Debatte: Hey Dude, was ist dein Problem?
Der Rapper Tommy Vercetti warf in der letzten WOZ die Frage auf: Hat die Linke ein Kunstproblem? Die Schriftstellerin Simone Meier gibt zurück. Und rät, der Welt unerschrocken ins Auge zu blicken.
Ein Mann aus Bern hat hier einen Text geschrieben. Darüber, dass die Linke der Kultur zunehmend mit den zusammengeklemmten Füdlibacken der politischen Korrektheit begegne und zunehmend auch so Kultur mache, weshalb immer öfter nur laue Luft dabei herauskomme und nichts, was wirklich laut wahrnehmbar in die Welt hinauströten würde.
Ich nenne selten einen Mann Dude, aber diesen hier schon, denn er ist Rapper und tritt auch so auf, also selbstbewusst und mit leicht bekleideten Frauen in einem Musikvideo, nein, nicht mit Prostituierten, aber zum Beispiel mit einer Balletttänzerin, was historisch gesehen allerdings keinen grossen Unterschied macht. Er sieht aus wie das Lovechild von Stress und Benjamin von Stuckrad-Barre, was natürlich eine äusserst unqualifizierte Bemerkung ist, denn wenn ein Mann über eine Frau schreiben würde, dass sie aussieht wie das Lovechild von Big Zis und Sibylle Berg, würde ich laut «Sexismus!» schreien, weil ich ja schliesslich eine Linke und Feministin und Lesbe und überhaupt eine diskriminierungssensitive Person bin. Nein, würde ich nicht, ich fände es ziemlich lustig.
Gegen die Musik des Dudes habe ich übrigens rein gar nichts einzuwenden, dafür rappt er viel zu schön über die Liebe, und wenn er dann auch noch das Cole-Porter-Sample von The Prodigy sampelt, bin ich schon fast Fan.
Lebenslang hinter Gitter?
Aber was ist denn eigentlich «die Linke», die er in seinem Text allenthalben ins Feld führt? Wird sie von ein paar zu Recht aufgebrachten Transaktivist*innen verkörpert, die J. K. Rowling kritisieren? Sind es die von Harvey Weinstein missbrauchten Schauspielerinnen, die #MeToo neu lancierten? Sind das Linke? Oder sind das einfach Frauen, deren Karrieren vom strukturellen Sexismus gebrochen wurden und die sich jetzt endlich gemeinsam erheben? Sind es die apokalyptischen Reiterinnen des «herrischen Reitpeitschen-Diktats der linken Woke- und Cancel-Culture», die Roger Köppel in seinen schlimmsten Träumen heimsuchen? Oder ist die Linke gar Twitter und hat Donald Trump gerade um das Recht auf freie Meinungsäusserung gebracht? Und gibt es innerhalb der Linken eine Konsensdiktatur? Quatsch.
Auch innerhalb der «Linken» gibt es öfter Opportunist*innen als Kompromissbereite – und Differenzen, die sich nicht beilegen lassen. Nehmen wir zum Beispiel Roman Polanski. Ein Fall, der für mich unlösbar ist. Ich liebe seine Filme. Sie sind aufregend, spannend, mal komisch, mal sexy und immer grosse Unterhaltungskunst. Aber ich bin Feministin. Und Polanski hat 1977 eine Minderjährige missbraucht.
Ich verurteile seine Tat. Aber er wurde seinerseits dafür verurteilt. Sass seine Strafe ab, wurde aus dem Gefängnis entlassen. Dann beschloss ein antisemitischer Jurist, den Fall wieder aufzurollen, woraufhin Polanski floh. Doch er hat gebüsst. Daran halte ich mich. Denn woran sollte ich mich halten, wenn nicht an das Recht?
Ein Freund von mir sieht das anders, er hat eine kleine Tochter und findet, dass einer wie Polanski lebenslang hinter Gitter gehöre. Wer von uns hat jetzt recht? Der kompromisslose Vater oder die kompromissbereite Feministin? Das sind unlösbare Fragen, die auf beiden Seiten zu Selbstbefragungen führen, denen man sich aussetzen muss und die manchmal höllisch unbequem sind.
Und wenn wir schon bei der Rezeption von nicht in allem einwandfreier Kunst sind: Liebt «die Linke» den Film «Die göttliche Ordnung» weniger, weil die Frau von Alice Weidel dort als Produktionsleiterin mitwirkte? Nein, denn Petra Volpes Film ist tatsächlich, was Frau Weidels Partei nicht ist, nämlich systemrelevant. Oder würde «die Linke» Oskar Freysingers Lyrik abfeiern, wenn ihr Autor kein Rechter wäre? Nein, denn Freysingers Lyrik ist schlicht schlecht. Verse wie die folgenden sind sich doch selbst peinlich: «Die Garde ist ein Häuflein bloss, doch Pflicht und Dienst machen sie gross, wacht sie doch für die Ewigkeit über das Herz der Christenheit.» (Aus: Oskar Freysinger, «Die Schweizer Garde».)
Und was geschieht eigentlich, wenn sich «die Linke» ans Reissbrett der Kunstproduktion setzt? Laut dem Dude aus Bern könnte man meinen, dass sie dort kleinliche Milchbüchleinrechnungen anstellt, nach einem Regelwerk, das irgendwo zwischen Bertolt Brecht, Simone de Beauvoir, Frantz Fanon und Judith Butler angesetzt ist. Nun kann ich zwar sagen, dass ich als Mensch durchaus, gerne und bewusst in einer Bubble der ähnlich Gesinnten lebe. Man nennt das auch Safe Space. Dort, wo man gut aufgehoben ist. Als Journalistin versuche ich, den Müll der Welt so sachlich wie möglich in brauchbar und unbrauchbar zu trennen.
Aber als Schriftstellerin fühle ich mich verpflichtet, der Welt ins Auge zu blicken und Figuren zu entwerfen, mit denen ich privat keinen Umgang pflegen würde. Mit ihnen einen Weg zu gehen und sie zu lieben. Den Mann etwa, der Züge eines Incels trägt. Das junge Paar, das weit konservativere Träume hat, als ich sie gut finde. Den alternden Schauspieler, der ein sexistischer Sack ist.
Wieso ich das tue? Weil ich mir in der Fiktion, also dort, wo ich mir eigentlich jeden Wunsch nach einer idealen Welt erfüllen könnte, verbiete, es mir in meiner linken, feministischen Rechtschaffenheit zu bequem zu machen. Denn das wäre langweilig. Und Kunst darf nicht langweilen. Kunst muss brennen oder schreien oder beflügeln oder auch einfach einen Moment lang mit denen, die ihr begegnen, Liebe machen. Wenn ich den Dude aus Bern, der übrigens einen Namen hat und Tommy Vercetti heisst, richtig verstanden habe, sitzen wir da im selben Boot.
Selbstverständlich privilegiert
Und während wir da im Grunde einträchtig nebeneinander dahinschippern, frage ich: Vercetti, was ist eigentlich dein Problem? Ist es vielleicht, dass du gerade deine sehr lange sehr selbstverständliche, privilegierte weisse Dudeness von allzu vielen Seiten her infrage gestellt siehst? Von Seiten, die dir überhaupt nicht unsympathisch, aber in ihrer harten Kritik und penetranten Fragerei schon latent lästig sind? Sorry, das zählt nicht. Du weisst ja, alle anderen, die Frauen, Schwulen, Lesben, Transmenschen, die Milliarden der People of Color kamen ohne deine Privilegien zur Welt und kämpfen dafür. Ihre Aneignung deiner Privilegien kommt einem Akt von Appropriationskunst gleich. Und der Weg einer solchen Aneignung ist nie nur gerade. Er ist gegabelt, gekrümmt, voller Schotter, geht manchmal durch einen Sumpf und ist nur selten geteert.
Man kann jetzt auch nicht einfach tolerant scheinen und den Universalismus ausrufen wollen, denn diese «anderen» kommen nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern schleppen Tonnen von Geschichte und Geschichten mit sich, die von unterschiedlicher Schwere sind und die oft nichts miteinander zu tun haben. Doch alle anderen sind die Vielfalt und die Mehrheit von morgen. Und ihre Kunst ist es ebenso.
Dürfen darf Kunst immer alles. Ihre, deine, meine. Aber der Selbstbefragung dahinter und den Fragen, die von aussen kommen, muss sie sich aussetzen. Auch wenn es wehtut.
Essay «‹Ich plädiere für gröbsten Opportunismus: Ich fühle es, also tanze ich dazu!›» von Tommy Vercetti in WOZ Nr. 2/2021 .
Die Autorin
Simone Meier ist Kulturredaktorin beim Onlineportal «Watson» und Schriftstellerin.
Ihr neuer Roman, «Reiz», erscheint am 16. Februar im Verlag Kein & Aber. Er kreist um die Frage, wie Liebe und Sexualität das Leben einer reifen Frau und eines sehr jungen Mannes prägen.
Meiers frühere Romane «Kuss» (2019) und «Fleisch» (2017) sind weiterhin im Buchhandel erhältlich.