Das verborgene Herz der Weltrevolution Auf der Ägäisinsel Ikaria pflegen die Menschen eine ganz eigene Form des Kommunismus.
Etwas blass wirkt die rote Farbe. Einmal muss sie von weitem gut sichtbar gewesen sein – meterhoch prangen an einer Felswand entlang der kurvenreichen Küstenstrasse Hammer und Sichel nebst den Initialen der Kommunistischen Partei Griechenlands: KKE. Deren Einfluss auf Ikaria, der als «roter Felsen» oder «Kuba der Ägäis» bezeichneten griechischen Insel, hielt sich noch hartnäckig, als anderswo die roten Fahnen längst eingeholt und die Lenin-Statuen gestürzt waren.
Doch es wächst auch Kritik an der Partei. Zumindest brach die Wahl des parteilosen Nikos Kalambogias zum Bürgermeister der Insel im Mai 2019 mit einer jahrzehntelangen Tradition: Auf Ikaria hatte seit der Wiederzulassung der KKE nach dem Zusammenbruch des rechten Obristenregimes 1974 die Partei die Bürgermeister gestellt.
Die Insel ist nicht gross, anders als auf den stärker vom Tourismus geprägten Inseln teerte man hier erst in den letzten Jahrzehnten die Strassen, viele davon zieren Schlaglöcher. Etwa zwei Stunden fährt man mit dem Auto oder dem Motorrad vom südwestlichsten Zipfel, an dem das Dorf Karkinagri liegt, bis zum kleinen Flughafen im Nordwesten. Luftlinie liegen sie gerade einmal vierzig Kilometer voneinander entfernt.
Selten Mauern
Sieht man von handgepinselten KKE-Parolen ab, die man gelegentlich am Strassenrand sieht, sind die Unterschiede zum übrigen Griechenland zunächst subtil. Nationalfahnen vor den Häusern gibt es auf der Insel selten. Die Altäre der auch hier allgegenwärtigen orthodoxen Kirchen und Kapellen sind auffällig ungepflegt. SUVs und teure Autos sieht man nur während der Urlaubssaison, wenn diese mit der Fähre vom Festland kommen, dafür häufig alte Karren, die aussehen, als fielen sie gleich auseinander. Auch bauen die Menschen selten Mauern um ihre Grundstücke, höchstens Zäune wegen der Tiere. Szenige Cafés wie im Athener Stadtteil Exarchia sucht man hier vergebens.
Gar nicht so einfach ist es auch, die Feierlichkeiten zum 1. Mai ausfindig zu machen. Handzettel am einen oder anderen Laternenpfahl kündigen eine Kundgebung morgens in der Hafenstadt Evdilos an und eine weitere mittags im zumeist nur «Raches» genannten Bergdorf Christos Rachon, eine örtliche Hochburg der KKE. Doch in den Bars rund um den Hafen von Evdilos weiss niemand etwas von einer Kundgebung. «Der 1. Mai fällt doch dieses Jahr auf einen Sonntag, da bekommen in Griechenland alle am Montag frei», erklärt eine Barfrau. «Die Demonstration findet mit Sicherheit erst morgen statt.» Ein rakischlürfender älterer Herr nickt zustimmend. Den ganzen Tag über Alkohol zu trinken, ist auf der Insel so üblich wie Kettenrauchen und Motorradfahren ohne Helm.
Aus Richtung der Kirche auf dem Hang tönt Musik. Am Strassenrand steht dort eine kleine Menschenmenge, doch es sind keine Kirchgänger:innen. Einige tragen weisse Fahnen mit dem blau-roten Aufdruck der Militanten Arbeiterfront Pame, einer gewerkschaftlichen Vorfeldorganisation der Kommunistischen Partei. Ihre Aufmerksamkeit gilt einem ernst blickenden Mann mit Bart, der neben einem Mahnmal für drei ikarische Opfer der deutschen Besatzungstruppen eine Rede zu deren Gedenken hält. Diese gehörten zu einer Gruppe von 200 politischen Gefangenen aus dem KZ Chaidari, die am 1. Mai 1944 in Athen erschossen wurden. Allein im ikarischen Städtchen Karavostamo sollen während der Besatzung etwa 100 Menschen verhungert sein. Nicht wenige Ikarier:innen flohen während des Krieges ins Ausland. Andere schlossen sich ab 1942 im Norden des Landes den linken Partisan:innen der Griechischen Volksbefreiungsarmee an.
Nach Kranzniederlegungen kommen die Fahnen in bereitstehende Autos, und ein kleiner Konvoi, angeführt von einem Lautsprecherwagen, begibt sich in Richtung des etwa eine halbe Stunde entfernt liegenden Raches, das von einem Kiefernwald umgeben ist. Auf dem Dorfplatz stehen zwischen pittoresken Steinhäusern einige Hundert in der Mehrzahl ältere Menschen. «Die jungen Leute ziehen meist weg von der Insel nach Athen oder ins Ausland zum Arbeiten», erklärt die etwa dreissigjährige Sophia, die in einem Hotel im Nachbarort Armenistis arbeitet. Wie auf der Insel üblich, stellt sie sich nur mit Vornamen vor.
Freistaat Ikaria
Sophia ist in Kanada geboren, doch ihre Eltern kamen aus Ikaria. Von diesen habe sie gelernt, «dass Menschen füreinander da sein müssen». Das komme noch aus vorindustrieller Zeit, als sich die Leute auf der Insel gegenseitig mit dem versorgt hätten, was sie gebraucht hätten – ohne Geld dafür zu nehmen. Ikarier:innen hätten «sich schon immer sozialen und linken Bewegungen angeschlossen», als sie auf der Suche nach Arbeit aufs Festland, nach Amerika, Grossbritannien, Australien oder Deutschland emigriert seien. Den Kommunismus, den «tragen die Menschen hier im Herzen», sagt Sophia. Deshalb sei der 1. Mai auf der Insel auch der wichtigste Feiertag im Jahr.
Aus grossen Lautsprechern dröhnt Volksmusik. Eingeweihte erkennen die Werke des 2021 verstorbenen kommunistischen Komponisten Mikis Theodorakis. «Wissen Sie, dass der einmal hier in Raches gelebt hat?», fragt Sophia. Theodorakis war einer von etwa 13 000 kommunistischen Gefangenen, die die Nationalisten nach ihrem Sieg im Bürgerkrieg Ende der vierziger Jahre auf die Insel verbannten. Damals lebten hier – so wie heute – gerade einmal etwa 8000 Einheimische.
Die Verbannten trafen auf eine Bevölkerung, für die das Teilen des wenigen, das sie besass, normal war und die bereits Widerstandserfahrung hatte, nicht nur aus dem Kampf gegen Nazideutschland. Schon 1912 hatten aufständische Ikarier:innen die osmanische Verwaltung in Agios Kirykos vertrieben und den Freistaat Ikaria proklamiert, bis Griechenland ein halbes Jahr später die Insel annektieren sollte. Auch Formen proletarischer Selbstorganisation kannten die Bewohner:innen bereits. Durch Arbeitsmigration war eine beachtliche globale Diaspora entstanden, deren Organisation, die Pan-Ikarische Bruderschaft, seit ihrer Gründung 1903 in der US-Stadt Philadelphia die Insel mit grosszügigen Spenden beim Bau und Erhalt von Schulen, einer Krankenstation und sogar von Häfen unterstützt hatte. Unschwer nachvollziehbar, warum bei der Inselbevölkerung die Botschaft von den Proletarier:innen, die «eine Welt zu gewinnen haben», gut ankam.
Raches gehörte zu den Gemeinden, wo die Einheimischen die Verbannten trotz eines geltenden Kontaktverbots aufnahmen und mit ihnen hausgemachten Wein teilten, wie ein Zeitzeuge in einem Youtube-Video berichtet. Wen die Gendarmen dabei erwischten, dem drohte Folter. Doch dank der vielen Wälder und der unübersichtlichen kleinen Täler ohne befestigte Strassen liess sich das Verbot schlecht durchsetzen. Etwa 1950 verteilte die Regierung die Verbannten auf andere Inseln, viele von ihnen kamen auf die berüchtigte, karge und baumlose Gefängnisinsel Makronisos in den westlichen Kykladen, wo die Überwachung weit besser funktionierte.
In den Reden auf der 1.-Mai-Kundgebung auf dem Dorfplatz von Raches geht es eher um gegenwärtige Probleme: die Arbeitslosigkeit und die enorm gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise. «Wegen der vielen Älteren hier geht es auch viel um Renten und die gestiegenen Preise für die Fähren», sagt Sophia – für die meisten ernsteren gesundheitlichen Probleme müssen die Bewohner:innen zum Spital auf der Nachbarinsel Samos fahren. Wegen der schlechten gesundheitlichen Versorgung verliessen viele ältere Leute während der Covid-19-Pandemie ihre Häuser kaum. Viele sagen, der 1. Mai sei seit zwei Jahren die erste öffentliche Veranstaltung, die sie besuchten.
Wie eine rechte Partei
Auch der Krieg in der Ukraine ist auf der Kundgebung ein wichtiges Thema – und war man zuvor noch von der Herzlichkeit der Teilnehmer:innen ganz eingenommen, so begegnet einem nun ein Teil der KKE, der programmatisch im Kalten Krieg stecken geblieben ist. Damals unterstützten die USA die griechische Rechte, der Ostblock hingegen die KKE. Die Partei verurteilt den Krieg gegen die Ukraine als einen «imperialistischen Krieg», doch im Grunde hält man «die Nato» in gewohnter Manier für den eigentlichen Aggressor. Wegen der «Umzingelung Russlands» und der «Unterstützung für das faschistische Asow-Regime in der Ukraine», wie ein Parteimitglied aus Raches an der Kundgebung sagt. Waffenlieferungen an die Ukraine, die deren Regierung zur Selbstverteidigung fordert, lehnt die Partei ab.
Im Nachbarort Stavlos zündet sich die 87-jährige Schriftstellerin Theodosia Plakida eine Zigarette an und steigt ohne Umschweife in die weltpolitischen Fragen ein. «Wie stehen Sie denn als Linker zu Putin und seinem Angriffskrieg?», will Plakida wissen, die seit jeher alle «Sosa» nennen. Mit ihren Katzen bewohnt sie ein kleines Steinhaus unweit eines naturgeschützten Eichenwalds in der Mitte der Insel. Früher wohnten hier drei Generationen unter einem Dach. Plakida kommt aus einer kommunistischen Arbeiter:innenfamilie. Während des Zweiten Weltkriegs floh sie mit ihrer Mutter und drei Geschwistern, von denen eins die Flucht nicht überlebte, über Syrien nach Belgisch-Kongo, um inmitten des anschliessenden Bürgerkriegs zurückzukehren. Ihre Erinnerungen an diese Zeit veröffentlichte sie später unter dem Namen Sosa Mberni.
«Ich fühle und fühlte mich immer schon links und fortschrittlich», sagt Plakida, «aber die Art und Weise, wie die Kommunistische Partei heutzutage ist, repräsentiert mich nicht.» Die KKE verhalte sich wie eine rechte Partei. Tatsächlich stimmte die KKE 2015 im griechischen Parlament zusammen mit der extremen Rechten gegen die Einführung eingetragener gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Plakida wählt die KKE nicht, was aber nicht bedeute, dass sie «mit der Idee des Kommunismus» nicht einverstanden sei. Mit dieser Position ist sie nicht allein, so manche aus den kommunistischen Familien empfinden die KKE inzwischen als rückständig und autoritär.
Rosé aus Plastikflaschen
«Die Menschen hier auf der Insel», sagt Plakida, «sind nicht wegen der KKE so egalitär – das ist vor allem den Frauen zu verdanken.» In Zeiten, in denen es in ganz Griechenland – man könnte hinzufügen: im gesamten Mittelmeerraum – völlig unüblich war, dass Frauen in den Kaffeehäusern, den «Kafenioa», sassen und rauchten, sei Ikaria eine Ausnahme gewesen. Das sei ihr schon als junge Frau aufgefallen, als sie in Athen gelebt habe, bevor sie für neun Jahre nach Deutschland gegangen sei, um bei Siemens in München zu arbeiten.
In der verlassenen Klosteranlage Mavrianou an der baumlosen, kargen Westküste der Insel, etwa eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von Raches entfernt, haben sich im Anschluss an die 1.-Mai-Kundgebung vielleicht hundert Menschen zu einem Panagiri eingefunden. Die Älteren tragen in der Regel Arbeitskleidung. Die Jüngeren sehen aus wie Autonome aus Exarchia: Tätowierungen, sportliche Kleidung, manchmal punkige Frisuren, Bärte bei den Männern. Auch Kinder sind dabei. Hinter dem Kloster stehen drei mächtige Grills, auf denen mehrere Männer Ziegenfleisch braten. Einer von ihnen ist braun gebrannt, hat mächtige muskulöse Arme und einen blonden Vollbart – so stellt man sich Odysseus aus Homers Epos vor. Zum Grillfleisch gibt es hausgemachten Rosé aus Plastikflaschen, den man auf der Insel noch herstellt wie in der Antike.
Panagiria sind einfache Dorffeste, die auf den griechischen Inseln seit vorindustriellen Zeiten ein fester Bestandteil des Zusammenlebens sind. Zu den Namenstagen von Heiligen wird vor den ihnen gewidmeten Kirchen bis spät in die Nacht getafelt und getanzt. «Diese Feste erfüllen aber noch einen anderen wichtigen Zweck», erklärt die Anwältin Irini Mavrogiorgi, die mit ihrem Partner, dem Feuerwehrmann Filippos, und ihren Kindern gekommen ist. Das Besondere an diesem Panagiri: Es findet nicht an einem religiösen Festtag statt, sondern ist ein «kommunistisches Panagiri» zum 1. Mai. Man zahlt für sein Essen den Organisator:innen einen Betrag, den diese für einen sozialen Zweck verwenden, für die Erneuerung einer Strasse beispielsweise.
Die Liebe zum Wein und zur «alten Lebensweise» verbindet die Menschen auf der Insel vielleicht noch stärker als die KKE. «Wir sind aber schon noch die stärkste Partei hier», sagt Mavrogiorgi. Die anderen Parteien, auch die linke Syriza, hätten sich bei der letzten Bürgermeisterwahl gegen den Kandidaten der KKE zusammengetan, nur darum habe der Gegenkandidat gewonnen. Mavrogiorgi war fünf Jahre für die Partei im Gemeinderat, auch wenn sie kein Parteimitglied ist.
«Man hat uns immer vorgeworfen, wir hätten aus der Insel nichts gemacht, so wie die touristischen Inseln», sagt Mavrogiorgi. «Aber unser Ziel ist es gewesen, den Lebensstandard der Menschen zu verbessern.» Auf der sehr touristischen Insel Mykonos lebten «die Arbeiter in Favelas». Auf Ikaria hingegen habe man Bedürftigen Land gegeben und in Gemeinschaftsarbeit Häuser gebaut sowie das natürliche Habitat der Insel und die traditionelle Lebensweise, wo sie gut war, erhalten. Das geschah allerdings nicht ganz freiwillig – die jeweiligen Regierungen in Athen liessen den Linken auf der Insel jahrelang keine Ressourcen zukommen, weshalb der Tourismus hier erst in den neunziger Jahren in einer vergleichsweise milden Form einsetzte. Die Insel bereisen auch weniger deutsche oder Schweizer Urlauber:innen, eher Angehörige der ikarischen Diaspora, von denen sich einige hier Ferienhäuser errichtet haben.
Was war eigentlich während der Pandemie, als keine Panagiria stattfinden konnten? «Das war ein Problem», sagt Mavrogiorgi. Besonders fehle es an Geld für eine wichtige politische Kampagne: Die Mytilineos Group mit Sitz in Athen plant, auf Ikaria 111 riesige Windräder zu errichten, was die meisten auf der Insel gern verhindern würden. Dank eines Gesetzes, das die Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis 2020 während des Lockdowns verabschiedete, dürfen solche Windparks nun auch in Naturschutzgebieten wie dem Eichenwald von Ikaria gebaut werden. Der Charakter und das Ökosystem der Insel seien bedroht, sagt Mavrogiorgi. Die Anwältin argumentiert, das Gesetz sei auf der Insel gar nicht anwendbar. Es gelte noch ein eigenes Bodengesetz aus der Zeit, als Ikaria sich 1912 unabhängig erklärte.
Keine Sorgen, körperliche Arbeit
Eine halbe Stunde Fahrt von Mavrianou entfernt liegt Karkinagri. Dort lässt sich heutzutage noch am besten die von Plakida erwähnte ikarische «Kafenio»-Kultur beobachten. Obwohl seit einem knappen Jahrzehnt eine Teerstrasse dorthin führt, wirkt das unterhalb mächtiger Felswände liegende Dorf mit seinem kleinen Fischerhafen abgelegen. «Komm, ich geb einen aus», sagt der 91-jährige Apostolis zum wiederholten Mal, während er sich eine Zigarette dreht. Auf seinem Tisch steht ein grosses Glas Tsipouro, ein dem Ouzo ähnlicher lokaler Schnaps, aber ohne Anis. «Das Geheimnis des langen Lebens: keine Sorgen haben und körperliche Arbeit», erklärt er, darauf angesprochen, dass es vor ein paar Jahren einen regelrechten Hype um die Insel gab, weil Forscher:innen festgestellt hatten, dass auf Ikaria viele Menschen mehr als hundert Jahre alt werden.
Wie viele Männer hier im Dorf arbeitete Apostolis im Ausland, als Schlosser und Werkzeugbauer, oder er heuerte auf Schiffen an. Sein Tischnachbar trägt einen weissen Bart und ein «New York Giants»-Shirt. Er ist gerade aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn zurückgekommen. Abseits sitzt ein Mitglied der KKE, seinen Namen will der Mann lieber nicht in der Zeitung sehen. Er hatte schon einmal Ärger, wegen eines kubanischen Visums, das seit seinem Brigadeeinsatz auf Kuba in seinem Pass steht. «Weisst du, was das grösste Problem meiner Partei auf dieser Insel ist?», fragt er. Lenin habe gesagt, Kommunisten bräuchten eine eiserne Disziplin. «Das kannst du mit den Leuten hier vergessen.»
Andererseits, möchte man entgegnen, ist es vielleicht gerade die inseleigene Gelassenheit, die den ikarischen Herzenskommunismus ausmacht.