Zu Besuch bei den «Gruebe-Buebe»: Manchmal möchten sie nach Hause

Nr. 27 –

Jugendliche, die als «schwer erziehbar» gelten, wurden früher oft aus ihrem Umfeld entfernt. Im Schulheim Ried in Niederwangen bei Bern erprobt man neue Wege. Aber was bedeutet das konkret für die Betroffenen? – Pascal, Beni und Carlo erzählen, wie sie die Kurve kriegen wollen.

Bahnhof Niederwangen, kurz vor 8 Uhr morgens. Die S-Bahn hält, Druckluft zischt, die Türen öffnen sich. Unter den Leuten, die aus dem Vorortszug steigen, ist auch der fünfzehnjährige Pascal*. Er ist auf dem Weg ins nahe gelegene Schulheim Ried. Ein schmaler Bahnsteig führt zu einer Treppe. Rechter Hand Lärmschutzwände, durch deren Plexiglasfenster man die Autobahn erahnt. Den Berner Vorort erfüllt ein gedämpftes Dauerrauschen. Links die Hauptstrasse, die von Ein- und Mehrfamilienhäusern, einem Einkaufszentrum und Gewerbekomplexen gesäumt ist. Es ist nicht ländlich hier, es ist nicht städtisch, es ist Agglo.

Pascal setzt sich auf die Treppe und wartet auf seine Kumpels aus den anderen Wohngruppen des Schulheims. Diese kurze Pause vor Schulbeginn geniesst er. «Ich bin an der frischen Luft und habe noch etwas Zeit für mich», sagt er.

Der gross gewachsene, muskulöse Jugendliche mit den feinen Gesichtszügen ist froh, dass er nicht mehr am alten, abgelegenen Standort des Wohnheims oben in der Nähe des Waldes leben und zur Schule gehen muss.

Vor zehn Jahren hiess die Institution noch «Knabenheim auf der Grube», im Dorf nannte man die Heimbewohner die «Gruebe-Buebe».

Anfang 2012 hat das Schulheim Ried Räume in einem Gebäude nahe des Bahnhofs Niederwangen bezogen. Die einzelnen Wohngruppen wurden nach und nach an neue Orte in der Nähe von Bern verlegt. Nach wie vor sind die Klienten ausschliesslich männlich.

«Es ist jetzt angenehmer, nicht mehr alles zusammengedrängt», sagt Pascal. «Früher stand ich auf, Morgenessen, Schule, Mittagessen, wieder Schule, Znacht, alles im gleichen Haus.» Nun wohnt er in einer Wohngruppe in Bern-Gümligen. «Endlich nicht mehr den blöden Hang runter- und später wieder rauflaufen, wenn ich in den Ausgang gehe.»

«Jetzt wirds gäng besser»

Im Gespräch wirkt der Jugendliche im ärmellosen T-Shirt und den weiten Hosen konzentriert. Auch wenn er sich nicht immer ganz sicher ist, in welchem Jahr genau er welche Schule besucht hat. Es waren viele Stationen, und fast überall eckte Pascal an. Auch vor rund drei Jahren in der Steiner-Schule fühlte er sich unwohl, wollte bloss weg und stellte sich quer. «Ich habe ständig blöd getan, bis ich von der Schule flog.» Die Schulbehörden veranlassten eine Auszeit. Eine solche Auszeit verbringen Jugendliche meistens auf einem Bauernhof. «Ich dachte: toll, lieber das als die blöde Schule.» Aber statt in einem Landwirtschaftsbetrieb konnte Pascal bei einem Bekannten seines Vaters arbeiten, in dessen Werkstatt. Pascal gefiel es dort: anpacken, werken, schleppen. Seither sei ihm noch klarer geworden, dass er einen handwerklichen Beruf erlernen wolle.

Nach der Auszeit ging es in die Abklärungsschule. «Hier fühlte ich mich wohl und bekam gute Noten, weil das Klima gut war.» Seine nächste Station war das Schulheim Ried. «Am Anfang war es schwierig, aber dann habe ich den Sinn erkannt, und jetzt wirds gäng besser.» Auch, weil hier nicht gleich alles von vornherein abgelehnt werde. «Ich bin etwas speziell», sagt Pascal, «manchmal brauche ich Musik zum Schaffen, sonst geht gar nichts.» Wenn er das wolle, müsse er fragen – manchmal dürfe er, manchmal nicht. «Wenn du gewisse Freiheiten hast und du kannst diskutieren und verhandeln, dann macht es mehr Spass.»

Weshalb er im Heim gelandet ist, darauf weiss Pascal keine eindeutige Antwort. «Es ist mir aber auch egal, ich muss sowieso hier sein.» Er kenne seine Macken. Habe er den Anschiss, vertrödele er den ganzen Tag. «Daran kann ich arbeiten. Aber es bringt mir nichts, wenn ich jetzt weiss, ich bin wegen der Familienverhältnisse hier oder wegen schlechter schulischer Leistungen.» Mitleid wolle er nicht, und er bemitleide sich auch nicht selbst. «Ich habe genug erlebt. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben.»

Pascal findet, dass er sich im Schulheim recht gut anstelle. «Ich bin einigermassen anständig, erledige meistens mein Zeugs und komme in der Regel pünktlich vom Ausgang zurück.» Schlägereien gehe er möglichst aus dem Weg. Daher habe er insgesamt viele Freiheiten. «Es ist besser fürs Klima, dann hast du nicht immer Streit mit den Sozialarbeitern.»

Mit den anderen Jungs in der Wohngruppe verstehe er sich ziemlich gut, sagt er. Wer Schwierigkeiten in der Familie habe, habe es nicht einfach in der Schule – und umgekehrt. «Und wenn es richtig läuft und nicht jeder nur für sich schaut, kann man einander helfen.»

Ende Juli komme er hier raus, sagt Pascal. Er hat eine Lehrstelle in Aussicht. Metallbauer will er werden, in der Werkstätte arbeiten und auf Montage gehen. Wie sich das anfühlt, weiss Pascal vom Schnuppern in der Firma, bei der er im Herbst die Lehre beginnen will. «Den Chef kannst du fragen, wenn du etwas nicht weisst. Er ist hilfsbereit und erklärt es dir. So lerne ich am besten.» Und wenn er Freude habe an der Arbeit, dann werde es auch mit der Berufsschule klappen, ist Pascal überzeugt.

«Diese Frau war super organisiert»

Kurz vor neun Uhr morgens. Pascal und seine Kollegen sitzen an ihren Plätzen und bereiten sich auf die Englischprüfung vor. Die Sonne rückt selbst architektonische Sünden in ein mildes Licht. Eines dieser ästhetisch fragwürdigen, aber durchaus funktionalen Gebäude ist das Schulheim Ried. Beim Eintreten dringt der Geruch frischer Farbe und unlängst verleimter Spannteppiche in die Nase. Rechts der Empfangsraum und links – die Tür steht offen – ein grosses, helles Konferenzzimmer, das noch recht klinisch wirkt. Hier muss sich das Leben erst noch einnisten. Kaum Gebrauchsspuren am Inventar, kein Fleck auf dem Teppich und nicht mal feinste Kratzer an der Wand. Im ersten Stock befinden sich die Schulräume, auch hier stehen die Türen offen. Eine Mutter ist auf Schulbesuch und bespricht gerade etwas mit einer Lehrerin.

Die Eltern mit einzubeziehen, ist Heimleiter Bernhard Kuonen und seinem Team sehr wichtig. «Wir treten gegenüber den Eltern nicht als Experten auf, sondern suchen die Zusammenarbeit», sagt Kuonen. «Wenn es zum Beispiel um Sanktionen geht, ruft die Klassenlehrkraft die Eltern an und fragt, was diese vorschlagen.» Damit seien die Eltern gefordert und ihre elterliche Kompetenz gefragt. Bei kleineren Kindern kochen die Eltern auch mal in der Wohngruppe. Wie jene afrikanische Mutter, deren Sohn sich im Wohnheim darüber beklagte, dass ihm das Essen nicht schmecke. «Wir luden die Mutter ein, hier zu kochen», sagt Bernhard Kuonen. Das Bild einiger SozialpädagogInnen von einer Frau, die kein Deutsch könne und nicht kooperativ sei, wurde dadurch revidiert. «Diese Frau war superorganisiert, brachte sämtliche Zutaten mit und bereitete ein Essen zu, das allen schmeckte.» Das wirkte auch bei Jugendlichen, die zuvor gern Sprüche wie «Fick deine Mutter» oder «Deine Mutter ist eine schwarze Nutte» von sich gaben – sie bekamen ein ganz anderes Bild.

Die Ressourcen der Kinder und Jugendlichen, ihrer Eltern und ihres sozialen Umfelds nutzen und alle zu einer aktiven Zusammenarbeit bewegen – das ist ein wichtiges Element der Sozialraumorientierung (vgl. «Keine Sonderwelten für ‹auffällige› Menschen» ). Der Wille der KlientInnen steht dabei im Vordergrund, die Angebote sollen flexibel und bedarfsgerecht sein. Bernhard Kuonen nimmt noch einmal das Beispiel der afrikanischen Mutter auf: Diese arbeite am Freitagabend und könne ihren Sohn deshalb nicht wie die meisten anderen Eltern mit nach Hause nehmen. «Am Mittwoch aber hat sie frei. Also schauen wir, dass ihr Kind dann bei ihr sein kann.» Nun ist der Mittwochabend auch der einzige Termin, an dem diese Mutter ihre beste Freundin treffen könne. «Die Schule möchte aber am Donnerstag keinen übermüdeten Schüler betreuen. Statt der Mutter nahezulegen, schon um halb neun die Wohnung ihrer Freundin zu verlassen, schauen wir, dass das Kind dort übernachten kann. Das sei ein Prozess, und nicht alle Mitarbeitenden könnten solche Situationen gleich gut handhaben – «aber wir arbeiten daran».

Das Ziel ist, die Kinder und Jugendlichen nur so lange wie nötig im Heim zu belassen und sie möglichst bald wieder in die Regelschule zu integrieren oder sie bei der Lehrstellensuche zu unterstützen. Wo immer sinnvoll, sollten die Jungs wieder nach Hause zurück.

Dass die ehemaligen «Gruebe-Buebe» jetzt auf ihrem Schulweg für die Menschen im Dorf sichtbar sind, ist ebenfalls Teil der Neuorientierung im Schulheim Ried. Die Jugendlichen sind nicht mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, sie sind dort präsent. Das Leben in den Wohngruppen in Stadtnähe vereinfacht zudem ihren Kontakt mit den Eltern und dem sozialen Umfeld. Diese Nähe erleichtert auch die angestrebte aktive Mitarbeit und Mitgestaltung von Eltern und Bekannten.

«Ich muss einfach Vorschläge machen»

Beni* ist elf Jahre alt und besucht die sechste Klasse im Schulheim Ried. Er ist einer, der es genau wissen will. «Für welche Zeitung arbeiten Sie?», fragt er. «Wo erscheint sie? Gibt es die auch in Bern?» Nachdem er sich ungefähr vorstellen kann, mit wem er es zu tun hat, lässt er sich befragen. Seine Antworten kommen nicht schnell, dafür überlegt. Einen eigenen Schulweg zu haben, findet er «irgendwie schon besser, aber wenn man die Turnschuhe oder das Schulheft vergessen hat, dann ist es blöd».

Die frisch renovierte Schule gefällt Beni. Ein knappes Jahr sei er jetzt im Ried. Vorher, in der öffentlichen Schule, sei es nicht mehr gegangen, «wegen dem Schulstoff und so». Er sei «einen rechten Schritt» hinter den andern zurückgeblieben. «In Mathe war ich weit zurück, und obwohl ich dann aufgeholt habe, hat es mit der Lehrerin nicht mehr geklappt.» Ihm sei klar geworden, dass er nicht weiter in diese Schule gehen könne.

Nach einer Schnupperwoche im Ried fragte man ihn, ob er bleiben wolle. Weil es ihm eigentlich gut gefiel, stimmte er zu. «Blöderweise!», sagt Beni rückblickend, «denn jetzt würde ich lieber zu Hause sein, weil es dort sehr gut läuft.» Eine persönliche Ideallösung hält er auch gleich parat: «Als Externer hier zur Schule gehen und zu Hause schlafen. Schade, dass es das hier nicht gibt.»

So geht Beni momentan jeden Samstag nach Hause zu seiner Mutter, und alle zwei Wochen verbringt er das ganze Wochenende dort. «Ich frage manchmal, ob ich am Samstagmorgen schon früher gehen und vielleicht auch etwas später ins Heim zurückkommen darf. Und dann sagen sie, sie schauen und entscheiden dann. Ich muss einfach Vorschläge machen.»

Beni kommt hier besser voran als in der öffentlichen Schule. Denn im Schulheim sind die Klassen kleiner, und zwei Lehrpersonen unterrichten eine Klasse.

Das Problem hier sei, sagt Beni, dass er auch mit seinen Mitschülern zusammenwohne. Wenn er mit einem «es Gschtürm» habe, dann weite sich das nachher oft auf die ganze Gruppe aus und gehe auch am Abend weiter. «Früher konnte ich nach einem Streit in der Schule einfach nach Hause, und die Sache war vergessen.»

Gelegentlich hilft Beni in seiner freien Zeit in einem nahe gelegenen Restaurant aus. «Das ist für mich wie eine Auszeit vom Heim.»

Wenn er jetzt einen Beruf wählen sollte, würde sich Beni für eine Kellnerlehre entscheiden. «Obwohl ich gerne werke, kann ich mir nicht vorstellen, Schreiner zu werden.»

Hätte er das Sagen im Schulheim, würde Beni zuerst einmal die Kinder fragen, mit welchen SozialpädagogInnen sie absolut nicht zurechtkämen. Die würde er dann entlassen. «Es bringt ja nichts, wenn einer, den alle hassen, bleibt. Weil es ihm ja dann selber auch schlecht geht.»

Beni hört sehr gerne Musik. Idole habe er keine, er höre einfach gerne Rap und Techno. Sido, Gimma, Bligg, 50 Cent oder Snoop Dog, um nur einige zu nennen. «Ich spielte eine Zeitlang Schlagzeug, habe aber aufgehört, weil das Geld nicht gereicht hat für die Stunden.»

«Die Lehrer sind nicht dumm»

Carlo* ist vierzehn Jahre alt. Er wirkt abgeklärt, älter und fast schon erwachsen. Er lächelt leicht, wenn er von seinen Eskapaden und Exzessen erzählt, doch sonderlich stolz scheint er darauf nicht zu sein. Eher gehört es zu seinem Leben, oder sollte man vielleicht sagen: zu seiner Vergangenheit?

Carlo erklärt: «Zu Hause habe ich mir nichts sagen lassen, kam in der Nacht spät nach Hause, meistens ziemlich zugedröhnt.» Sein Vater sei an Parkinson erkrankt, und seine Mutter habe viel arbeiten müssen. «Ich habe gemacht, was ich wollte, mit der Zeit ist es mit der Schule nicht mehr gegangen. Dann kam ich hierher.»

Auch die Justiz beschäftigte sich mit dem Teenager. Carlo stand schon mehrmals vor dem Jugendrichter. Warum genau, möchte Carlo lieber nicht in der Zeitung lesen. Als Massnahme ordnete das Jugendamt eine dreimonatige Auszeit auf einem Bauernhof an. Genützt hat das nichts, im Gegenteil. «Ich hatte schon vorher gekifft und gesoffen, aber auf dem Hof ging es erst richtig los.»

Als Carlo nach Hause zurückkam, war alles schlimmer als zuvor. Er experimentierte weiter mit verschiedenen Drogen, zweimal musste man ihm in der Notfallstation wegen einer Alkoholvergiftung den Magen auspumpen. Er wollte alles ausprobieren und ging dabei an die Grenzen.

Dass er nach Niederwangen ins Heim gekommen ist, sieht Carlo im Nachhinein als Glücksfall. «Als ich hierherkam, dachte ich, ich klemme mich jetzt in den Arsch und mache halt das, was die erwarten. Wenn ich dann wieder rauskomme, fahre ich einfach genau gleich weiter wie vorher.»

Doch die SozialpädagogInnen seien nicht dumm, die hätten gecheckt, dass er ein Spiel durchzuziehen versuchte. «Wenn die merken, du bist nicht so weit, zögern sie den Zeitpunkt deiner Rückkehr nach Hause hinaus.» Er selbst habe mit der Zeit gemerkt, «dass sie einem hier Sachen auf wirklich soziale Art verinnerlichen wollen, sodass du irgendwann nach Hause kannst, eine Lehrstelle hast oder einen guten Schulabschluss». Das könne man eigentlich auch recht schnell erreichen, in einem Jahr oder anderthalb.

Seine Kollegen von früher trifft er kaum noch. «Ich grenze mich ab, weil die immer noch in der gleichen Situation sind, in der ich war, bevor ich hierherkam.» Würde er über längere Zeit wieder mit seinen alten Kumpeln zusammen sein, hätte er einen Rückfall, ist Carlo überzeugt. Zurzeit verbringe er die Freizeit ständig mit seiner Freundin. Nach seinen Berufswünschen gefragt, sagt Carlo sehr bestimmt: «Strassenbauer.» Ein anderer Beruf kommt für ihn nicht infrage.

Nicht, dass Carlo jetzt alles im Griff hätte. «Ich bin vor ein paar Wochen an einem Sonntag betrunken in die Wohngruppe zurückgekehrt.» Doch die SozialpädagogInnen hätten gemerkt, dass es sich nicht wirklich um einen Rückfall handelte. «Sie wollten mir aufzeigen, dass das nicht drinliegt, vor allem in dem Alter und so.» Und auch wenn es ihn oft «eifach uhuere aaschisst», beurteilt er den Heimaufenthalt als hilfreich. «Ich wäre sonst wohl nicht weggekommen von dem Zeugs.»

Die Schule ist aus. Die Jugendlichen gehen die Hauptstrasse entlang Richtung Bahnhof. Die Sonne ist hinter dem Hügel verschwunden. Die S1 aus Freiburg fährt ein, Bremsbeläge greifen ineinander. Es riecht penetrant, wie schmelzendes PVC. Zischend öffnen sich die Türen. Bald werden die Jungs in ihren Wohngruppen angekommen sein.

*Namen der Schüler geändert.