Kost und Logis : Mehr als alte Häuser

Nr.  4 –

Karin Hoffsten hat sich im Ort ihrer Jugend umgesehen

Wegfahren geht ja nicht. Also machte ich kürzlich einen virtuellen Streifzug durch die saarländische Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, eines von den 27 Sulzbachs, die es in Deutschland gibt. 2018 dokumentierte ein (anonymer) Fotograf Sulzbachs Entwicklung im Architekturforum Architectura Pro Homine. Das heisst «Architektur für den Menschen», die mir damals dort sicher nicht auffiel.

Der wichtigste Wirtschaftszweig im Saarland war der Steinkohlebergbau, der ab den sechziger Jahren in die Krise geriet und schliesslich ganz eingestellt wurde. Meine Erinnerung prägen Kohlehalden, verschmutzte Luft, russgeschwärzte und durch Grubensenkungen abgesackte Häuser, viele an Lungenkrankheiten leidende Bergleute. Und das, was fast alle Teenager aus Kleinstädten und Dörfern nervt: dass man nur in der nächstgrösseren Stadt «richtig» ausgehen kann, in meinem Fall Saarbrücken, und wenn man den letzten Bus verpasst, neun Kilometer nach Hause läuft oder bis fünf Uhr früh wartet.

Die Fotos locken mich auf eine Zeitreise, denn sie zeigen seit Jahrzehnten Unverändertes neben Neuem und wecken bei mir sehr persönliche Erinnerungen. Der Weg beginnt beim Bahnhof, den die Deutsche Bahn lange verkommen liess, der Treppenabgang zur Unterführung und die alte Bahnhofshalle sind unverändert; sofort sehe ich mich, die Pendelschülerin, völlig übermüdet morgens um sieben zum Gleis und noch müder am frühen Nachmittag zurückschlurfen.

Beim Anblick des alten Gymnasiums, das meine Brüder besuchten, fällt mir wieder ein, warum ich überhaupt Pendelschülerin war: weil ich als Mädchen dort nicht zur Schule gehen durfte. Das änderte sich erst nach meinem Abitur. Und das Bild der früheren Volksschule verursacht bei mir Beklemmungen. Ich ging nicht gerne hin.

Die katholische Kirche habe ich als reformiert erzogenes Kind nie betreten. Beim Foto vom Eingang fällt mir wieder ein, wie ich dort zwanzig Minuten auf meine katholische Freundin wartete, die zur Beichte gegangen war. Unser «Herr Pfarrer» hatte mich gesehen und donnerte mich tags darauf an, ob ich jetzt katholisch werden wolle. Auch «eine Reihe von ansehnlichen Bürgerhäusern» ortet der Fotograf, es sind jetzt renovierte Jugendstilhäuser, die ich nicht wahrnahm, als ich noch mit Freundinnen kichernd zum Eiscafé Venezia in der Hauptstrasse ging und vieles nur hässlich fand.

Ähnlich wie das Ruhrgebiet hat die Strukturkrise das Saarland schwer getroffen. Es sehe dort an manchen Stellen so heruntergekommen aus wie in den neuen Bundesländern nach der Wende, heisst es in Kommentaren. Sulzbach/Saar wurde 1346 erstmals urkundlich erwähnt, im Dreissigjährigen Krieg verwüstet, ab 1728 wieder besiedelt und industrialisiert, 1946 wurde es zur Stadt. Heute ist der namensgebende Sulzbach renaturiert, und einige wunderschön renovierte Gebäude aus dem 18. Jahrhundert werden öffentlich genutzt. So endet der Rundgang versöhnlich.

Karin Hoffsten lebt gern in der Schweiz, findet es aber sehr schade, dass im saarländischen «Tatort» seit Jahren kaum noch Dialekt zu hören ist.