25 Jahre Dayton-Abkommen: «Ein dynamischer Zeitpunkt für das Land»

Nr. 48 –

Mit dem Friedensabkommen von Dayton wurde das heutige Bosnien-Herzegowina begründet. Obwohl die Verfassung ein Denken in ethnischen Kategorien fördert, sieht der Politologe Vedran Dzihic Anzeichen für einen Aufbruch.

Schon lange wiederaufgebaut: Die im November 1993 von der kroatischen Armee zerstörte Brücke von Mostar im heutigen Bosnien-Herzegowina. Foto: Denis Zuberi, Getty

WOZ: Herr Dzihic, in einem kürzlich publizierten Artikel zitieren Sie einen bosnischen Witz, der besagt, dass Covid-19 in Bosnien-Herzegowina keine Chance habe …
Vedran Dzihic: … weil die bosnischen Politiker es zuerst in drei ethnische Coronaviren aufteilen würden, um es dann in der alltäglichen politischen Praxis derart zu zermürben, dass es am Ende aufgibt und keine Gefahr mehr darstellt.

Ist das ein zutreffendes Bild für die aktuelle bosnische Politik?
Ja, leider. Das Land ist in zwei Entitäten aufgeteilt und innerhalb der Föderation von Bosnien und Herzegowina noch einmal in zehn Kantone gegliedert. Es gibt sehr viele Regierungs- und Entscheidungsebenen und eine unendliche Anzahl an Ministern, Stellvertretern und Institutionen. Diese scheinbare Pluralität wirkt aber wie ein Bremsklotz, wenn es um effizientes Regieren geht. Die dominanten politischen Eliten der Bosniaken, der Kroaten und der Serben haben sich das zunutze gemacht und erschweren die Suche nach Kompromissen mit ihrer nationalistischen Rhetorik.

Diese Probleme existieren ja bereits seit der Staatsgründung – in keinem Artikel über Bosnien dürfen Adjektive wie «unregierbar» und «dysfunktional» fehlen. Hat sich in den letzten 25 Jahren also gar nichts verändert?
An der grundlegenden Struktur, die 1995 geschaffen wurde, hat sich tatsächlich nicht viel verändert. Das ethnonationale Prinzip wurde in der Verfassung festgeschrieben und hat sich in der politischen Praxis verselbstständigt. Ganz statisch war die jüngere Geschichte Bosniens trotzdem nicht: Die letzten 25 Jahre lassen sich grob in drei verschiedene Phasen einteilen. Beim zehnjährigen Jubiläum des Friedensabkommens von Dayton herrschte aufseiten der internationalen Staatengemeinschaft noch ein ziemlicher Enthusiasmus vor. Man verstand das Abkommen als pragmatischen Schritt, der notwendig war, um den Krieg zu stoppen. Es herrschte ein naiver Glaube an die heilenden Kräfte der Demokratie.

Und darauf folgte die Ernüchterung?
Genau. In den folgenden zehn Jahren schwand das Interesse der EU und der internationalen Staatengemeinschaft; 2005 scheiterte ein grosses Verfassungsänderungspaket, und darauf folgte die Weltfinanzkrise, die Bosnien ebenfalls stark traf. Das Wirtschaftswachstum, von dem man glaubte, dass es nach dem Krieg automatisch da sein würde, brach ein, die Arbeitslosenzahlen stiegen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kam es zu einer Rückkehr eingespielter Formen der Ethnopolitik. Grosse bosnische, kroatische und serbische Parteien agitieren die Bevölkerung vordergründig entlang ethnischer Unterscheidungen. Der Krieg und die eigene Opferrolle werden instrumentalisiert, um daraus einen Herrschaftsanspruch abzuleiten, und jede Gruppe versucht, die Institutionen entweder zu beherrschen oder zu blockieren, wenn sie nicht im eigenen Sinn arbeiten.

Und was hat sich in den letzten fünf Jahren getan? Es gab in den vergangenen Jahren ja durchaus auch Widerstand gegen diese Form der Politik.
Bei den Überschwemmungen von 2014 haben sich über ethnische Grenzen hinweg Formen der Solidarität gezeigt. Und auch die Proteste in jener Zeit haben die Hoffnung geweckt, dass es zu einer längerfristigen Bewegung kommt. Während des sogenannten bosnischen Frühlings 2014 stand man gegen die miserablen Lebensbedingungen, die Ignoranz und die Korruption der Mächtigen auf. Es bildeten sich im ganzen Land Bürgerversammlungen, an denen endlich frei über die zentralen Probleme im Land diskutiert werden konnte. Aber die Eliten sassen die Proteste erfolgreich aus und haben sich seither nicht gross bewegt. Auch der Einfluss der EU ist weiterhin sehr schwach. Kurz: An den Rahmenbedingungen hat sich nichts geändert.

Das Bild, das Sie da zeichnen, ist kein besonders hoffnungsvolles.
Wenn man sich die Arbeitslosen- und Armutszahlen, die Höhe der Einkommen oder wie es um Gleichberechtigung steht, anschaut, ist die Lage schon sehr prekär. Viele der grossen Probleme, gerade im Bereich der Umweltpolitik, können mit diesem partikulären Denken – «wir Serben», «wir Kroaten», «wir Bosniaken» – ganz offensichtlich nicht gelöst werden. Mittlerweile gibt es aber Parteien, die fernab vom ethnischen Paradigma politisieren und Fragen der sozialen Gleichheit, der Gleichberechtigung und der gemeinsamen Interessen behandeln. Ein Beispiel ist Naša Stranka (Unsere Partei), die gegen Ethnopolitik, Korruption und Ignoranz kämpft.

Hat sie damit Erfolg?
Durchaus. In den Lokalwahlen vom 15. November konnte die Partei in Sarajevo wichtige Erfolge feiern. In der Republika Srpska, vor allem in Banja Luka, wurde ausserdem der starke Mann der Serben in Bosnien, Milorad Dodik, mit Stimmenverlusten bestraft. Es ist ein dynamischer Zeitpunkt für Bosnien und Herzegowina: Abgesehen vom Dayton-Jubiläum zeigt die EU wieder mehr Interesse an der Region – und auch der neu gewählte Präsident der USA könnte in Bosnien einiges ins Rollen bringen.

Welche Hoffnungen werden von bosnischer Seite in eine US-Regierung unter Joe Biden gesetzt?
Joe Biden war in den neunziger Jahren Senator und reiste während des Kriegs nach Bosnien. Er setzte sich damals sehr stark ein, insbesondere für die Bosniaken, die er als Opfer betrachtete. In einem Gespräch mit dem britischen Premierminister Boris Johnson hat Biden kürzlich angedeutet, dass der Westbalkan ein Schwerpunkt seiner Regierung werden solle. Für die USA geht es auch ein Stück weit um eine historische Verpflichtung, aufgrund der zentralen Rolle, die sie bei der Aushandlung des Vertrags spielten. Bei vielen ist die Hoffnung gross, dass die Regierung Biden nochmals mit der Vorschlaghammermethode Veränderungen durchsetzt.

Noch einmal zurück zum Witz mit den ethnischen Coronaviren: Wie hat sich denn die bosnische Regierung im Umgang mit der Pandemie geschlagen?
Zwar waren die Ansteckungszahlen in Bosnien nicht so alarmierend wie in manch anderem europäischen Land, aber sie lagen in den vergangenen Wochen ebenfalls auf einem hohen Niveau. Gleichzeitig ist die Ausstattung des Gesundheitswesens natürlich viel schlechter als in Westeuropa. Die Regierung versucht inzwischen auch, mit neuen Massnahmen entgegenzusteuern – bisher jedoch eher zaghaft. Jeder Lockdown und jedes Abschneiden der Handelsströme trifft Staaten wie Bosnien überproportional hart. Während vom Staat nicht viel Unterstützung kam, sprangen Bürgernetzwerke, Freiwillige und viele Einzelpersonen ein, um einander Hilfe zu leisten.

Vedran Dzihic, Politologe

Vedran Dzihic (44) forscht als Politologe am Österreichischen Institut für Internationale Politik, unterrichtet an der Universität Wien und leitet das Center of Advanced Studies Southeastern Europe an der Universität Rijeka. Dzihic ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen und aktiv in der Politikberatung. Er ist Mitglied einer ExpertInnengruppe, die ökonomische, soziale und politische Trends auf dem Balkan erforscht.

Krieg und Frieden in Bosnien : Von Srebrenica bis Dayton

Im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens kam es in den neunziger Jahren zu einer Reihe bewaffneter Konflikte zwischen der jugoslawischen Volksarmee und sich als ethnisch verschieden definierenden Gruppen. Einer dieser Konflikte, der Bosnienkrieg, der sich in den Jahren 1992 bis 1995 auf dem Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina abspielte, kostete mehr als 100 000 Menschen das Leben. Alle drei Kriegsparteien, die bosniakischen, die kroatischen und die serbischen BosnierInnen, verübten im Zuge «ethnischer Säuberungen» Kriegsverbrechen. Internationale Beachtung fand insbesondere das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, bei dem unter Anwesenheit von UN-Friedenstruppen innerhalb weniger Tage etwa 8000 muslimische BosniakInnen, vor allem Knaben und Männer, ermordet wurden.

Die anschliessenden Friedensverhandlungen kamen nur unter massivem Druck der internationalen Gemeinschaft zustande. Unter der Leitung der USA verhandelten Vertreter der Konfliktparteien vom 1. bis 21. November in Dayton, Ohio, über Anerkennung und Verlauf territorialer Grenzen und die Ausgestaltung des künftigen Zusammenlebens. Der am 14. Dezember in Paris unterzeichnete Vertrag enthält nebst den detaillierten Ausführungsbestimmungen zum Friedensabkommen auch die Verfassung des Staates Bosnien und Herzegowina. Der neu geschaffene, föderative Staat ist in zwei Territorien, die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina, unterteilt. Dazwischen liegt der unabhängige und selbstverwaltete Bezirk Brcko, und bis heute überwacht ein von der Uno eingesetzter Hoher Repräsentant die Umsetzung des Dayton-Abkommens. Ebenfalls seit 1995 sind internationale Truppen in Bosnien stationiert. Das Abkommen von Dayton hat zwar den Krieg beendet, schrieb aber die der Kriegslogik entsprechende Teilung in die drei sogenannten konstituierenden Völker fest.

Ayse Turcan