Tourismus: Menschenleere Paradiese

Nr. 3 –

Der Preis für die rekordtiefen Coronafallzahlen in Südostasien ist hoch: Mit dem Massentourismus implodierten in vielen Ländern die Wirtschaftskreisläufe. Manche versuchen, darin eine Chance für die Region zu sehen. Ein Augenschein in Kambodscha.

Die Ticketeinnahmen sind seit vergangenem März um mehr als 95 Prozent eingebrochen: Teil des Bayon-Tempels in Angkor Thom. Foto: Beatrice Geistlich

Würden sie ihn nicht bereits kennen und wären es normale Zeiten, hätten die EinwohnerInnen von Siem Reap Daniel Müller wohl für einen Touristen gehalten. An diesem sonnigen Mittwochvormittag im Dezember sitzt der 35-Jährige aus dem zürcherischen Rüti in einem Café unweit der Flaniermeile des kambodschanischen Städtchens und geniesst sein Frühstück.

Direkt gegenüber sieht das Provinzkrankenhaus genauso verschlafen aus wie der Rest des Stadtkerns: Seit Beginn der Pandemie gab es bloss eine Handvoll Infektionsfälle hier, alle bislang Erkrankten sind längst wieder gesund. Dennoch sind praktisch keine TouristInnen da, Müller ist der einzige Kunde im Lokal. Ein Rikschafahrer, der vor dem Café vergeblich auf Klientel wartet, lächelt apathisch. Er scheint zu ahnen, dass der Schweizer keine Fahrt brauchen wird.

Mit weniger als 150 000 EinwohnerInnen hat Siem Reap freilich noch nie zu den Metropolen Südostasiens gehört. Doch weil der historische Tempelkomplex von Angkor in unmittelbarer Nähe liegt, hat die Siedlung seit den 1990ern jährlich etwa das Zwanzigfache ihrer Bevölkerungszahl an TouristInnen angezogen. Die im 12. Jahrhundert errichteten Sakralbauten, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören, sind nicht nur Eckpfeiler moderner kambodschanischer Geschichtsschreibung und Identitätsbildung – bis vor kurzem waren sie auch eine wesentliche Einnahmequelle. Für den Staat, aber auch für unzählige grosse und kleine Geschäfte, die von der lokalen Bevölkerung betrieben werden – oder von Zugewanderten wie Daniel Müller.

Kein Corona, keine Gäste

2013 kam der gelernte Kaufmann zunächst als Besucher hierher, beschloss dann aber kurz darauf, bei einer hiesigen Reiseagentur zu arbeiten. Später übernahm er diese von seinem Vorgänger, ebenfalls ein Schweizer. «Unser Angebot war sehr spezialisiert», sagt Müller, «wir arbeiteten mit kleinen europäischen Reisebüros zusammen und boten massgeschneiderte Pakete, die Kambodscha und die Nachbarländer abdeckten.» Vielleicht 1500 Menschen habe man in normalen Jahren hergebracht, meist Individualreisende aus der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden. «Mit nur fünf Angestellten liess sich schon eine ganze Menge organisieren, weil wir halt vor Ort sind und diese Gegend sehr gut kennen», erklärt Müller.

Seit Mitte März letzten Jahres stellt Kambodscha allerdings keine TouristInnenvisa mehr aus. Die Regierung entschied sich, ähnlich wie etwa jene Thailands oder Vietnams, für sehr strenge Einreisebedingungen, die bis heute in Kraft sind. Man will die Zahl der «Importfälle» minimieren. Vor dem Hintergrund eines eher rudimentären Gesundheitssystems, das schon vor der Pandemie nicht nur von ausländischen Ansässigen, sondern auch von der kambodschanischen Mittelschicht gemieden wurde, scheint die Entscheidung durchaus vernünftig. «Wäre ich der Ministerpräsident gewesen, hätte ich wahrscheinlich ähnlich agiert», sagt Müller.

Der Preis dafür war allerdings sehr hoch, zunächst für die Tourismusindustrie, dann aber auch für sämtliche anderen Branchen, die damit verbunden sind. Daniel Müllers Agentur musste ihre Tätigkeit vor Ort einstellen. Bis Ende des Jahres erhielten die Angestellten noch Ausgleichszahlungen, seither ist aber völlig unklar, wann und in welcher Form die Arbeit wieder aufgenommen werden kann. Müllers frühere Buchhalterin verkauft jetzt gebratene Ente am Strassenrand, und Müller selbst beschloss, im Frühjahr mit seiner Familie in die Schweiz zurückzukehren – «mit einer schwarzen Null auf dem Konto», wie er mit einem Lachen sagt.

Wenn möglich umsatteln

Rund fünf Kilometer vom Stadtkern entfernt steht das imposante, mit Naga-Drachen und anderen historischen Motiven verzierte Ticketbüro des Archäologischen Parks Angkor leer. Wer einen kambodschanischen Pass hat, muss traditionsgemäss nichts für den Tempelbesuch zahlen; Eintrittsgelder (aktuell rund 33 Franken) werden nur von ausländischen Reisenden verlangt. Solche kommen derzeit so selten vorbei, dass ihre Anwesenheit fast schon als Tagesereignis gilt. Konnte das staatliche Ticketbüro Angkor Enterprise 2018 noch fast hundert Millionen US-Dollar einnehmen, so sind die Einkünfte seit März 2020 um über 95 Prozent eingebrochen.

Zu Beginn der Krise hatte die Regierung noch gehofft, dass sich zumindest die KambodschanerInnen zu mehr Heimaturlaub würden animieren lassen. Das erwies sich als Illusion, zumal die südostasiatischen Grenzschliessungen erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und damit auf die Privathaushalte hatten. Darauf reagierten die Behörden mit ambitionierten Renovationsplänen, in deren Rahmen unter anderem das Strassennetz der Provinz ausgebaut und die Tourismusinfrastruktur im archäologischen Park selbst verbessert werden sollten. So wurden in den letzten Monaten etwa neue Gehwege zu den bekanntesten Tempeln von Angkor gebaut, doch weil kaum BesucherInnen da sind, wirkt es bislang dennoch so, als wäre die Ruinenstadt nach ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert jüngst ein zweites Mal sich selbst überlassen worden.

Für Khemrin Haen, der fast zwanzig Jahre lang als Rikschafahrer in Siem Reap arbeitete, hat das einschneidende Konsequenzen. «Bis März hatte ich täglich zwei kleine Reisegruppen auf Tour und konnte so mindestens fünfzehn Dollar am Tag verdienen», erzählt der Vierzigjährige, der im Dorf Pralay wohnt, eine halbe Stunde von den Tempeln entfernt. «Das war freilich nicht viel, aber genug, um meine drei Kinder ernähren zu können, die im Schulalter sind», sagt Haen. Für den Rest des Jahres blieben die Buchungen aus, es kamen weder kambodschanische noch ausländische Gäste. «Ich mache jetzt lieber weiter mit dem Hühnerzüchten, das war schon früher mein zweites Standbein», sagt Haen. «Eier wird man wohl weiterhin essen, Pandemie hin oder her.»

Ähnlich sieht Sophoan Dam, eine 31-jährige Unternehmerin aus Siem Reap, die Lage. Sie betreibt mehrere Geschäfte in der Stadt, darunter ein Restaurant, ein Nagelstudio und eine Sprachschule. Leute aus der internationalen Community, die sich hier niedergelassen haben, können dort Khmer lernen. «Wir sind alle sehr betroffen; ohne Tourismus ist diese kleine Stadt einfach tot», sagt Dam. Nichts gehe mehr, seit die Grenzen geschlossen sind. Dam sagt aber auch: «Das heisst nicht, dass wir unbedingt weiter eine Art Tropenparadies mit billigem Bier sein wollen.» Die Unternehmerin zieht in Betracht, zumindest einen Teil ihrer Geschäfte in die Hauptstadt Phnom Penh umzusiedeln, weil dort die Expat-Community grösser und beständiger sei. Und auch die kambodschanische Mittelschicht, die sich Restaurantbesuche leisten kann, sei dort besser vertreten.

«Einer unserer Fehler war ganz klar, dass wir jahrelang die lokale Klientel vernachlässigt und uns stattdessen nur auf Durchreisende konzentriert haben», gibt Dean Williams zu. Der gebürtige Neuseeländer ist eine weitere Figur der hiesigen Gastroszene; sein Lokal im stilvollen Ambiente eines historischen Händlerhauses gilt als eine der besten Adressen für chinesische Spezialitäten in der Stadt. «Es ist ja nicht so, dass die Kambodschanerinnen und Kambodschaner nichts mit unseren Gerichten anfangen könnten, im Gegenteil», sagt Williams. Stattdessen habe man aber einzig die TouristInnen im Blick gehabt und alles nach ihnen ausgerichtet. «Erst jetzt verstehen wir, wie wenig nachhaltig diese Stadt funktioniert hat und wie sehr wir selbst in unserer kleinen Bubble die Gefahr dieser massiven Tourismusabhängigkeit unterschätzt haben», sagt Williams.

Tatsächlich zeigt die Krise, wie verheerend sich die Grenzschliessungen auswirken – nicht nur für Siem Reap, sondern für die ganze Region. Selbst wenn Kambodscha, Thailand und Vietnam die Pandemie bislang ziemlich gut eindämmen konnten und im internationalen Vergleich tiefe Fallzahlen aufweisen, hatten die plötzlichen strengen Einreisebedingungen und -kontrollen sowie die Quarantänebestimmungen einschneidende wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen. Fast ein Fünftel der Bruttonationaleinkommen in der Region machte der Tourismus aus; hinzu kamen ganze Ketten damit verbundener Dienstleistungs-, Lieferungs- und Importzweige sowie etliche Unternehmen und selbstständig Erwerbstätige, deren Existenzen eng mit dem Grenzverkehr verknüpft waren. Weil die sozialen Systeme der betroffenen Länder diesen Namen kaum verdienen, müssen die Menschen allein mit der Krise klarkommen.

Weg von billig-billig?

Wird alles wieder wie vorher, sobald die Krise überstanden ist? Dirk de Graafen glaubt nicht daran. Der Niederländer betreibt sowohl in Siem Reap als auch in Phnom Penh ein Boutique-Hotel. «Selbst wenn die Menschen überall geimpft werden, was wohl allein schon aus logistischen Gründen ziemlich lange dauern wird, halte ich eine Rückkehr zum Massentourismus für unwahrscheinlich», sagt de Graafen. Und auch nicht unbedingt für wünschenswert, fügt er an: Schon vorher habe es zu viele Hotels gegeben, vor allem in Siem Reap. Und zu viele Restaurants, die alle das Gleiche angeboten hätten: «Das gleiche Frühstück mit Eiern und Schinken überall, und es gab schlechthin zu viel Tourismus für ein so kleines Städtchen», sagt der Hotelier. Er erwartet, dass in der Welt nach der Pandemie weniger gereist werde. Dass die Menschen dafür länger an einem Ort bleiben und besondere Erfahrungen suchen werden. «Das heisst, dass wir uns alle auf eine Klientel einstellen müssen, die wählerisch und immer stärker an Nachhaltigkeit und am sozialen Kontext interessiert ist», sagt de Graafen.

In den wenigen Geschäften, die seit März in Siem Reap noch geöffnet haben, werden Qualität und Alleinstellungsmerkmale hochgehalten – im «Muffin Man» etwa, einem kleinen Laden, der US-amerikanische Leckereien anbietet, sorgfältig und mit viel Liebe zum Detail hergestellt. Der 29-jährige Inhaber Dam Dieng kommt aus sehr einfachen Verhältnissen und arbeitete eine Zeit lang auf einer Bananenplantage in Thailand, um die Gebühren für sein Tourismus- und Gastronomiestudium aufbringen zu können. «Meine Englischlehrerin brachte mich auf die Idee, der Krise zu trotzen und diese kleine Handwerksbäckerei zu gründen. Letzten Monat war es so weit», sagt Dieng. Es laufe erstaunlich gut. Bei den KambodschanerInnen ist der Laden sehr beliebt – während viele Cafés entlang der «Pub Street», der Touristenmeile auf der anderen Flussseite, ihre Türen längst verriegelt haben.

«Es sind Zeiten, in denen man kreativ sein muss», sagt Dam Dieng. «Vielleicht ist das unsere Chance, nicht immer nur auf billig-billig zu setzen.»