Rimessen: Frau Emilia Rojas muss warten

Nr. 4 –

2019 überwiesen MigrantInnen über sieben Milliarden Franken aus der Schweiz in ihre Herkunftsländer. Durch die Coronakrise sind die Überweisungen drastisch eingebrochen.

Einmal im Monat nimmt Emilia Rojas* die zwei Stufen hinein ins Geschäft mit den grünen Wänden. Die 63-Jährige wartet. So lange, bis sie an der Reihe ist. Sie stellt sich an einen der zahlreichen Schalter, übergibt das Bargeld, wie sie es immer tut – und verlässt die Filiale wieder. Wird es hier in Zürich Nacht, kann Sohn Eduardo* in Chile das Geld abheben. Einen Teil behält er für sich, «die Medikamente», den Rest bekommt eine seiner Schwestern, «das Studium». «Sie brauchen es», sagt Rojas.

Nicht nur ihre Kinder sind auf solche Überweisungen aus dem Ausland angewiesen, sondern auch ein grosser Teil der Welt: 2019 überstiegen Geldsendungen aus der Diaspora, sogenannte Rimessen, staatliche Direktinvestitionen und die öffentliche Entwicklungshilfe um ein Dreifaches. Ländern wie Nepal, Kirgistan oder Tadschikistan sichern sie gar mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Die Hälfte des Geldes fliesst dabei in ländliche Gebiete – dorthin, wo die Ärmsten leben.

2019 überwiesen MigrantInnen über sieben Milliarden Franken aus der Schweiz in ihre Herkunftsländer. Zum Vergleich: Die Ausgaben für öffentliche Entwicklungshilfe lagen im gleichen Jahr bei zwei Milliarden. Durch die Coronakrise sind die Rimessen drastisch gesunken. Bereits im April 2020 prophezeite die Weltbank einen globalen Rückgang um rund zwanzig Prozent bis Jahresende. Für das laufende Jahr rechnet sie wiederum mit einem Rückgang von vierzehn Prozent im Vergleich zu vor der Pandemie. Noch nie zuvor habe es einen solchen Einbruch gegeben.

2,7 Millionen Gestrandete

April 2020, erster Lockdown. Emilia Rojas wimmert etwas auf Spanisch, spricht von Chile und vom Geld, das sie nicht habe. In ihrer Hand ein Smartphone – «mein Sohn!». Im Video hangelt sich Eduardo an einer silbernen Stange entlang durch eine Wohnung. Glasknochenkrankheit, wird Rojas später erzählen. 44 Knochenbrüche habe er schon erleben müssen, ebenso viele, wie er Jahre zähle. Jeden Monat überweist ihm Emilia Rojas 1300 Franken. Gehen wird er bald nicht mehr können, auch den Rollstuhl wird sie bezahlen. «Ich bin nur noch in der Schweiz, weil er das Geld braucht.»

Ihr Geld verdient Rojas als Sexarbeiterin in den Strassen des Zürcher Langstrassenquartiers. Eine harte Arbeit, wie sie sagt: Polizeikontrollen, sinkende Nachfrage, immer mehr Stress. Während der Pandemie wird ihre Arbeit phasenweise komplett verboten. «Ich habe zudem Diabetes, gehöre zur Risikogruppe.» Drei Monate lang hatte Rojas im Frühjahr kein Einkommen. Staatliche Unterstützung bekam sie nicht, Papiere hat sie keine. Unterkunft und Essen erhielt sie aus kirchlichen Kreisen.

Vor der Pandemie habe sie mindestens 3000 Franken pro Monat verdienen müssen, um Essen, Zimmer und ihre Kinder finanzieren zu können. Zieht man die Überweisung an ihre Familie ab, lebte Rojas unter der Armutsgrenze von 2286 Franken. Die Nothilfe, die sie während Corona bekommen habe, sagt Rojas, habe sie jeweils nach Chile geschickt. In manchen Monaten mussten Eduardo und seine Schwester aber auch ohne das Geld aus der Schweiz auskommen.

Trotz Pandemie verzeichnen einzelne Länder auch einen Zuwachs an Rimessen. In Bangladesch etwa waren sie zwischen Juli und September so hoch wie nie zuvor. In Pakistan im Juli 37 Prozent höher als im Vorjahr. Einige ArbeitsmigrantInnen konnten ihre Jobs behalten, vor allem in der Kranken- und Care-Arbeit. Zudem hatten viele Anspruch auf Massnahmen für Einkommensausfall. Und wegen der grösseren Not im Herkunftsland überwiesen MigrantInnen einfach mehr Geld. Gemäss Erhebungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind jedoch allein 2,7 Millionen SaisonarbeiterInnen, Menschen mit befristeter Aufenthaltsbewilligung und Seeleute wegen der Coronakrise weltweit gestrandet und selbst auf Hilfe angewiesen.

Geld für Kühe und Schulgebühren

«Viele von uns wuchsen mit der Vorstellung auf, dass man armen Menschen nicht einfach Geld geben kann», schreiben die InitiantInnen von GiveDirectly auf der beinahe banal gestalteten Website ihrer Spendenplattform. Diese Vorstellung sei vorwiegend eines: falsch. Die Argumente, die die Leute aus dem Harvard- und MIT-Umfeld ins Feld führen: über 300 Studien, die seit den neunziger Jahren durchgeführt wurden.

Es sei zwar schwierig, diese Studien zusammenzufassen, zu verschieden die Bedürfnisse der Menschen, zu subjektiv die messbare Wirkung, aber: «Die Leute geben das Geld nicht bloss für Alkohol aus», schreiben die Leute von GiveDirectly. Stattdessen listen sie auf: Medikamente, Kühe, Ziegen und Hühner, Schulgebühren, Wasser, Solarleuchten, Blechdächer, Bewässerung, Motorräder für den Start von Taxidiensten oder Geschäfte zur Einkommensgenerierung. «Wir glauben, dass Menschen, die in Armut leben, die Würde verdienen, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben am besten verbessern können.» In einer kürzlich durchgeführten Befragung hätten 97 Prozent geantwortet, sie bekämen lieber Bargeld als Sachspenden wie Kleidung oder Essen.

Die meisten Rimessen fliessen über Banktransfers ins Ausland, aber auch AnbieterInnen für Auslandsüberweisungen sind wichtig. «Während die Welt sich durch die Krise navigiert, bleiben einige Grundlagen intakt: Menschen rund um den Globus müssen sich miteinander verbinden, sich gegenseitig unterstützen und sich Geld senden», richtet sich Hikmet Ersek, Direktor des Marktführers Western Union, im aktuellsten Jahresbericht an die AktionärInnen. Seine Firma sei in guten wie in schlechten Zeiten bereit, die Bedürfnisse ihrer KundInnen zu bedienen und «als Leitstern vor sich herzutragen».

Gegen die hohen Gebühren

Die Geschäftspraktiken von AnbieterInnen wie Western Union stehen jedoch seit Jahren in der Kritik – auch auf höchster Ebene der Macht. Die Regierungschefs der G8-Staaten beschlossen 2009 im italienischen L’Aquila, gegen die hohen Bearbeitungsgebühren vorzugehen. Die Weltbank schaltete eine Website auf, auf der ArbeitsmigrantInnen die Geldtransferdienste mit den niedrigsten Gebühren herausfinden können. Und die Vereinten Nationen haben sich das Ziel gesteckt, bis 2030 die Transaktionskosten für Rimessen auf weniger als drei Prozent zu senken und «Überweisungskorridore» mit Kosten von über fünf Prozent zu beseitigen.

Auch die Schweiz schliesst sich dem – etwas schweizerischer formuliert – an: «Der Bund engagiert sich durch seine internationale Zusammenarbeit für tiefe und transparente Kosten für Geldüberweisungen von Migrantinnen und Migranten sowie für Rahmenbedingungen, welche die positive Wirkung dieser Überweisungen auf die Entwicklungen maximieren.» Die Gebühren für Rimessen über alle AnbieterInnen hinweg betragen weltweit aktuell 6,5 Prozent. 2011 waren es noch über 9 Prozent.

Mit welchem Anbieter ihr Geld den Kontinent wechselt, weiss Emilia Rojas nicht. Sie orientiert sich nicht an der Weltbank, den G8-Staaten oder der Uno. Das Geschäft mit den grünen Wänden besucht sie, weil es um die Ecke liegt. Die Schweiz wird sie bald verlassen. Seit Dezember ist es ihr wieder verboten zu arbeiten.

* Namen geändert.