Standpunkt: «Sing, Vögelchen, sing!»

Nr. 51 –

Die Corona der Schöpfung – oder nur ausgepresste Zitronen im Dienst der Gesellschaft? Wutrede einer Sängerin zu Musik und Macht in der Pandemie.

Sandra Werner

Bravo, bravo, bravo – gerne ergötzen sich distinguierte Familien, herausragende Politiker, intelligente CEOs und eingefleischte Musikliebhaber am hohen C sowie Décolleté der Diva und applaudieren dem brillanten Orchester. Musik, wahrlich die Krone der Schöpfung. Musiker oder Sängerin zu sein – ein echter Traumberuf! Seien Sie ehrlich: Auch Sie möchten insgeheim Tenor oder Primadonna sein.

Dass es dazu mehr braucht, als fünf Minuten pro Tag zu üben, wissen die wenigsten. Die Realität einer Berufung als MusikerIn und die romantischen Vorstellungen der meisten Menschen über unser Leben klaffen grob auseinander. Wir sind hart arbeitende Menschen und Manager im Dienste der Gesellschaft – als Musiker, Musiklehrerin und Konzertveranstalter verantwortlich für die seelische Gesundheit unserer Mitmenschen. Die Liebe zur Musik und die Intuition, dass es keine wertvollere Alternative im Leben gibt, als seine Kräfte unentwegt in die Kunst zu investieren, hat uns dazu gebracht, kompromiss- und pensionskassenlos diesen für uns einzigen Weg einzuschlagen. Wie kommt es, dass man unsere Spezies zwar von Ferne verehrt, insgeheim beneidet und regelmässig verkonsumiert, aber trotzdem nicht als systemrelevant einschätzt?

Wie kommt es, dass Sie, liebe Buchhalterinnen, Politiker und normale Bürgerinnen, von uns denken, wir könnten nicht einmal eine Quittung termingerecht ausstellen? Wir würden uns auf Fingerschnippen für ein paar Noten hingeben, nur weil unsere Uniform verlangt, dass wir grosszügig Haut zeigen und der Beruf von uns fordert, vor Publikum jegliche Scheu und Scham zu verlieren? Wir sollten, obwohl Gast an Ihrer Hochzeit, auf Knopfdruck noch schnell «Sing, Vögelchen, sing!» spielen?

Wie kommt es, dass automatisch angenommen wird, dass wir Geld hinterziehen, nur weil wir uns beschweren, dass die Coronaunterstützung so lächerlich klein ausgefallen ist? In Wahrheit würde jeder vernünftige Excel-Spezialist bei der Bank das Toilettenpapier von den Steuern abziehen, falls es ihm nur möglich wäre. Wenn wir freischaffenden Musikerinnen das täten, bliebe immer noch nur ein Einkommen übrig, für das sich in unserem Land nicht einmal Tellerwäscher ihre Hände schmutzig machen dürfen.

Die Realität ist: Der Bund verbietet öffentliche Konzerte und der Gemeinderat verlangt eine zwölfseitige Konzerteingabe plus Abfall-, Lärm- und Coronakonzept für eine Stunde Musik im Freien. Kein Manager der Welt würde für ein selbstorganisiertes Konzert Hunderte von Stunden in Training und Formulare investieren, bei einem zu erwartenden Return von höchstens 500 Franken. Nur weil wir MusikerInnen sind, wird angenommen, dass wir nicht rechnen können. Dass wir Linksgewickelten sowieso nicht ganz zurechnungsfähig sind. Dass es uns Spass macht, uns zugunsten der Gesellschaft und aus Leidenschaft für die Musik für ein paar achtlos hingeworfene Krümel die letzte Energie aus den Stimmbändern saugen zu lassen.

Fazit: Die höhere Gesellschaft und die narzisstische Politik hält uns für empathische Märtyrer! Alles sollen wir opfern für ein Leben in Ruhm und Ehre ohne Fallschirm: unser Selbst, unsere Schaffenskraft, die Pensionskasse, jegliche Sicherheiten. Uns einem Leben hingeben ohne die Gewissheit, dass wir vor, in oder nach Coronazeiten eine Familie ernähren können oder von einer Bank jemals als kreditwürdig eingestuft werden. Auspressen, diese selbstständigen Kulturzitronen, bis kein Tropfen mehr in diesen völlig verrückten Individualisten mehr drin ist! Wir MusikerInnen haben sauer-saftige Anekdoten. Sagt doch ein Gast nach einem Konzert zu mir: Sie sind ein richtiger Sopran. Die züchtige Sängerin erklärt dem Mann die Stimmkategorien – der Mann aber deutet genüsslich auf die Körbchengrösse.

Allzu gerne wüssten Sie, liebe Fans, noch mehr intime Details über unsere Leben. Sie glauben zu erahnen, dass unsere Gedanken um die Hingabe an die Kunst kreisen. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Unter MusikerInnen gibt es im Moment nur die allerbanalsten Themen: Essen – Wohnen – Sicherheit. Also unterste Stufen des Menschseins. Wir befinden uns in allerhöchster Gefahr, in einem Alarmzustand von nie gekanntem Ausmass: Nicht Kulturprojekte, sondern Existenzängste beherrschen unser Leben.

Wie viel ist Ihnen die Spitze der Maslowschen Pyramide, die Corona der Schöpfung, die Musik- und Kulturvielfalt in der Schweiz wert? Was sind Sie bereit, aktiv zu tun, um zu verhindern, dass diese Spitze des Menschseins, – die Verwirklichung des Selbst, die bedingungslose Hingabe an die Intuition – wegschmilzt? Wie wollen Sie eine Revolte dieser aussterbenden Spezies vermeiden, die massgeblich an der Erhaltung der psychischen Volksgesundheit beteiligt ist und jetzt zuschauen muss, wie die eigene Kulturvielfalt saftlos verwelkt und isolierte Chormitglieder in Depression und Angst versinken?

Überbrückungskredite können sich die meisten KünstlerInnen leider nicht leisten, obwohl für eine halbe Million gerade mal ein A4-Formular nötig wäre, die Überweisung prompt erfolgt und keiner das Däumchen auf Rückzahlungsraten legt. Um eventuell, vielleicht sogar, möglicherweise an Kulturnothilfe zu gelangen, müssen wir Sängerinnen beim Graben nach den verlangten Zahlen von 2015 das schlotternde Konzertkleid bis weit über die Knie hochziehen. Was wäre, wenn wir hochspezialisierten, jahrelang studierten, bilanzgewohnten Musiker, Sängerinnen, Schauspieler, Tänzerinnen und Kulturschaffenden uns allen eine kurze Umschulung als BuchhalterInnen gönnen würden, damit wir beim Kontrollieren Ihrer Steuererklärung endlich ein Auskommen mit regelmässigem Einkommen fänden?

Wer wird Sie, verehrtes Publikum, dann daran erinnern, dass die Menschen nur Seelen mit Körpern zu Besuch auf Erden sind? Wer wird Ihnen durch die Macht der Musik, berückende Klänge und sinnliche Melodien die göttliche Wahrheit über Ihr irdisches Dasein in die Glieder hauchen, in Ihnen Gefühle für die Essenz der tiefsten Liebe erwecken und Sie mit der Ewigkeit in Verbindung bringen?

Sandra Werner hat am Konservatorium in Sydney Operngesang studiert und ist heute freischaffende Sängerin und Gesangslehrerin.