriebsriemen eines Generators in Port Stephens zerquetscht wurde und Blut aus seinen Fingerspitzen spritzte, war es die Frau des Managers, die eine Nadel über einer Kerzenflamme erhitzte und sie durch jeden seiner Nägel bohrte, um den Druck abzulassen.
Wenn es nicht genug verheiratete Männer für die Aussenhäuser gab, wohnte dort manchmal ein lediger Mann und sah wochenlang niemanden. Ungefähr in den 1950er Jahren lebte ein Schäfer allein auf einer Farm in Westfalkland. Er wurde sehr krank und dachte, er würde sterben, also liess er seine Hunde laufen und fütterte seine Hühner, legte sich auf sein Bett, verschränkte die Arme über der Brust und wartete auf den Tod, in der Annahme, dass ihn früher oder später jemand finden würde. Nach einer Weile fühlte er sich besser und stand wieder auf, und die Geschichte wurde noch Jahrzehnte später erzählt. Alle fanden sie höchst amüsant.
In den Siedlungen herrschte eine gedrängte Intimität, die sowohl bedrückend als auch innig war: An so kleinen Orten konnte es nur wenige Geheimnisse geben, und die Familien waren auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Wenn jemand krank wurde, konnte es ein paar Tage dauern, bis der Arzt kam; Lieferungen waren selten, sodass die Leute sich Dinge borgen mussten. Jedes Jahr nach der Schafschur fand auf den Hauptinseln in je einer Siedlung die Sports Week statt, und die Bauernfamilien kamen zusammen, um zu feiern. Tagsüber fanden Pferderennen, Schurwettbewerbe und Schäferhundprüfungen statt; zum Frühstück gab es manchmal Gin Tonic, getrunken und getanzt wurde bis vier oder fünf Uhr morgens. Ausser den Häusern gab es keine Übernachtungsmöglichkeiten, also schliefen vielleicht zwanzig Menschen in zwei oder drei Räumen dicht gedrängt auf dem Fussboden.
Bis in die achtziger Jahre gab es im Camp, also ausserhalb der Ortschaften, keine Strassen, sodass die meisten Leute Pferde benutzten. Es gab auch Landrover, aber der Boden war so feucht, dass sie ständig im Morast stecken blieben. Es existierten nicht viele Orientierungspunkte, und Nebel verhüllte oft die wenigen, die es gab, sodass die BewohnerInnen lernten, sich mit dem Blick auf den Boden zu orientieren. Egal wie man reiste, es dauerte Stunden, bis man irgendwo ankam, und wenn man an einem Haus vorbeikam, machte man dort halt, um etwas zu essen oder um zu übernachten. Von denen, die ausserhalb einer Siedlung wohnten, wurde erwartet, dass sie stets in der Lage waren, eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht bereitzustellen.
Lange Zeit wusste man kaum, wann jemand kommen würde, weil es im Camp keine Telefone gab und die Post nur einmal im Monat ausgetragen wurde. Wenn das Postboot Briefe für eine der äusseren Inseln brachte, zündete jemand auf der Hauptinsel Feuer an, um die Leute wissen zu lassen, woher die Briefe kamen: ein Feuer für die einheimischen, zwei für England. Später wurde die Post für die äusseren Inseln in Stanley in Säcke sortiert, die dann aus der Tür eines Flugzeugs auf die Inseln geworfen wurden. 1950 richtete die Regierung einen Funktelefondienst ein, der vierzig Höfe miteinander verband. Der Nachteil und der Charme dieses Systems bestanden darin, dass man die Anrufe der anderen hören konnte. Jeden Morgen um zehn Uhr hielt ein Arzt in Stanley über das Funktelefon Beratungen ab, und alle unterbrachen das, was sie gerade taten, und setzten sich mit einer Tasse Tee um das Funkgerät, um den InselbewohnerInnen zuzuhören, wie sie über ihren Husten und ihre Schmerzen, ihre gynäkologischen Probleme oder ihren gereizten Darm berichteten.
Die enormen Veränderungen, die die Falklandinseln innerhalb von zwanzig Jahren durch zwei Jahrhunderte Geschichte trieben, begannen eigentlich kurz vor dem Krieg, in den späten siebziger Jahren, etwa zu der Zeit, als Tony Heathman lernte, wie man Schafe schert. Tonys Wurzeln auf den Inseln gehen so weit zurück wie die von Tim Blake, aber er entstammt FarmarbeiterInnen, nicht dem Adel. Er wuchs hauptsächlich in Cape Dolphin auf Ostfalkland auf; sein Vater war ein Hirte von ausserhalb. 1964, fünfzehnjährig, verliess er die Schule und arbeitete auf der Farm in Port San Carlos, ging dann im Winter 1968 nach Stanley und baute Torf ab.
Er wollte schon immer lernen, wie man Schafe im modernen neuseeländischen Stil schor, aber es gab niemanden in Port San Carlos, der ihm das beibringen konnte. Dann hörte er, dass es in Goose Green zwei Manager gab, die gerade aus Neuseeland gekommen waren, also besorgte er sich dort einen Job und begann zu lernen. Die Methode war anmutig, präzise, jede Bewegung auf maximale Geschwindigkeit und minimale Anstrengung hin choreografiert: Der Schafscherer steht eher gebückt als kniend, das Tier zwischen die Beine geklemmt. Er nimmt mit der linken Hand das vordere rechte Bein des Schafs auf, der erste Strich der Maschine schert innerhalb der Flanke nach unten, streckt die Bauchhaut nach oben, dann überzieht die Maschine die Zitzen mit zwei Strichen, geht in den Genitalbereich bis zur Mitte; der Scherer rollt das Schaf um, zwei Striche über den Oberkopf und über jedes Auge – ein Schritt auf die andere Seite. Dann die Bruststriche, die Halswolle und gerade die Kehle hinauf, rundherum auf die Seite der Wange, kurzer Strich unter dem Ohr, der Schafkopf auf dem Knie des Scherers; dann das Bein hinunter und die Socke abgezogen, das Schaf wieder umdrehen für den langen Strich über den Rücken und das Bein hinunter – der längste Schnitt –, sodass das Vlies sauber in einem Stück abfällt, wie ein Mantel.
Tony verbrachte bei Goose Green ein paar Jahre mit der Perfektionierung seiner Fertigkeiten, und dann, Anfang der siebziger Jahre, schloss er sich mit zwei anderen Männern zusammen, um eine Scherertruppe zu bilden, die erste auf den Falklandinseln. Die Idee war, als freiberufliche Scherer von Farm zu Farm zu ziehen und dafür acht Pence pro Schaf zu verlangen, was mehr Geld war, als ein Schäfer verdiente. Eine Scherertruppe brachte auch den Farmen Vorteile, denn bisher mussten sie für die Schursaison zahlreiche Arbeiter einstellen, die dann für den Rest des Jahres nicht mehr viel zu tun hatten.
Die Trupps kamen gerade rechtzeitig, denn die Farmen waren in Schwierigkeiten. In den vorangegangenen Jahrzehnten waren die Wollpreise hoch gewesen, und die Falklandinseln hatten dem britischen Fiskus mehr Steuereinnahmen eingebracht, als sie an Investitionen gekostet hatten. Doch Ende der siebziger Jahre stürzte der Wollpreis ab. 1975 schickte das britische Aussenministerium Lord Shackleton, einen ehemaligen Labour-Fraktionsführer im Oberhaus und Sohn des Antarktisforschers Sir Ernest Shackleton, auf die Falklandinseln, um die Zukunftsaussichten einzuschätzen. Shackleton empfahl der Inselregierung, die grossen Farmen von den Pächtern zurückzukaufen, sie in Parzellen aufzuteilen, die klein genug waren, um von einer einzigen Familie bewirtschaftet zu werden, und diese an die InselbewohnerInnen zu verkaufen. Die Grossgrundbesitzer freuten sich darüber, dass sie ihre maroden Besitztümer loswerden konnten, und Shackletons Plan wurde nach und nach in die Tat umgesetzt.
Wenige Jahre nachdem Tony Heathman sich der Scherertruppe angeschlossen hatte, heiratete er eine Frau namens Ailsa, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte – seine Schwester war mit ihrem Onkel verheiratet. Beide waren InselbewohnerInnen der fünften Generation und stammten mütterlicherseits von demselben Mann ab, William Fell, der um 1859 aus Schottland auf die Inseln gekommen war. Ailsa war im Rose Hotel aufgewachsen, einem Pub in Stanley, den ihre Eltern und ihre Grossmutter betrieben, aber sie verbrachte jeweils den ganzen Sommer bei Verwandten, die auf Green Patch arbeiteten, einer Farm auf Ostfalkland.
Wie es der Zufall wollte, war Green Patch die erste der grossen Farmen, die nach dem Shackleton-Bericht aufgeteilt wurden. Die Falkland Islands Company verkaufte sie an die Regierung, und 1980 teilte diese die 30 000 Hektaren in sechs Ländereien von jeweils 5000 Hektaren auf. Tony und Ailsa nutzten die Chance, eine eigene Farm zu erwerben. In den Jahren, in denen Tony bei der Scherertruppe gewesen war, hatte Ailsa als Rousie gearbeitet und die Wolle in den Schuppen gestapelt; in der Nebensaison hatten sie in einem Wohnwagen gelebt und waren um Goose Green herumgefahren, um Zäune zu reparieren. Zusammen hatten sie mit etwas Glück hundert Pfund pro Tag verdienen können und das meiste davon gespart.
Den Arzt konsultierte man per Funktelefon: Berichtete man ihm von seinem gereizten Darm, hörte bei einer Tasse Tee die ganze Insel zu.
Sie bewarben sich um einen der Betriebe, Estancia, und erhielten ein Pachtangebot für 15 000 Pfund. Aber eine eigene Farm zu betreiben, war nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Der erste Winter war hart, und sie verloren viele Schafe. Da das Land so karg war, konnten sie nur 3000 Schafe halten, man brauchte aber mindestens 6000, um die Farm rentabel zu betreiben. Die Wollpreise sanken weiter. Tony und Ailsa konnten die Farm nicht abstossen, weil sie diese nicht für genügend Geld hätten verkaufen können, um ein Haus in Stanley zu erwerben, also schränkten sie sich so stark wie möglich ein und hielten durch.
Sie waren nicht die Einzigen – überall auf den Inseln war die Stimmung düster. Den InselbewohnerInnen war klar geworden, dass Grossbritannien sie als Problem betrachtete. Jahrelang hatte das Aussenministerium sie näher zu Argentinien gedrängt und dafür gesorgt, dass Waren und Dienstleistungen von dort und nicht von Grossbritannien her kamen. Argentinien, dessen Regierung vor kurzem von einer Militärjunta übernommen worden war, hatte sich in der Frage der Souveränität zunehmend kriegerisch gezeigt, und das Letzte, was Grossbritannien wollte, war ein internationaler Disput über einige ferne Felsen, von denen nie jemand gehört hatte. Es schien den EinwohnerInnen klar zu sein, dass Grossbritannien plante, sie irgendwann einfach auszuliefern. Ende 1980 besuchte ein britischer Minister Stanley und schlug im Rathaus dem besorgten Publikum vor, die Falklandinseln an Argentinien abzutreten, dies im Rahmen eines langfristigen «Leaseback»-Abkommens ähnlich demjenigen, das Grossbritannien und China für Hongkong abgeschlossen hatten. Kurz darauf stimmte in London das Oberhaus dafür, den InselbewohnerInnen die britische Staatsbürgerschaft zu verweigern. «An einem Ort, an dem den Menschen bewusst geworden ist, dass die während vieler Generationen gelebte Loyalität schnell in Vergessenheit gerät», schrieb die «Penguin News» in einem bitteren Leitartikel, «sind sie nicht überrascht, dass sie ein wenig weiter hinaus in die Kälte gestossen wurden.»
Wenn die Farmen kaputtgingen und Grossbritannien sie wahrscheinlich an die Argentinier verraten würde, was bliebe dann noch übrig? Die Menschen fingen an, Ausreisepläne zu schmieden – Vertragsarbeiter gingen zurück nach Grossbritannien, Menschen mit genügend Ersparnissen wanderten nach Neuseeland aus. Aber viele InselbewohnerInnen hatten nicht das Geld, um in einem anderen Land neu anzufangen, und waren seit so vielen Generationen auf den Falklandinseln, dass sie keine Verbindungen mehr nach Grossbritannien oder sonst irgendwohin hatten. Wohin sollten sie gehen?
Am 1. April 1982 erhielt der Gouverneur der Falklandinseln, Rex Masterman Hunt, ein Telegramm vom Aussenministerium: «Wir haben offenbar zuverlässige Hinweise, dass eine argentinische Einsatztruppe morgen früh vor Cape Pembroke eintreffen wird. Sie werden entsprechende Vorkehrungen treffen wollen.» Hunt war 1975 aus Saigon evakuiert worden und wusste noch, wie lange es dauerte, Dokumente zu vernichten, also befahl er sofort, mit dem Schreddern zu beginnen. Dann teilte er den InselbewohnerInnen über das Radio mit, sie sollten mit einer Invasion rechnen, aber nicht neugierig sein und nach draussen gehen, da sie dann nur im Weg wären. Patrick Watts, der Leiter des Radiosenders, kündigte an, dass er weiter senden werde, wobei er die Neuigkeiten ins Musikprogramm einstreute; die Leute begannen anzurufen, zu berichten, was sie sahen, und er strahlte die Anrufe aus. Am nächsten Tag landeten im Morgengrauen die argentinischen Truppen und marschierten in Stanley ein. Nach kurzem Widerstand erkannte der Gouverneur, dass es angesichts der sehr bescheidenen Verteidigungskraft der Inseln zwecklos war, zu kämpfen, und kapitulierte. Die Argentinier erklärten, sie seien gekommen, um die Inseln vom Kolonialismus zu befreien, und befahlen, in den Schulen auf Spanisch zu unterrichten und auf der rechten Strassenseite zu fahren.
In den ersten Stunden wusste niemand, ob Grossbritannien kommen würde, um sie zu verteidigen. Dass argentinische Truppen einmarschierten, obwohl die britische Regierung fast schon um die friedliche Übernahme der Inseln gebeten hatte, liess das Regime in Buenos Aires noch verrückter erscheinen. Die Leute in Stanley begannen, darüber zu diskutieren, wohin sie fliehen könnten, wenn Grossbritannien kapitulieren würde. Einige begannen verzweifelt zu packen, um ins Camp zu gehen – obwohl die argentinischen Truppen ebenfalls schon im Camp waren, die Menschen aus ihren Häusern vertrieben, sie in Gebäuden zusammenpferchten, Lebensmittel und Fahrzeuge beschlagnahmten. Später an diesem Tag erfuhren die InselbewohnerInnen, dass Margaret Thatcher, die britische Premierministerin, beschlossen hatte, doch noch die Marine zu schicken, obwohl es viele Tage dauern würde, bis sie die Falklandinseln erreichte.
Die InselbewohnerInnen taten, was sie konnten, um den Feind zu unterminieren. Reg Silvey, Leuchtturmwärter von Cape Pembroke und Amateurfunker, bastelte eine Antenne aus einer Stahlkernwäscheleine und übermittelte den Briten militärische Informationen. Terry Peck, ein Polizist, versteckte eine Kamera in einem Abflussrohr und lief umher, um Fotos von argentinischen Raketenstellungen zu machen. Eine Landwirtin namens Trudi McPhee führte nachts eine Karawane von InselbewohnerInnen in Landrovern und Traktoren auf Ostfalkland quer durch feindliches Gebiet zum Farmhaus von Tony und Ailsa, wo die britischen Truppen Fahrzeuge für den Waffentransport suchten. Als die britische Marine sich den Falklandinseln näherte, überzeugte Eric Goss, ein Goose-Green-Manager, die argentinischen Soldaten davon, dass es sich bei den Schiffsscheinwerfern um Mondlicht handelte, das von Seetang reflektiert werde.
Der Konflikt dauerte 74 Tage; etwa 650 Argentinier, 250 Briten und 3 Falkländer kamen ums Leben. Am 14. Juni kapitulierte Argentinien schliesslich. Der Kommandeur der britischen Landstreitkräfte sandte eine Meldung nach London: «Die Falklandinseln stehen wieder unter der von ihren Bewohnern gewünschten Regierung. Gott schütze die Königin.»
Politische Parteien existierten nicht – wozu auch? Die meisten Leute kannten sich eh schon ein ganzes Leben lang.
Nach dem Krieg war Stanley derart zerstört und verdreckt, von Müll und Trümmern übersät, dass es schwer vorstellbar war, dass der Ort jemals wieder in Ordnung gebracht werden könnte. Menschen, die in Häuser zurückkehrten, in denen argentinische Soldaten untergebracht waren, mussten feststellen, dass ihre Sachen kaputt oder gestohlen waren, sie fanden Graffiti an den Wänden und Schubladen voller Kot. Ausserhalb der Stadt hatten die Farmer Angst, sich auf ihrem Land zu bewegen, weil es mit Minen übersät war. Die Menschen waren wütend und deprimiert, traumatisiert von der Gewalt der Invasion und davon, dass diese ihnen klarmachte, wie hilflos und verletzlich sie waren. Viele hatten Schuldgefühle wegen der getöteten britischen Soldaten: 250 Tote für 1800 InselbewohnerInnen. Waren sie es wert gewesen?
Während des Kriegs hatten grosse Gruppen von FalkländerInnen eng zusammengelebt, entweder, weil sie von argentinischen Soldaten gewaltsam zusammengepfercht worden waren, wie die mehr als hundert Menschen, die fast einen Monat lang im Gemeindesaal von Goose Green gefangen gehalten wurden, oder weil sie selbst Zuflucht suchten, etwa im West Store in Stanley. Die Menschen, die den Krieg auf diese Weise durchlebt hatten, waren sich sehr nahe gekommen. Aber in den düsteren Folgejahren waren sie völlig von der Aufgabe in Anspruch genommen, den Dreck aus ihren Häusern zu räumen und genug Geld für die Instandsetzung zu verdienen, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit löste sich grösstenteils auf. In Stanley hatten die meisten auch nach dem Krieg Truppen bei sich einquartiert, und überall, wo man hinkam, waren uniformierte Soldaten, sodass sich die Stadt immer noch wie ein Ort unter militärischer Besatzung anfühlte. Die britischen Truppen nannten die InselbewohnerInnen Bennys, nach einer Dorftrottelfigur in der populären britischen TV-Serie «Crossroads». Als den Soldaten befohlen wurde, damit aufzuhören, nannten sie die BewohnerInnen einfach Stills, im Sinne von «still a Benny», noch immer ein Benny. Wegen der vielen Soldaten, die für dreimonatige Einsätze herkamen, zerbrachen viele Ehen, und im Krankenhaus nahmen die Fälle von Geschlechtskrankheiten zu.
Nach dem Krieg erregte der erbärmliche Zustand der Falklandinseln international Aufmerksamkeit, und Grossbritannien teilte den Inseln mehr Hilfsgelder zu als je zuvor. Ein Staatsangehörigkeitsgesetz wurde in London verabschiedet; es gewährte den BewohnerInnen der Falklandinseln die volle britische Staatsbürgerschaft, und es verlieh den Inseln Unabhängigkeit in allen Angelegenheiten mit Ausnahme der Aussen- und der Verteidigungspolitik. Die Inseln sollten nicht mehr von einem Gouverneur, sondern von einem Legislativrat verwaltet werden, der aus acht gewählten Mitgliedern bestand. Politische Parteien existierten nicht – das war nicht nötig, da sich die meisten Menschen schon ihr ganzes Leben lang kannten. Es gab bereits ein Gericht, und da es schwierig war, eine Jury zusammenzustellen, in der niemand mit den Angeklagten verwandt war, war der Gerichtsdiener befugt, nach draussen zu gehen und weitere Geschworene buchstäblich von der Strasse zu holen.
Doch der Wendepunkt, ab dem sich alles veränderte, war die Entscheidung Grossbritanniens im Jahr 1986, den Falklandinseln zu erlauben, ihre Fischfangrechte in einem 240 Kilometer breiten Küstenstreifen zu beanspruchen. Aus Furcht, Argentinien zu provozieren, war dies bisher verboten gewesen. Durch die Gewässer, in denen die Inseln liegen, führten die jährlichen Schwimmrouten von chilenischen Seebarschen und zwei Kalmararten, die in Asien und Südeuropa sehr begehrt waren. Jahrzehntelang mussten die InselbewohnerInnen mitansehen, wie russische und taiwanesische Fischerboote nachts mit Scheinwerfern ins Wasser leuchteten, um den Kalmar an die Oberfläche zu locken, wie sie ihre Netze füllten – ohne etwas dagegen tun zu können. Der Verkauf von Fanglizenzen an ausländische Flotten verdreifachte praktisch über Nacht das Volkseinkommen der Falklandinseln.
Plötzlich konnten die Menschen sich alle möglichen Wünsche erfüllen, die sie lange gehegt hatten. Seit dem späten 19. Jahrhundert wollten die InselbewohnerInnen ein Schwimmbad, weil das Meer zum Schwimmen zu kalt war; wenn Boote kenterten, ertranken Leute, weil niemand schwimmen gelernt hatte. Jetzt würde es ein Schwimmbad geben. Eine neue Sekundarschule wurde gebaut und ein Krankenhaus. Die Veränderungen, die schon vor dem Krieg eingesetzt hatten, beschleunigten sich: Die alten Farmen wurden aufgeteilt, die Regierung lieh den Leuten Geld, damit sie Landstücke kaufen konnten, und bald gehörte fast das gesamte Land den InselbewohnerInnen, die es auch bewirtschafteten.
Die Regierung begann, überall auf den Inseln Strassen zu bauen, sodass die Leute sich gegenseitig besuchen konnten, ohne dass es acht oder zehn Stunden dauerte, bis sie am Ziel waren. Sie subventionierte eine Autofähre für die gut dreissig Kilometer zwischen Ostfalkland und Westfalkland sowie einige neunsitzige Flugzeuge für längere Strecken und um die äusseren Inseln schneller zu erreichen. Es wurden richtige Telefone mit Nummern und privaten Verbindungen installiert. Es wurde beschlossen, dass alle Teenager, wenn sie ihre Examen bestanden hatten, die Oberstufe und die Universität in Grossbritannien besuchen konnten, wobei alle Kosten einschliesslich einer jährlichen Heimreise übernommen wurden. Ein Gewerkschaftsführer verhandelte mit der Regierung über Lohnerhöhungen; am Schluss konnte er eine Verdoppelung der Gehälter verkünden und fragte sich, ob er Halluzinationen habe.
Die meisten gewöhnten sich schnell an die neue Lebensweise und stellten fest, dass sie sie mochten. Aber da die FalkländerInnen in schlechten Zeiten aufgewachsen waren, blieben sie äusserst bescheiden. Jedes neue Projekt wurde von denen, die meinten, es sei unnötig oder zu teuer oder es würde nie funktionieren, heftig bekämpft. Die Mitglieder des Legislativrats wollten kein Geld für Fehler verschwenden – anfänglich gab es einige sehr kostspielige Fehler –, also beauftragten sie, bevor sie sich auf grosse Projekte einliessen, ExpertInnen mit der Erstellung von Berichten, die die verschiedenen Optionen, deren Vor- und Nachteile, sowie alles, was schiefgehen könnte, ausführlich beschrieben. Die Leute, die sich zuvor über die teuren Fehler beschwert hatten, beschwerten sich nun über die teuren ExpertInnen und die Vorschriften, den Papierkram und die vermeintlichen Erfolgsrezepte, die sie zur Folge hatten:
Tony: Das Fischereibürohaus in Stanley – sie gaben fast 500 000 Pfund für das Fundament aus. Man könnte eine verdammte Raumfähre von diesem Fundament aus starten!
Ailsa: Wir bauen seit fast 200 Jahren Häuser auf den Falklandinseln, und ich habe noch nie davon gehört, dass ein Gebäude weggeweht wurde.
Trotz aller Expertisen ging manchmal etwas schief. Als die neue Strasse von Stanley zum Flughafen eröffnet wurde, war sie auf beiden Seiten mit tiefen Gräben versehen. Es ging das Gerücht um, dass jemand, der kein Einheimischer war, die jährliche Niederschlagsmenge mit der monatlichen verwechselt und besonders tiefe Gräben konzipiert hatte, um Überschwemmungen zu verhindern. Sie aufzuschütten, wäre zu teuer gewesen. Viele Jahre und unzählige Unfälle später waren die Gräben immer noch da, und die Leute regten sich immer noch darüber auf. Nachdem die Strasse zum Flughafen asphaltiert worden war, wollten manche noch weitere Strassen asphaltieren, etwa die zum Fährhafen. Andere erachteten dies als völlig überflüssig: Dann könnte man auch gleich Linien in der Mitte der Strassen malen und am Rand Barrieren errichten, um zu verhindern, dass Autos in die Gräben fallen, und, wenn man schon dabei war, allen noch eine eigene Limousine schenken und einen Jahresvorrat an Diademen gleich dazu.
Ein Gewerkschafter konnte eine Verdoppelung der Gehälter aushandeln und fragte sich, ob er Halluzinationen habe.
Die Falklandinseln gehörten nun zu den reichsten Orten der Welt – mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das mit dem von Norwegen und Katar vergleichbar war. Trotz gestiegener Ausgaben hatte die Regierung mehrere Jahresbudgets für schlechte Zeiten beiseitelegen können – sie hatte keinerlei Schulden. Unterdessen bot sich ausserdem die Chance, in naher Zukunft noch viel mehr Geld zu verdienen. Seit den neunziger Jahren hatten Ölgesellschaften die Gewässer um die Inseln erkundet, und nach der Jahrtausendwende war bekannt geworden, dass es vor der Küste erhebliche Ölvorkommen gab. Die InselbewohnerInnen wurden vorsichtig daran erinnert, dass das Bohrvorhaben noch keine sichere Sache war – es hing von den Ölpreisen und verschiedenen technischen Fragen ab –, aber es schien immer wahrscheinlicher, dass es umgesetzt würde und dass sich die Einnahmen der Falklandinseln bald vervierfachen könnten. Am 1. April verkündete ein Radiomoderator, dass die Regierung auf Gold gestossen sei und alle Gratisanteile an dem Bergbauunternehmen erhalten würde. Damals schien die Nachricht so plausibel, dass nur wenige erkannten, dass es sich um einen Scherz handelte.
Merlita Ponsica war in ihren Vierzigern und arbeitete als Rezeptionistin bei einer Visabehörde in Cebu City, einer Stadt auf den Philippinen ein paar Hundert Kilometer südöstlich von Manila, als eine etwas ältere Frau hereinkam, um ein Visum für die Falklandinseln zu beantragen. Die Frau hatte jahrelang im Ausland gearbeitet – in Hongkong, Macao und Singapur – und ihrer Mutter, die auf dem Land lebte und sich um die drei Kinder der Frau kümmerte, Geld geschickt. Dann hatte die Frau in einem Online-Chatroom einen Mann kennengelernt, der ihr vorschlug, zu ihm auf die Falklandinseln zu ziehen. Jetzt hatte sie einen Job in Stanley, wo sie im Lebensmittelladen einer Tankstelle arbeitete, und lebte mit dem Mann zusammen. Sie hatte sogar ihre Kinder mitgebracht.
Auf den Falklandinseln sei es sicher, sagte die Frau – vielleicht sei es der sicherste Ort der Welt. Sie verdiente gutes Geld – bis zu zehnmal so viel, wie man auf den Philippinen verdienen würde –, und Gesundheitsversorgung und Bildung waren kostenlos. Es war sogar besser als Dubai, denn dort war es fast unmöglich, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen, während man auf den Falklandinseln nach fünf Jahren eine dauerhafte Bewilligung erhielt. Die Frau erklärte Merlita, wie sie den Mann online kennengelernt hatte, und bald hatte auch Merlita einen Freund auf den Falklandinseln, der etwa 25 Jahre älter war als sie. Der Mann half ihr, einen Job in Stanley zu finden, denn ohne einen Job konnte man nicht auf die Falklandinseln ziehen. 2017 flog sie dorthin und begann, im Supermarkt zu arbeiten.
Es war kalt in Stanley und sehr still. Die Stadt war verglichen mit Cebu so winzig, und es gab fast niemanden da, nur ein paar Autos fuhren vorbei oder manchmal ein paar Kinder auf Velos. Von weitem sah das Städtchen hübsch aus, weisse Häuser mit bunten Dächern, aber wenn man an den Häusern vorbeikam, sah man, dass viele billig gebaut waren, mit aufgemalter Fassade und Wellblech. Einige Leute hatten Blumenbeete angelegt, aber viele Hinterhöfe waren unordentlich, übersät von überschüssigem Baumaterial und alten Autos. Einige Leute hielten Tiere – Hunde und Hühner, sogar Pferde und Schafe. Manchmal hörte man abends ein Lamm blöken. Wenn man samstagabends an einer der Kneipen vorbeiging, hörte man drinnen laute Musik, und draussen standen Gäste, die rauchten, Frauen in engen Kleidern und manchmal auch Betrunkene, die sich prügelten. Aber die Frau in der Visabehörde hatte recht gehabt, es war sicher. In Cebu hatte sie Angst gehabt, Geld bei sich zu tragen, aber sie hatte auch Angst, kein Geld bei sich zu tragen, denn wenn sie überfallen worden wäre und keins dabeigehabt hätte, hätte sie getötet werden können. In Stanley hatte sie nie Angst davor, allein zu Fuss zu gehen.
Zuerst hatte sie grosses Heimweh. Es gab noch andere Filipinas in Stanley, aber diejenigen, die vor ihr gekommen waren, konnten gegenüber Neuankömmlingen hochnäsig sein, sodass sie meistens für sich blieb. Nach einigen Monaten trennte sie sich von ihrem Freund – sie hatte herausgefunden, dass er nebenher noch eine andere Filipina gehabt hatte –, aber das Geld war gut, und sie beschloss zu bleiben. Sie arbeitete, ging nach Hause, kochte ihr Abendessen und ging schlafen. Sie hatte ihren dreijährigen Sohn auf den Philippinen zurückgelassen und vermisste ihn so sehr, dass sie sterben wollte. Dann fand sie heraus, wie sie einer ihrer Schwestern in Stanley einen Job als Kellnerin verschaffen konnte. Als ihre Schwester ankam, ging es ihr besser. Die Schwester arbeitete bis spät im Restaurant, sodass Merlita abends, nachdem der Supermarkt geschlossen hatte, allein war. Aber nachts und an freien Tagen sass sie mit ihrer Schwester im Haus; sie sangen und tranken zusammen und riefen nach Mitternacht, wenn das Internet billiger war, per Video-Call zu Hause an.
Die PhilippinerInnen wanderten erst vor relativ kurzer Zeit ein. Nach dem Krieg waren EinwanderInnen aus St. Helena, einem anderen britischen Inselgebiet im Südatlantik, hierhergekommen. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er waren ChilenInnen, die unter der Militärdiktatur aufgewachsen waren, auf die Falklandinseln gezogen, um im Hotel – lange Zeit gab es nur ein Hotel, das «Upland Goose» – oder in den Läden zu arbeiten oder um Taxi zu fahren. Später verbrachte eine Gruppe von Minenräumern aus Simbabwe ein paar Jahre auf den Inseln, um diese von den Landminen aus dem Krieg zu befreien, und einigen von ihnen gefiel es so gut, dass sie sich entschlossen, zu bleiben und ihre Familien nachzuholen.
Manche der Minenräumer hatten bereits auf der ganzen Welt gelebt – die Falklandinseln waren für sie nur eine weitere Station. Shupi Chipunza war in Harare aufgewachsen und hatte sich in der Oberstufe auf Geschichte, englische Literatur und die Schona-Sprache konzentriert, mit der Absicht, auf die Universität zu gehen. Aber dann hörte er, dass die Minenräumung das Doppelte von dem einbrachte, was er als Lehrer verdienen konnte. Er ging fort und nahm eine Reihe von Minenräumjobs an, zuerst in Kroatien, dann im Libanon, im Kongo, auf Zypern, in Afghanistan und schliesslich auf den Falklandinseln. Als er nach Stanley kam, war er mit Agnes verheiratet, einer jungen Frau, die in derselben Strasse wie er in Harare aufgewachsen war, und sie hatten drei kleine Kinder. Er wollte nicht mehr so oft wegfahren, also suchte er sich einen Job als Fliesenleger und arbeitete später bei der Feuerwehr am Flughafen. Er holte Agnes zu sich, und sie gründete ein Putzunternehmen. Shupi war entschlossen, dass er und Agnes sich Mühe geben würden, sich in die Falklandgemeinschaft zu integrieren; er hatte an so vielen Orten gelebt, dass er wusste, was es brauchte, um die Einheimischen zur Akzeptanz zu bewegen. Er schloss sich einer Fussballmannschaft an, nahm an Spendenaktionen teil – Spendenaktionen gab es viele. Er erklärte Agnes, welche Nahrungsmittel die InselbewohnerInnen mit Besteck und welche mit den Händen assen, damit sie sich nicht blamierten, wenn sie zum Essen eingeladen wurden.
Hatte es in den siebziger Jahren auf den Falklandinseln nur Schafe gegeben, so gab es jetzt neben der Fischerei auch den Tourismus, der jedes Jahr zunahm, da sämtliche Kreuzfahrtschiffe auf ihrem Weg in die Antarktis hier haltmachten. Wie viele InselbewohnerInnen begannen Tony und Ailsa einen Nebenerwerb im Tourismus. Sie leiteten Führungen zu den Schlachtfeldern, sprachen über ihre Kriegserfahrungen und zeigten den Reisenden die Überreste von zwei argentinischen Helikoptern in der Nähe ihrer Farm. Sie fuhren die TouristInnen an den Strand von Volunteer Point, wo sie die Königspinguine beobachten konnten. Wenn gerade viele Kreuzfahrtschiffe haltmachten, konnte es vorkommen, dass dort fünfzig Fahrzeuge mit jeweils vier Personen aufkreuzten. Während des Sommers nahmen sich viele Leute frei, um sich im Tourismussektor zu betätigen, aber es gab immer noch nicht genügend Fahrer für die Tage, an denen 4000 Passagiere an Land kamen, mit denen sich die Inselbevölkerung jeweils mehr als verdoppelte. Die TouristInnen, die nicht schon im Voraus Autoreisen gebucht hatten, stapften dann in Regenjacken und Extremwetterschuhen durch Stanley und machten Fotos von der Margaret-Thatcher-Statue, den roten Briefkästen und den roten Telefonzellen vor dem Postgebäude.
Es war unmöglich, alle Jobs zu besetzen – viele Leute in Stanley hatten zwei oder drei. Die Jungen wechselten einfach den Beruf, wenn ihnen danach war: vom IT-Berater zum Leiter eines Stickereiunternehmens, von der Forschungsbiologin zur Linienpilotin. Menschen, die in den siebziger Jahren ausgewandert waren, kamen wieder zurück, ebenso drei Viertel der Jungen, die fürs Studium weggegangen waren, aber es waren immer noch nicht genügend Arbeitskräfte da. Geschäfte und Hotels zogen immer mehr AusländerInnen an – zum Zeitpunkt der Volkszählung von 2016 waren nur noch 43 Prozent der Bevölkerung auf den Falklandinseln geboren. Von der übrigen Bevölkerung stammte etwa die Hälfte aus Grossbritannien, der Rest kam aus fast sechzig verschiedenen Ländern. Da dies aber die Falklandinseln waren, bestand ein Grossteil der vertretenen Nationen nur aus einer oder zwei Personen: «Die Russen kamen durch die Fischereiforschung. Es gibt einen Rumänen in Port Howard – er ist Farmarbeiter. Der Lette, ich weiss wirklich nicht, wie er hierhergekommen ist», hörte man sagen.
Es war unmöglich, alle Jobs zu besetzen – viele Leute hatten zwei oder drei. Die Jungen wechselten einfach den Beruf, wenn ihnen danach war.
Zusätzlich zu denen, die zum Arbeiten kamen, weilten auf den Falklandinseln viele TravellerInnen, die oft auf Landkarten starrten, überall auf der Welt gewesen waren, keine festen Wurzeln hatten und aus dem einen oder anderen Grund im Südatlantik gelandet waren. Pat Warburton, eine Dentalhygienikerin in ihren Sechzigern, stammte aus York Springs, Pennsylvania, und war in Tibet und der Mongolei in einem Unimog-Truck unterwegs gewesen, den sie und ein Freund zu einem Wohnmobil umgebaut hatten. Sie war der Seidenstrasse durch Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan in den Nordwesten Chinas gefolgt und überall in Europa, Südamerika und Afrika gewesen. Sie arbeitete für einige Monate in Zahnarztpraxen in Südafrika, New York oder Kathmandu, die sie vorübergehend beschäftigten, und wenn sie genug Geld gespart hatte, suchte sie auf Websites – Workaway, Mindmyhouse – nach Leuten, die ihr als Gegenleistung für irgendeine Art von Hilfe Kost und Logis bieten würden. Während einer dreimonatigen Kokosnussernte auf den Tuamotu-Inseln im Südpazifik beschloss sie, dass sie abgelegene Inseln mochte, und da ihr der Klang der Falklandinseln gefiel, schaltete sie eine Anzeige in den «Penguin News». Sie wurde von einem Ehepaar in Hill Cove aufgenommen, das Unterstützung auf der Farm benötigte, und verbrachte einige Monate damit, für eine Scherertruppe zu kochen, Ställe zu putzen und Lämmer zu kastrieren. Ein Nachbar wurde auf sie aufmerksam, und am Ende zog sie bei ihm ein.
Keith Biles begann in den sechziger Jahren in London für ein Unternehmen von Edelmetallhändlern zu arbeiten, aber als er seinen Schwager in Pretoria besuchte, wurde ihm bewusst, dass viele in anderen Ländern für weniger Geld besser lebten. Er fing bei einer Bank an, die ihn ins Ausland entsandte, und wurde nach Manila, dann nach Hongkong, New York, Sri Lanka, Oman, Dubai, Ghana und auf die Falklandinseln versetzt. Während er in Stanley lebte, wurde er 55 Jahre alt, er ging in den Ruhestand. Er und seine Frau mussten nun entscheiden, wo sie sich niederlassen wollten. Zypern zog ihn an, weil das Klima angenehm und das Leben dort einfach war, aber seine Frau konnte sich nicht vorstellen, dreissig Jahre lang in der Sonne zu sitzen, in Bars zu gehen und andere Expats zum Abendessen zu treffen. Sie zogen in Erwägung, nach England zurückzukehren, aber es waren so viele Jahre vergangen, seit sie dort gelebt hatten, dass sie nirgendwo Wurzeln hatten. Ihre Kinder lebten in verschiedenen Gegenden des Landes und planten, selbst auszuwandern. Schliesslich entschieden sie sich zu bleiben. Sie hatten FreundInnen in Stanley, waren in lokalen Vereinen aktiv, hatten ein schönes Haus mit einem Panoramafenster mit Aussicht aufs Meer.
Der Wohlstand veränderte fast alles. Wenn ein Inselbewohner einen der neuen Höfe kaufte, musste er auf seinem eigenen Land leben, also zog er in der Regel in das bereits vorhandene Aussenhaus für Hirten. Plötzlich waren die Menschen weg, mit denen er jahrelang, vielleicht sein ganzes Leben lang, gelebt hatte, und seine Familie blieb alleine zurück. Die Arbeit auf einem der Höfe konnte jeweils von einem Ehepaar bewältigt werden, vor allem, als man anfing, die Schafe mit Quads statt mit Pferden zu hüten. Die LandarbeiterInnen, die es sich nicht leisten konnten, eine eigene Farm zu übernehmen, zogen entweder nach Stanley oder verliessen die Inseln. Innerhalb von wenigen Jahren hatten sich viele der Siedlungen geleert – es konnte sein, dass an einem Ort, wo einst fünfzig Menschen gelebt hatten, noch vier übrig blieben. Doch im Gegensatz zu früher brauchten die Leute keine NachbarInnen mehr; sie hatten jetzt Geld, und es war einfacher, schnell mit dem Flugzeug nach Stanley zu fliegen. Ständig wurden Produkte aus dem Ausland eingeflogen, sodass man nichts mehr borgen musste, wenn man etwas brauchte.
Auf den neuen Strassen kam man viel schneller voran, konnte also jemanden besuchen, ohne dafür zwei Tage einplanen zu müssen. Das bedeutete auch, dass man auf dem Weg dorthin nicht mehr bei anderen rasten oder übernachten musste. Die Leute hatten sich angewöhnt, vorher anzurufen, um sich zu vergewissern, dass ihr Besuch willkommen war. Viele hörten auch auf, während der Sports Week bei anderen zu übernachten. Sie verliessen vielleicht ihr Haus, um sich ein Rennen anzuschauen, tranken am Nachmittag ein paar Budweiser und fuhren am Abend wieder nach Hause. Bei anderen zu übernachten, war auch eine Zumutung – wer wollte schon eine Nacht auf dem Fussboden verbringen, wenn man in seinem eigenen Bett schlafen konnte? Jedenfalls war die Sports Week nicht mehr so aufregend wie damals, als man einige nur bei dieser Gelegenheit traf. Da nun so viele vorzeitig gingen, schrumpfte die Sports Week auf ein paar Tage, und die nächtlichen Tanzveranstaltungen verschwanden ganz:
Tony: Im Camp gibt es kein soziales Leben mehr.
Ailsa: Früher habe ich immer alle Betten gemacht – die Leute haben oft hier übernachtet. Wir hatten etwa 800 BesucherInnen pro Jahr.
Tony: 1200, in einem Jahr!
Ailsa: Wir kannten uns alle. Tony war fast jedes Wochenende auf der Suche nach jemandem, der sich verirrt hatte oder im Morast stecken geblieben war. Als wir dieses Haus kauften, sagte ich: «Im Lagerraum will ich Haken für zwölf Tassen.» Er sagte: «Wofür zum Teufel brauchst du zwölf Tassen?» Nun, es gab viele Tage, an denen sie alle schmutzig waren, und ich habe sie gewaschen, bevor die nächste Ladung reinkam. Aber sobald die Strasse kam, fuhren die Leute einfach vorbei.
Mit den neuen Telefonen konnte man endlich unter vier Augen mit einem Arzt oder einer Ärztin sprechen, und man gewöhnte sich schnell daran. Jahre später, während der Renovation des Krankenhauses, wurde ein provisorischer Warteraum eingerichtet, mit Fenstern, die von der Strasse aus einsehbar waren, und einige beschwerten sich, es sei unverschämt, dass PassantInnen sie dort sehen könnten und wüssten, dass sie einen Termin hatten. Während es nun einerseits mehr Privatsphäre gab, kamen andererseits Dinge zum Vorschein, über die vorher niemand gesprochen hatte oder die in den abgelegenen Farmhäusern verborgen geblieben waren. Das kleine Gefängnis von Stanley war plötzlich mit älteren Sexualstraftätern überfüllt. Das Krankenhaus konnte es sich nun leisten, in die psychische Gesundheit zu investieren; TherapeutInnen aus Übersee stellten fest, dass unter der Inselbevölkerung Schizophrenie und bipolare Störungen überraschenderweise kaum vorkamen, Alkoholmissbrauch und Depression hingegen häufiger auftraten als üblich.
Einige sagten, dass sie die Falklandinseln früher lieber gehabt hätten, obwohl fast alle sie verspotteten, weil sie sich nach der guten alten Zeit sehnten, als alle arm und unglücklich waren und die Hälfte der Bevölkerung wegzukommen versuchte. «Ich wünschte, es wäre nie passiert», sagt Patrick Watts. «Ich liebte die alten Falklandinseln, so wie sie waren – den netten, entspannten, langsamen Lebensstil, den wir pflegten. Einige konnten das nicht ertragen, also standen sie auf und gingen. Die Bevölkerung war klein, und wir standen uns näher. Vor 1982 waren die Falklandinseln der Ort, an dem ich lebte; jetzt sind sie der Ort, an dem ich arbeite. So ist das für mich.»
Früher kannten die BewohnerInnen von Stanley jede Person, die sie auf der Strasse trafen, und grüssten sie. Natürlich tauchte die eine oder der andere Fremde auf. Patrick Watts hatte seine Frau Sima, eine in Surinam aufgewachsene Niederländerin mit indischen Wurzeln, mit nach Hause gebracht, nachdem er sie bei einem All-you-can-eat-Buffet im Mr. Wu, einem chinesischen Restaurant in London, kennengelernt hatte. Doch früher kamen die Leute einer nach der anderen, also kannte man trotzdem alle. Nun störten die ältere Generation die vielen Fremden, obwohl sie auf der Strasse sowieso niemanden mehr grüssten, denn jetzt hatten alle Autos und niemand ging mehr zu Fuss.
Manche BewohnerInnen klagten, dass die Falklandinseln nicht mehr wiederzuerkennen seien, weil so viele Menschen aus der ganzen Welt hier lebten. Andere hingegen fanden die neue Weltoffenheit aufregend und waren der Meinung, dass diejenigen, die sich beklagten, keine Visionen hätten und wahrscheinlich rassistisch seien, wenn sie sich auf die Zeit vor dem Krieg bezogen, als man die Tatsache, dass die Bevölkerung fast zu hundert Prozent weiss war, als Beweis dafür sah, dass man wirklich britisch war.
Doch neben dieser wohlbekannten Kluft gab es eine weitere Besonderheit der Falklandinseln, verursacht durch das Schreckgespenst des Kriegs: Gemäss der Charta der Vereinten Nationen beanspruchen die BewohnerInnen der Falklandinseln das Recht auf Selbstbestimmung. Die Charta gewährt dieses Recht einem «Volk», aber sie definiert nicht, was das zu bedeuten hat. Was braucht es, um ein Volk zu sein? Wie waren einige Menschen zu einem Volk geworden? War es eine Frage der Zeit? Einer gemeinsamen Kultur? Von Kindern, die hier geboren worden waren? Und gab es einen Punkt, an dem eine Bevölkerungsgruppe so flüchtig und instabil wurde, dass sie weniger einer Gesellschaft als vielmehr einem Flughafen glich? Die InselbewohnerInnen wiesen gerne darauf hin, dass ihre alten Familien schon viel länger auf den Falklandinseln gelebt hatten als viele argentinische Familien in Argentinien – praktisch so lange, wie Argentinien überhaupt ein Land war –, und einige befürchteten, dass dieser Vorteil verloren gehen würde, wenn die Inseln wieder hauptsächlich von Reisenden und VertragsarbeiterInnen aus dem Ausland bewohnt würden.
Menschen waren aus so vielen unterschiedlichen Gründen auf die Falklandinseln gekommen, dass es schwierig war, diese in grösseren nationalen Legenden zu bündeln, die ihnen erklären könnten, wer sie sind. Die meisten der landläufigen Geschichten taugten hier nicht. Die ersten Ankömmlinge hatten das Land nicht erobert oder umgestaltet, hatten keine Bäume entwurzelt und Felder umgepflügt; es gab hier keine Bäume, und die Schafe nahmen das Land so, wie es war. Die BewohnerInnen hatten sich ihrer Kolonialherren entledigt, aber nicht durch eine Revolution; die Kolonialherren selbst hatten sie loswerden wollen. Ein Befreiungskrieg war gewonnen worden, aber nicht von den BewohnerInnen selbst. Ausserdem waren die Inseln, obwohl sie nun über viel Geld verfügten, in vielerlei Hinsicht weiterhin von Grossbritannien abhängig – für medizinische Versorgung, Bildung und Verteidigung, für Fachleute und ExpertInnen. Unabhängigkeit schien unmöglich, zumindest in absehbarer Zeit; der Ort war einfach zu klein dafür.
Die meisten bezeichneten sich nun an erster Stelle als FalkländerInnen und erst an zweiter als BritInnen, aber es war schwer zu sagen, was das bedeutete. Britischsein war leicht zu bezeugen – die Union Jacks, die roten Briefkästen. Symbole genügten, denn alle wussten, was Grossbritannien war, und es gab ohnehin zu viel davon, um es richtig begreifen zu können. Aber was einen Falkländer oder eine Falkländerin ausmachte, war schwieriger zu beschreiben. Die meisten waren entschieden der Meinung, dass die Schafzucht ein wichtiger Teil ihres Erbes sei, aber es lebten nicht mehr viele Leute im Camp. Die Souvenirläden waren voller Pinguine, aber obwohl alle sie mochten, waren sie kein offensichtliches Wappentier. «Wir sind so jung, wir haben keine lange Geschichte», sagt Leona Roberts, ein Mitglied des Legislativrats. «Und es gibt keine indigene Bevölkerung, keine Schnitzereien, die uns erzählen, wer wir sind.»
Bei der Frage, was es bedeute, eine Falkländerin, ein Falkländer zu sein, sprachen die meisten, die auf den Inseln tief verwurzelt waren, über das Überleben in der Isolation und bei schlechtem Wetter; darüber, mit sehr wenig auszukommen; herauszufinden, wie man etwas ohne Anleitung oder die richtigen Teile reparierte; sich gegenseitig zu helfen, weil niemand anderes es tun würde, weil es niemand anderen gab. Das Leben auf den Falklandinseln war vor allem von Armut bestimmt worden, aber nun waren die BewohnerInnen nicht mehr arm. «Als der britische Ölkonzern Premier Oil seinen ersten Bericht zu den ökologischen und sozialen Auswirkungen der Förderung zusammenstellte, sagten die Leute: ‹Wir müssen unsere Lebensweise schützen, wir müssen unsere Lebensweise schützen›», erzählt Mike Summers, der Leiter der Handelskammer. «Und irgendwann in einer Sitzung fragte ich: ‹Was ist das denn?› Es war still. Und ich sagte: ‹Sehen Sie, das Problem ist, dass wir es nicht wissen.›»
Ende März, als die Seuche näher kam und die Flugzeuge nicht mehr landeten, sassen die InselbewohnerInnen wie überall auf der Welt zu Hause, gingen ins Internet und versuchten herauszufinden, was nun passieren würde. Seit Beginn der Seuche waren die Ölpreise stark gefallen und unter den ArbeiterInnen, die auf den Bohrinseln auf engstem Raum zusammenlebten, hatte sich das Virus ausgebreitet, sodass es unwahrscheinlich schien, dass man in absehbarer Zeit mit den Bohrungen beginnen könnte. Seit in Europa die Restaurants geschlossen hatten, war die Nachfrage nach Fisch auf einen Bruchteil des Üblichen eingebrochen, und dazu kam die Möglichkeit, dass die europäischen Zölle wegen des Brexits bis auf zwanzig Prozent ansteigen könnten.
Es war noch nicht klar, was all dies für die Fischerei bedeutete, aber deren Einnahmen machten fast zwei Drittel des Inseleinkommens aus, sodass jede Einbusse massive Auswirkungen haben würde. Der Tourismus war der zweitgrösste Wirtschaftszweig, und dieser bestand fast ausschliesslich aus KreuzfahrtpassagierInnen. Aber wer buchte denn jetzt eine Kreuzfahrt? Und wenn die TouristInnen nicht mehr kämen, würden Restaurants und Hotels schliessen. Ohne einen Job durfte man nicht auf den Falklandinseln bleiben, sodass die Leute, die an diesen Orten arbeiteten und noch keine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung hatten, vielleicht nach Hause gehen müssten.
Was würde passieren, wenn die Flugzeuge nicht mehr regelmässig Güter einflögen? Würden die BewohnerInnen der Inseln wieder abgeschnitten werden und darauf hoffen, dass noch Lieferungen kommen würden, und auf einheimische Lebensmittel angewiesen sein, wenn diese nicht kämen? Früher wurde einmal im Monat Obst mit dem Schiff geliefert – es war schwierig, auf den Inseln etwas anderes als Beeren anzubauen –, und die Leute nannten das Hammelfleisch «365», weil sie es täglich assen, manchmal zu allen drei Mahlzeiten. Könnte das wieder passieren? Würden die Jüngeren, die in Stanley aufgewachsen waren, lernen, Schafe zu schlachten? Vielleicht würden diejenigen, die es vermissten, wie die Falklandinseln früher einmal waren, nun bekommen, was sie wollten:
Ailsa: Ein weiterer Weltkrieg. Der Himmel bewahre, aber er könnte die Welt wieder in Ordnung bringen.
Tony: Die Grenzen für einen Monat dichtmachen.
Ailsa: Wir müssten lernen, aus eigener Kraft zu überleben und ausnahmsweise mal miteinander auszukommen.
Es schien unvermeidbar, dass die Seuche kam. Alle warteten. Seit Wochen hatten einige auf Facebook gefordert, dass die Regierung die Grenzen schliessen sollte, zumindest für die Kreuzfahrtschiffe. Aber die PassagierInnen kamen weiterhin an, liefen durch ganz Stanley und verbreiteten weiss Gott was.
Nun aber, zu Beginn des Herbstes in der südlichen Hemisphäre, war die Tourismussaison vorbei. Es würden keine Kreuzfahrtschiffe mehr kommen, die Gasthäuser und Souvenirläden würden geschlossen bleiben. Weil andere Länder die Grenzen schlossen und Fliegen unsicher geworden war, waren viele Expertinnen und Berater nach Hause gereist. Die ganzjährigen BewohnerInnen der Inseln würden den Winter über wieder auf sich allein gestellt sein. Und wenn Menschen zu sterben begännen, würden alle trauern, weil alle wüssten, wer sie waren.
Dieser Text erschien erstmals unter dem Titel «An Ocean Apart» in der Ausgabe des «New Yorker» für den 6. und den 13. Juli 2020. Aus dem Englischen von Markus Spörndli, Daniela Janser und David Hunziker.
Die Fotografien
Die belgische Fotografin Maroesjka Lavigne hat auf der Suche nach den surrealsten Landschaften schon die halbe Welt bereist. Ihre in diesem Heft abgebildeten Aufnahmen entstanden in Goose Greene, auf Bleaker Island, in Stanley sowie am Volunteer Point.
Was weiter geschah
Die Seuche wurde von den Falklandinseln ferngehalten, und so ist das Leben dieser Tage fast wieder zur Normalität zurückgekehrt. Sogar in Stanley ist selten jemand mit Maske zu sehen. Die Schulen sind offen, ebenso die Bars und das Kino. In den ersten Wochen der Pandemie gab es ein paar wenige Covid-19-Erkrankte auf der Militärbasis, doch diese erholten sich alle, danach kam nichts mehr.
Zwischen April und Ende Oktober wurde auf den Falklandinseln niemand positiv auf Corona getestet. Aber die Inseln sind so isoliert wie lange nicht mehr. Einreisende müssen sich einer strengen Quarantäne unterziehen. Es gibt noch immer keine Flüge nach Chile oder Brasilien, man kann aber mit dem Militärflugzeug wieder nach England fliegen. Seit Beginn der weltweiten Lockdowns ist viel Luftpost auf irgendwelchen Flughäfen gestrandet, sodass nun wieder die Seefracht genutzt wird. Wie früher bringt ein Boot einmal im Monat Bestellungen und andere Waren aus Montevideo.
Die Regierung hat früh entschieden, dass der Tourismus das Risiko nicht wert sei, aber sie hat sich eine Reihe von Massnahmen ausgedacht, um der Branche über die verlorene Saison hinwegzuhelfen. So wurden etwa Tourismusgutscheine im Wert von 600 Franken an jede erwachsene Person und von 300 Franken an jedes Kind verteilt: Möglicherweise wird also in diesem Jahr zwar niemand mehr von aussen auf die Falklandinseln kommen, aber die InselbewohnerInnen selbst werden alte Bauernhäuser für Ferien im Camp mieten. Sie werden zu den Friedhöfen und Schlachtfeldern des Kriegs pilgern und an den Strand fahren, um den Pinguinen dabei zuzusehen, wie sie ins Meer rennen.