Ein Traum der Welt: Auftakt in Argentinien

Nr. 1 –

Annette Hug lässt sich von Taschentüchern begeistern

Zwei Tage vor Jahresende hat der argentinische Senat einem Gesetz zugestimmt, das eine Abtreibung bis in die 14. Schwangerschaftswoche erlaubt. «Stell dir vor: ein Saal voller Dinosaurier», sagt Marina Porcelli, Schriftstellerin, von Bildschirm zu Bildschirm. In Buenos Aires aufgewachsen, lebt sie nach Jahren in Mexiko-Stadt und einer kurzen Zeit in Schanghai wieder dort.

2018 hat sie über den vorletzten Anlauf zu einer argentinischen Fristenlösung geschrieben, über den Weg zu einer Demo: «Es ist Mittag, der Zug ist praktisch leer. Auf der Höhe von Ciudadela steigen drei Teenager zu: Sie sind nicht älter als fünfzehn, tragen verknotete Taschentücher an ihren Rucksäcken, ihre Augenlider sind grün bemalt, und ihre Armbänder glitzern. Sie suchen einen Platz, schauen einander an. Die mit dem Pony weist auf meine Handtasche und sagt: ‹Sie hat auch ein Taschentuch›, und so setzen sie sich in meine Nähe.»

Die grünen Tücher mit dem Signet der Bewegung sind Erkennungszeichen. Mich erinnern sie an Foulards, die eine Schweizer Gewerkschaft 2011 für einen Frauenstreikversuch produziert hat, der wenig Echo fand. Die argentinischen «pañuelos» werden aber kaum um den Hals getragen. Auch nicht um den Kopf, obwohl sie gewählt wurden, um an die Kopftücher der Mütter der Plaza de Mayo zu erinnern. An jene Frauen also, die seit Jahrzehnten Aufklärung darüber verlangen, wo die Kinder von linken Gefangenen sind, die während der Diktatur von Militärs geraubt und zur Adoption freigegeben wurden.

Heute werde das Tuch am ehesten ums Handgelenk gewickelt, sagt Marina. Das ist auch auf den zahlreichen Youtube-Videos der Demonstrationen zu sehen: Choreografien, Performances, deutlich queere Versammlungen. Nur die eine Szene, die Marina am meisten beeindruckt hat, finde ich auf keinem Clip. Am 10. Dezember, als das Repräsentantenhaus das Abtreibungsgesetz beriet, näherte sie sich zu Fuss dem Parlament, und je näher sie kam, desto mehr Schülerinnen sah sie, die in Seitenstrassen Fussball spielten. Alle hatten irgendwo das grüne Tuch angeknotet. Als würde sich die Demonstration in die Stadt ausbreiten und den Mädchen die Strassen freigeben. Natürlich habe das alles vor langer Zeit begonnen. 1986, als zum ersten Mal ein nationales Frauentreffen zum 8. März stattfand. Drei Jahre nach dem Ende der Diktatur.

Einige, die wohl damals schon dabei waren, sind auch heute in den Massen auszumachen. Von 200 auf 200 000 sei die Bewegung angewachsen, sagt Marina, die sich jahrelang an Frauenmorden und weiterer Gewalt abgearbeitet hat. Einige ihrer Texte sind rabiate Hymnen auf einen sexuellen Appetit, der sich davon nicht bremsen lässt. «Und stell dir vor: Jetzt müssen diese jungen Frauen nicht mehr Angst haben vor einer verpfuschten Abtreibung, dass sie im Spital landen und dann vom Arzt an die Polizei ausgeliefert werden.» Das hätte sie mit ihren vierzig Jahren nicht mehr für möglich gehalten.

Dieser Sieg gehöre den Jungen. Und sie freut sich daran, dass der Begriff des «Dinosauriers» nicht mehr für Militärs verwendet wird, sondern für konservative Senatoren. Auch das Wort «pañuelo» findet neue Bedeutungen. «El mundo es un pañuelo» heisst auf Spanisch: «Die Welt ist klein.» Für einen Moment ist sie ein grünes Taschentuch.

Annette Hug ist Autorin und liest schlecht Spanisch, aber für Kurzgeschichten von Marina Porcelli nimmt sie langes Nachschlagen in Kauf. Zu finden sind sie auf dem AutorInnenportal www.narrativargenta.wordpress.com.